STREIT 4/2024
S. 172-174
Tendenzielle Diskriminierung wirtschaftlich unterprivilegierter Frauen in der Rechtsprechung
am Beispiel der Berechtigung für Grundsicherungsleistungen von sorgeberechtigten Unionsbürger*innen
Die Frage, welche der in Deutschland aufenthältigen Unionsbürger*innen berechtigt sind, existenzsichernde Leistungen nach dem SGB II (Bürgergeld) zu erhalten, ist fortdauernd Gegenstand sozialgerichtlicher Verfahren. Dabei unterliegen die hier besprochenen Normen, unter anderem § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/ EU i. V. m. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG analog, auch wegen Art. 18 AEUV der europarechtskonformen Auslegung und wegen Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG der verfassungskonformen Auslegung. Anhand der derzeit uneinheitlichen Rechtsprechung der Landessozialgerichte zu einer praktisch bedeutsamen Fallkonstellation soll vorliegend gezeigt werden, dass scheinbar rein dogmatische Gesetzesauslegung praktisch Rechtspolitik betreibt. Der EuGH hat einen Unterfall entschieden und den Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2c SGB II a.F. für europarechtswidrig erklärt. Er hat festgestellt, dass Eltern, die ihr Aufenthaltsrecht wegen des Verlusts des Arbeitnehmerstatus verlieren würden, ein Aufenthaltsrecht von ihren Kindern herleiten können, wenn sich diese inzwischen in Deutschland in Ausbildung befinden. 1 Am Aufenthaltsrecht hängt die Berechtigung nach SGB II des nicht erwerbstätigen Elternteils.
Soweit das minderjährige Kind von Unionsbürger*innen schulpflichtig ist, wird für die sorgeberechtigten Elternteile ein Aufenthaltsrecht aus Art. 10. EU-Verordnung Nr. 492/2011 abgeleitet. Die Verordnung bestimmt, dass Kinder von Wanderarbeiter*innen unter den gleichen Bedingungen wie Kinder von Inländer*innen am allgemeinen Unterricht sowie an der Berufsausbildung teilnehmen können. Das Recht der Kinder auf Ausbildung im Land, in dem ein Elternteil arbeitet, würde praktisch ausgehöhlt, wenn sich der nicht erwerbstätige Elternteil nicht ebenfalls im Land aufhalten dürfte. Deshalb wird auch für den nicht erwerbstätigen Elternteil ein Aufenthaltsrecht abgeleitet.
Umstritten ist jedoch die Konstellation, in denen die sorgeberechtigten Elternteile nicht miteinander verheiratet sind und in denen das minderjährige Kind noch nicht schulpflichtig ist. In der Praxis ist das meist der Fall, wenn Familien mit minderjährigen Kindern nach Deutschland einreisen und nur ein Elternteil erwerbstätig ist und das andere die noch nicht schulpflichtigen Kinder versorgt. Die minderjährigen Kinder leiten ihr Aufenthaltsrecht vom wirtschaftlich aktiven Elternteil ab, § 3 FreizügG/EU. Umstritten ist jedoch, ob dem nicht erwerbstätigen Elternteil ein Aufenthaltsrecht zusteht. Die Landessozialgerichte entscheiden unterschiedlich. Während einige Landessozialgerichte (LSG) aufgrund des Diskriminierungsverbotes des Art. 18 AEUV dem versorgenden und nicht erwerbstätigen Elternteil ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht gem. § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU i. V. m. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG analog i. V. m. Art. 18 AEUV zu-sprechen, 2 lehnen andere Landessozialgerichte ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht mit der Begründung ab, dass das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV keine derart weitgehende Regelung darstelle.3
Die Ablehnung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts für den sorgeberechtigten und nicht erwerbstätigen Elternteil unterliegt jedoch wegen Art. 6 GG auch verfassungsmäßigen Bedenken. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in mehreren Beschlüssen darauf hingewiesen, dass bei den Leistungsausschlüssen des SGB II eine grundrechtskonforme Auslegung erforderlich ist.4 So hat es in seinem Beschluss vom 8.7.2020 einen Beschluss des Hessischen LSG als Verfassungsverstoß eingestuft, in dem Grundsicherungsleistungen für den nicht mitder Mutter der Kinder verheirateten Vater abgelehnt wurden. 5 Bei den Beschwerdeführer*innen handelte es sich um eine rumänische Familie, die Ende 2018 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist war. Die drei gemeinsamen Kinder besuchten ein Berufsbildungsprojekt, die Mutter ging einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nach. Dem in Bedarfsgemeinschaft lebenden, mit der Mutter nicht verheiratetem Vater wurden vom Jobcenter und anschließend vom Hessischen LSG Grundsicherungsleistungen verwehrt. Das Hessische LSG hätte in seiner Entscheidung die Wertungen der Art. 6 GG und Art. 8 EMRK berücksichtigen und die Konsequenz der Rückkehr des betroffenen Elternteils und damit die Trennung der Familie im Lichte von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK würdigen müssen.
In einem späteren Beschluss vom 24.05.2023 6 nahmndas Hessische LSG folgerichtig einen eigenen Abschnitt zur grundrechtlichen Abwägung mit Art. 6 GG auf. Beim konkreten Sachverhalt ging es um SGB II-Leistungen für einen slowenischen Staatsangehörigen, welcher in Bedarfsgemeinschaft mit seiner Lebensgefährtin und einem 4 Jahre alten gemeinsamen Sohn (die ebenfalls slowenische Staatsangehörige sind) lebte. Trotz der Abwägung zu Art. 6 GG in der Beschlussbegründung hat das LSG ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht aus § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU i. V. m. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG analog i. V. m. Art. 18 AEUV abgelehnt. Es hat argumentiert, dass es sich beim Grundrecht des Art. 6 GG um ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe in das ungestörte Zusammenleben in Ehe und Familie handele. Daraus lasse sich aber kein allgemeiner Anspruch ableiten, mit seiner Familie „auf Kosten der Allgemeinheit“ gerade in Deutschland zu leben. Vielmehr könnten ausländische Staatsangehörige grundsätzlich darauf verwiesen werden, das Grundrecht durch ein Zusammenleben im Herkunftsland zu verwirklichen. Zudem sei im konkreten Fall keine gravierende Beeinträchtigung geltend gemacht worden, die bei einer Herstellung des familiären Zusammenlebens im Heimatland drohen würde. Insbesondere könne die Lebensgefährtin des Antragstellers, die hier einer Beschäftigung als Reinigungskraft nachging, genauso gut als Reinigungskraft in ihrem Heimatland arbeiten. Die Tätigkeit als Reinigungskraft sei eine unqualifizierte Tätigkeit, die auch im Herkunftsstaat ausgeübt werden könne.
Die Argumentation und Wertung der Entscheidung des Hessischen LSG führt faktisch dazu, dass Unionsbürger*innen, die keine in Deutschland anerkannte Berufsausbildung haben, tendenziell der Leistungsbezug verwehrt wird. Damit macht die Entscheidung absichtlich oder unabsichtlich Rechtspolitik, nach der Migration vor allem aus Süd- und Osteuropa erschwert werden soll.
Die Rechtspolitik geht dabei auf Forderungen ein, etwas gegen „Sozialhilfetourismus“ oder „Armutsmigration“ zu unternehmen. Deutschland solle nicht Anziehungspunkt von Unionsbürger*innen aus Süd- und Osteuropa werden. Dabei ist empirisch nicht nachgewiesen, ob es „Sozialhilfetourismus“ gibt. Zudem wird der ökonomische Nutzen der Migration, der durchaus viel größer ist als deren Sozialkosten, verkannt. Die Argumentation bedient außerdem rassistische Vorurteile. 7
Die Formulierung der ablehnenden Entscheidung des Hessischen LSG legt zudem den Umkehrschluss nahe, dass Familien mit Partnerinnen, die einer qualifizierten Tätigkeit nachgehen, einen stärkeren Schutz durch Art. 6 GG genießen als andere. Es liegt auf der Hand, dass Familien, in denen eher unqualifizierten Tätigkeiten nachgegangen wird, im Schnitt wirtschaftlich schlechter gestellt sind. Der Abschnitt, in dem diese Grundrechtsdogmatik betrieben wird, beginnt mit der Feststellung, dass Art. 6 GG ein Abwehrrecht sei. Das Argument dient normalerweise dazu, die Freiheitsrechte vor einer politischen Überformung zu schützen und einer Aufweichung durch Einzelfallentscheidungen zu entziehen. Der Abschnitt endet aber mit einer Formulierung, die das Grundrecht im Gegenteil einer Einzelfallbetrachtung ausliefert und dessen Gehalt praktisch direkt von den wirtschaftlichen Verhältnissen der Grundrechtsträger*innen abhängig macht. Das ist beim Grundrecht aus Art. 6 GG besonders bedenklich. Geprüft werden muss beim vorliegenden Sachverhalt der Eingriff in das Grundrecht eines minderjährigen, noch nicht schulpflichtigen Kindes durch die Versagung des Anspruchs auf Sozialleistungen des Vaters. Die Stärke des Eingriffs wird vom Hessischen LSG daran gemessen, welchen Beruf die Mutter ausübt.
Es kommt zum Ergebnis, dass der Eingriff nicht besonders schwer wiege, weil die Mutter putze. In der Grundrechtsdogmatik sollte der Beruf der Mutter des Grundrechtsträgers nur eine untergeordnete Rolle spielen. In der Praxis gehen vor allem Frauen der Sorgearbeit nach und kümmern sich um das minderjährige, noch nicht schulpflichtige Kind. Es sind somit überwiegend Frauen, die von dieser Entscheidung betroffen sind, weil sie mangels eigener Erwerbstätigkeit zur Ausreise verpflichtet werden. Der Leistungsausschluss führt innerhalb einer Familie zu unterschiedlichen Behandlungen zwischen dem sorgenden und dem erwerbstragenden Elternteil. Da Unionsbürgerinnen mit minderjährigen Kindern strukturell bedingt schwieriger einer Beschäftigung nachgehen können, stellt die Verweigerung von Grundsicherungsleistungen in diesen Fällen auch eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes dar und ist mit der Wertung des Art. 3 Abs. 2, 3 S. 1 GG nicht zu vereinbaren. Mittelbare Diskriminierung beschreibt dabei die Tendenz, dass Sorgearbeit weniger wertgeschätzt wird und es gleichzeitig vor allem Frauen sind, die der Kinderbetreuung nachgehen. Dadurch haben Frauen weniger Zeit sich zu qualifizieren und haben allgemein einen erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt.
Auch wenn es sich in der vorliegenden Entscheidung beim Antragssteller um den Vater gehandelt hat, kann die Wertung der Entscheidung den Kreislauf von mittelbarer Diskriminierung auf Grund des Geschlechtes nicht durchbrechen. Indem dem Antragsteller mit Verweis auf den Beruf der Partnerin und Mutter des gemeinsamen Kindes der Anspruch verweigert wurde, verstärkt sie die Tendenz, dass die statistisch gesehen geringere Qualifizierung von migrantisierten Müttern zur Beschränkung des Zugangs zu Sozialleistungen der ganzen Familie herangezogen wird. Die sich selbst verstärkenden Tendenzen der mittelbaren Diskriminierung müssten hingegen aktiv durchbrochen werden. Dafür können innerhalb der Prüfung von Art. 3 Abs. 2 GG auch gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge dargestellt und zur Entscheidungsgrundlage gemacht werden. Art. 3 Abs. 2 GG kann auch als Auftrag gesehen werden, aktiv gegen mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes vorzugehen. Die ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht ablehnenden Entscheidungen haben Bedeutung für sorgeberechtigte Elternteile minderjähriger, nicht schulpflichtige Unionsbürger*innen, in der Praxis überwiegend weniger qualifizierte Frauen.
Da es sich bei den Grundsicherungsleistungen um existenzielle Leistungen handelt, ist die Bleibeperspektive der Betroffenen in der Bundesrepublik Deutschland davon abhängig. Für Unionsbürgerinnen, die mit minderjährigen Kindern in die Bundesrepublik Deutschland einreisen, ist es schwerer, vorher einer Beschäftigung nachgegangen zu sein, um ein dem Leistungsausschluss entgegenstehendes Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerin haben zu können. Auf dem deutschen Arbeitsmarkt sind sie strukturell benachteiligt. Sie sind unter Umständen darauf angewiesen, für einen absehbaren Zeitraum Grundsicherungsleistungen zu erhalten bis sie sich hier integriert und Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt gefunden haben. Der Leistungsbezug stellt empirisch gesehen keinen Dauerzustand dar. Der ökonomische Nutzen von Migration ist im Hinblick auf die Arbeitsmarktsituation viel größer als die anfallenden Sozialkosten. Um der Wertung des Art. 6 GG gerecht zu werden und eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes zu vermeiden, muss sich durch verfassungskonforme Auslegung ein Aufenthaltsrecht für den sorgeberechtigten Elternteil minderjähriger Unionsbürger*innen begründen lassen.
- EuGH, Urteil vom 06.10.2020, Aktenzeichen C-181/19, Rs. JD ↩
- Vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 30.11.2015, L 19 AS 1713/15 B ER, Beschluss vom 20.1.2016, L 19 AS 1824/15 BER, Beschluss vom 22.6.2016, L 19 AS 924/16 BER, Beschluss vom 1.8.2017, L 19 AS 1131/17 B ER, Beschluss vom 30.10.2018, L 19 AS 1472/18 B ER; LSG für das Saarland,Urteil vom 7.9.2021, L 4 AS 23/20 WA. ↩
- Vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7.4.2022, L 18AS 312/22 B ER u. vom 17.3.2022, L 18 AS 232/22 B ER; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 16.11.2021, L 2 AS 438/21 ER; Hessisches LSG, Beschluss vom 29.7.2021, L 6 AS 209/21. ↩
- Vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 4.10.2019, 1 BvR 1710/18 und vom 8.7.2020, 1 BvR 932/20. ↩
- BVerfG, Beschluss vom 8.7.2020, 1 BvR 932/20. ↩
- Hessisches LSG, Beschluss vom 24.5.2023, L 7 AS 26/23 B ER ↩
- So auch Röhner in Die Öffentliche Verwaltung, Begrenzte Inklusion, Mai 2021, Heft 10. Röhner weist darauf hin, dass das Problem häufig Romnja und Sintizze betrifft, die ohnehin schon großer Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt sind. ↩