STREIT 1/2020
S. 9-13
Umfang des unionsrechtlich gebotenen Viktimisierungsschutzes zugunsten von Unterstützer*innen einer diskriminierten Person
Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 20.6.2019 – C-404/18 (Hakelbracht)
Die Entscheidung des EuGH betrifft eine Regelung der Richtlinie 2000/54,1
die bislang wenig Aufmerksamkeit erfahren hat. Es ist, soweit ersichtlich, die erste Entscheidung des EuGH zu Art. 24. Die Regelung verpflichtet die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer nationalen Rechtsordnung die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmervertreterinnen vor Benachteiligungen durch den Arbeitgeber zu schützen, die als Reaktion auf eine Beschwerde oder auf die Einleitung eines Verfahrens zur Durchsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes erfolgen.
Das Vorlageverfahren betrifft indes einen Sachverhalt, in dem nicht eine diskriminierte Arbeitnehmerin selbst wegen Geltendmachung ihrer Rechte sanktioniert wird, sondern eine Zeugin, die die Betroffene im Beschwerdeverfahren unterstützt hat. Es geht mithin um die Frage nach der Reichweite des Viktimisierungsschutzes zugunsten von Unterstützerinnen einer diskriminierten Person. Im belgischen Gesetz zur Umsetzung des Art. 24 Richtlinie 2006/54, das Gegenstand des Vorlageverfahrens war, gilt das Maßregelverbot nur für Personen, die den Beschwerdegegner in einem unterzeichneten und datierten Dokument über die Begebenheiten informieren, die sie selbst gesehen oder gehört haben oder die als Zeuge vor Gericht auftreten. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob Art. 24 mit einer nationalen Regelung vereinbar ist, die das Maßregelverbot für unterstützende Beschäftigte nur unter diesen Einschränkungen gelten lässt. Der EuGH lehnt eine restriktive Auslegung ab; es werden alle Arbeitnehmerinnen geschützt, die formell oder informell Beschäftigte, die Rechte nach der Richtlinie geltend machen, unterstützen. Diese weite Auslegung ist nunmehr bei der Auslegung des § 16 Abs. 1 Satz 2 AGG zu beachten, eine Norm die bislang auch in Deutschland wenig Beachtung in Rechtsprechung und Praxis gefunden hat.
Effektiver Rechtsschutz und Viktimisierungsverbot in der Rechtsprechung des EuGH
Art. 17 der Richtlinie 2006/54 verpflichtet die Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass alle Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes in ihren Rechten verletzt halten, ihre Ansprüche aus dieser Richtlinie gegenüber Behörden bzw. auf dem Gerichtsweg geltend machen und durchsetzen können. Dieses Recht, das sich auch in den anderen Antidiskriminierungsrichtlinien findet,2
soll den Schutz der Betroffenen vor Diskriminierung stärken. Der EuGH ordnet Art. 17 der Richtlinie 2006/54 als spezielle Ausprägung des Grundsatzes auf effektiven Rechtsschutz ein. Ihm wird eine grundrechtliche Dimension zugemessen, die nun durch Art. 47 der Charta der Grundrechte der EU ausdrücklich bekräftigt wird.3
Das Viktimisierungsverbot des Art. 24 flankiert und stützt den Grundsatz auf effektiven Rechtsschutz. Schon zur Vorgängerrichtlinie 76/207/EWG, die noch kein ausdrückliches Viktimisierungsverbot enthielt, hatte der EuGH entschieden, dass der Grundsatz einer effektiven gerichtlichen Kontrolle weitgehend ausgehöhlt würde, wenn sich der gewährte Schutz nicht auch auf Maßnahmen erstrecke, die ein Arbeitgeber als Reaktion auf eine Beschwerde oder Klage ergreife. Denn die Sorge vor Sanktionen könne Arbeitnehmer*innen abschrecken, ihre Rechte wahrzunehmen. Dadurch sei die Verwirklichung des Ziels der Richtlinie – umfassender Schutz vor Diskriminierungen – in schwerwiegender Weise gefährdet.4
Durch den Viktiminierungsschutz wird der Rechtsschutz effektuiert und verhindert eine sekundäre Viktimisierung durch Maßregelungen des Arbeitgebers.5
Dieses Benachteiligungsverbot wegen der Ausübung zulässiger Rechte ist in seiner Schutzrichtung nicht mit den Diskriminierungsverboten gleichzusetzen. Arbeitnehmer*innen werden nicht wegen eines durch Diskriminierungsrichtlinien geschützten Merkmals (Geschlecht, Religion, Ethnie …) benachteiligt, sondern wegen Beschwerden oder Klagen gegen eine Diskriminierung.6
Geschützt sind somit zunächst die Arbeitnehmer*innen, die eine Beschwerde oder Klage eingereicht haben.
Der EuGH schließt in das Maßregelungsverbot auch Personen ein, die die Beschäftigten unterstützen oder für sie als Zeuginnen aussagen; er stützt sich dabei auf Erwägungsgrund Nr. 32 der Richtlinie 2006/54. Dabei wird der Begriff Arbeitnehmer nicht nach formalen Kriterien ausgelegt, sondern funktional anhand der Rolle, die sie für die betroffene Person spielen. Nach Ansicht des EuGH ist die Ausweitung auf unterstützende Personen durch den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes geboten.7
Dieser weite Viktiminierungsschutz darf zudem nicht durch formale Erfordernisse in Bezug auf die Form der Unterstützung begrenzt werden. Ansonsten könnten Arbeitnehmerinnen, die Kenntnis von Fällen der Diskriminierung haben und Betroffene unterstützen können, davon abgehalten werden, zugunsten der betroffenen Person aufzutreten, wenn sie bestimmte Formerfordernisse nicht einhalten.8
Damit schützt der EuGH alle Personen, die die diskriminierten Arbeitnehmer*innen formell oder informell unterstützt haben. Art. 24 der Richtlinie 2006/54 wird durch § 16 AGG in deutsches Recht umgesetzt.
Der deutsche Gesetzgeber hat die Ausweitung des Viktimisierungsverbots auf Unterstützerinnen und Zeuginnen in § 16 Abs. 1 Satz 2 AGG explizit aufgenommen: „Gleiches gilt für Personen, die den Beschäftigten hierbei unterstützen oder als Zeuginnen oder Zeugen aussagen.“ § 16 AGG ergänzt und konkretisiert insoweit § 612 a BGB. Das Verbot, Betroffene und Zeugen bzw. Unterstützer, die gesetzliche Rechte geltend machen, zu sanktionieren, ist ein Spezialfall der Sittenwidrigkeit.9
Die vorliegende Entscheidung zum Umfang des Viktimisierungsschutzes ist auch für die Auslegung des § 16 Abs. 1 Satz 2 AGG relevant. Im Folgenden werden dazu einige Überlegungen angestellt; zum Schluss wird auf die Bedeutung im Kontext von verdeckter unmittelbarer Diskriminierung eingegangen.
Geschützte Personen und sachlicher Schutzbereich des § 16 Abs. 1 AGG
Der EuGH legt den Begriff des „Arbeitnehmers“ in Art. 24 der Richtlinie 2006/54 weit aus. Er umfasst alle Arbeitnehmer*innen, gegen die der Arbeitgeber als Reaktion auf eine Beschwerde wegen der Verletzung des Diskriminierungsverbots negativ reagieren kann. Damit wird der Begriff des „Arbeitnehmers“ funktional ausgelegt in Bezug auf das Verhältnis zum Arbeitgeber.10
Der persönliche Anwendungsbereich des § 16 Abs. 1 AGG umfasst alle Beschäftigten im Sinne des § 6 Abs. 1 AGG, die Rechte aus Abschnitt 2 des Gesetzes geltend machen (Beschwerderecht gemäß § 13, Leistungsverweigerungsrecht nach § 14, Anspruch auf Gleichbehandlung und auf Schutz nach §§ 7, 12, Anspruch auf Entschädigung gemäß § 15 AGG).11
Auch die unterstützende Person muss Beschäftigte/r im Sinne des § 6 AGG sein.12
Die Geltendmachung der Rechte ist nicht auf eine gerichtliche Klage oder formelle betriebliche Beschwerde beschränkt; auch das Zurückweisen von betrieblichen benachteiligenden Maßnahmen und die Behauptung einer Diskriminierung werden umfasst. Es kommt auf die subjektiv empfundene Benachteiligung an, nicht darauf, dass sich die Geltendmachung des Rechts im Nachhinein endgültig als begründet herausstellt.
Rechtswidrige oder beleidigende Vorgehensweisen bzw. vorsätzlich falsche Anschuldigungen werden dagegen nicht geschützt; auch mutwillige bzw. rechtsmissbräuchliche Klagen und Beschwerden scheiden aus.13
Die Grenzen sind im Einzelfall jedoch schwierig zu ziehen. Nach Ansicht der Literatur sollen die Grundsätze des EGMR14
zum “Whistleblowing“ herangezogen werden.15
Die EU hat das Thema „Whistleblowing“ nun in einer EU-Richtlinie umfassend geregelt.16
Danach haben Hinweisgeber einen Anspruch auf Schutz, wenn sie „hinreichenden Grund zu der Annahme hatten, dass die gemeldeten Verstöße zum Zeitpunkt der Meldung der Wahrheit entsprachen (…)“ (Art. 6 Abs. 1 lit a). Die Hinweisgeber müssen demnach in gutem Glauben handeln. Ausreichend sind konkrete Fakten, die aus dem subjektiven Beurteilungshorizont einen Rechtsverstoß plausibel begründen. Es muss sich um objektivierbare Tatsachen handeln; Vermutungen oder Gerüchte genügen nicht. Die Schwelle ist demnach relativ niedrig anzusetzen: sie wird erst bei wissentlich, d.h. vorsätzlich falschen Angaben oder leichtfertigen, d. h. grob fahrlässigen Behauptungen erreicht.17
Diesen Maßstab legt auch der EGMR an.18
Er findet sich weiter in dem Beschwerderecht gemäß § 17 Abs. 2 ArbSchG: konkrete Anhaltspunkte, die vernünftiger Weise einen Verdacht auf Rechtsverletzung stützen („reasonable belief“).19
Stellt sich die auf dieser Grundlage in gutem Glauben gemachte Anschuldigung im Nachhinein als unbegründet heraus, greift das Maßregelungsverbot gleichwohl;20
dies ist auch die einhellige Ansicht zu § 16 AGG.21
Für die unterstützende Person gelten die gleichen Grenzen in Bezug auf den Schutz des § 16 Abs. 1 AGG. Auch sie dürfen nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig falsche Behauptungen zugunsten der betroffenen Person aufstellen.22
Weil dieses Thema nicht Gegenstand der Vorlagefrage war, hat der EuGH in diesem Verfahren und auch bisher keine Aussagen zu dieser Frage gemacht. Daher muss sich die Rechtspraxis an den o.g. Grenzen orientieren, die nun durch die neue EU-Richtlinie bestätigt werden.
Nach dem Wortlaut ist die Unterstützungshandlung streng akzessorisch. Soweit die betroffene Person ihre Rechte nicht geltend macht, gibt es danach auch kein Maßregelungsverbot für Unterstützer*innen. Damit kann sich aber für unterstützende Personen eine Rechtsschutzlücke auftun, wenn sich die betroffene Person zur Duldung der Diskriminierung entschließt, die unterstützende Person handelt und der Arbeitgeber diese maßregelt. Nach § 16 Abs. 2 Satz 2 AGG gilt der Schutz entsprechend, wenn Betroffene die benachteiligenden Verhaltensweisen dulden. Ausgehend vom Normzweck muss es daher für das Eingreifen des Viktimisierungsschutzes unerheblich sein, ob die betroffene Person ihre Rechte wahrnimmt oder nicht.23
Hinweise zur Auslegung des Begriffs „Unterstützung“
Der Kern der Vorlagefrage geht dahin, ob ein nationales Gesetz den Viktiminierungsschutz auf bestimmte Handlungen der unterstützenden Person begrenzen kann. In dem belgischen Gesetz gilt der Schutz nur für Personen, die in einem unterzeichneten und datierten Dokument über die Begebenheiten informieren, die sie selbst gesehen oder gehört haben und die sich auf die Situation beziehen, die Gegenstand der Beschwerde ist oder die als Zeugen vor Gericht auftreten. Die unterstützende Arbeitnehmerin des Verfahrens hatte diese Formerfordernisse nicht erfüllt. Nach Ansicht des EuGH ist es mit Art. 24 bzw. dem Erwägungsgrund 32 der Richtlinie 2006/54 unvereinbar, für die Unterstützungshandlungen bestimmte Formen oder Verfahren vorauszusetzen. Er betont, dass formelle wie informelle Unterstützungshandlungen geschützt sind.24
Im Lichte dieser weiten Auslegung sind auch im deutschen Recht angedachte Restriktionen als unvereinbar mit dem Unionsrecht anzusehen.
Der Wortlaut des § 16 Abs. 1 Satz 2 AGG unterscheidet nicht zwischen formellen und informellen Unterstützungshandlungen. Der Wortlaut deckt sich also mit der weiten Auslegung des EuGH. Einschränkende Auslegungen durch das Aufstellen formaler Voraussetzungen – Erklärungen in Textform o. ä. – sind nunmehr eindeutig durch den EuGH ausgeschlossen.
Es wird diskutiert, ob die Unterstützungshandlung eine gewisse Intensität haben muss. So wird vertreten, dass das Maßregelungsverbot nur bei Unterstützungen von „einigem Gewicht“ eingreifen soll. Damit sind Aufklärung und Beratung der diskriminierten Person, Zeugenaussagen zu ihren Gunsten, Hilfestellungen bei Beschwerden etc. gemeint.25
Diese einschränkende Auslegung würde erhebliche Abgrenzungsprobleme in Bezug auf „rechtlich relevante“ und „rechtlich irrelevante“ Unterstützungshandlungen stellen. Zum anderen sprechen die Ausführungen des EuGH für diese restriktive Auslegung, wenn er formuliert, dass der Viktiminierungsschutz weit zu verstehen ist, „(…) ohne dass diese Kategorie anderweitig begrenzt wäre“.26
Diese Aussage kann nicht nur auf die weite Auslegung des Begriffs „Arbeitnehmer“, sondern auch auf die Art und Weise der Unterstützungshandlungen bezogen werden. Der EuGH stützt damit die Ansicht der Literatur, dass Unterstützungshandlungen jeglicher Form das Maßregelungsverbot auslösen. Es kann sich dabei auch um bloße ideelle Unterstützungshandlungen, wie etwa motivierende Worte oder Gesten handeln. Jede Form einer willentlichen Unterstützung bezogen auf die konkrete Person oder jede öffentliche Parteinahme zugunsten der benachteiligten Beschäftigten muss geschützt werden. Es ist weiter nicht erforderlich, dass die Unterstützung objektiv geeignet ist, die diskriminierte Person in ihrem Vorhaben, sich gegen die verbotene Diskriminierung zu wehren, zu unterstützen.27
Diese weite Auslegung orientiert sich am Zweck des Maßregelungsverbotes, den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes gegen Diskriminierungen zu flankieren.28
Der EuGH stellt weiterhin nicht auf das Verhältnis zwischen diskriminierter und unterstützender Person ab. Auch § 16 Abs. 1 Satz 2 AGG setzt keinen Willen und keinen „Hilferuf“ der betroffenen Person in Bezug auf Unterstützung voraus. Der Beschluss des EuGH stützt damit die Ansicht, dass es irrelevant ist, ob die oder der diskriminierte Arbeitnehmer*in die Unterstützung einfordert oder ob sie gar gegen ihren oder seinen Willen erfolgt. Auch die sog. „aufgedrängte Unterstützung“ wird durch § 16 Abs. 1 Satz 2 AGG geschützt.29
Kausalität zwischen Benachteiligung und Rechtsausübung
Die Reaktion des Arbeitgebers muss in einer Benachteiligung der unterstützenden Person liegen. Der Begriff der Benachteiligung ist nicht deckungsgleich mit § 3 AGG. Gemeint ist jede ungünstigere Behandlung, die der Betroffene ohne Unterstützungshandlung erfahren hätte. Ein Nachteil ist gegeben, wenn sich die bisherige Rechtsposition der Arbeitnehmer*innen verschlechtert, d. h. ihre Rechte verringert werden oder entfallen. Zu den klassischen negativen Reaktionen gehören Abmahnung, Versetzung oder – wie im Fall des EuGH – eine Kündigung. Die Benachteiligung kann auch in einem Unterlassen bestehen, etwa im Vorenthalten bestimmter Leistungen, wie Gratifikationen oder der Verweigerung einer Höhergruppierung.30
Verboten sind sämtliche Benachteiligungen, nicht nur solche die unverhältnismäßig sind.31
§ 16 Abs. 1 Satz 2 AGG setzt voraus, dass die Benachteiligung wegen der Unterstützung einer Rechtsausübung erfolgt ist. Nach der Rechtsprechung des BAG muss die Unterstützungshandlung nicht nur äußerer Anlass, sondern der tragende Beweggrund, d. h. das wesentliche Motiv für die Benachteiligung sein. Sind die Unterstützungshandlungen lediglich mitursächlich, fehlt es an der notwendigen Kausalität.32
Damit legt die Rechtsprechung an dieser Stelle einen strengeren Maßstab an als bei Benachteiligungen im Sinne der §§ 1, 3, 7 AGG. Hier ist nicht erforderlich, dass ein Kriterium des § 1 AGG der tragende Beweggrund für die Benachteiligung ist. Es genügt, wenn es Teil eines „Motivbündels“ ist, dass die Entscheidung mit beeinflusst.33
Dies gilt für alle Merkmale des § 1 AGG.34
Diese hohen Anforderungen an den Nachweis der Kausalität zwischen der Benachteiligung und der Unterstützungshandlung werden gemäß § 16 Abs. 3 AGG durch die Anwendung des § 22 AGG relativiert. Für den Nachweis der Ursächlichkeit zwischen der Unterstützungshandlung und der Benachteiligung genügt es, wenn die betroffene Person Indizien vorträgt und ggf. beweist, die es als überwiegend wahrscheinlich erscheinen lassen, dass die Benachteiligung wegen der Unterstützungshandlung erfolgt ist. In dem Fall muss der Arbeitgeber dann nachweisen, dass die Unterstützungshandlung gerade nicht das Motiv der Sanktion ist. Insbesondere wird ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen der Unterstützungshandlung und der Benachteiligung die Vermutung des Kausalzusammenhangs belegen.35
Im vorliegenden Fall ist der EuGH auf die in der Praxis relevante Frage der Kausalität nicht eingegangen, weil die Vorlagefrage dieses nicht thematisierte. Die Klärung, welche Vermutungstatsachen – außer einem engen zeitlichen Zusammenhang – geeignet sind, die Beweiserleichterung zu begründen, ist europarechtlich also weiterhin offen.
Bedeutung des Viktimisierungsverbotes in Fällen der verdeckten unmittelbaren Diskriminierung
Der bislang wenig beachtete § 16 Abs. 1 Satz 2 AGG kann nach den Umständen des Einzelfalls in der Praxis eine erhebliche Bedeutung für den Nachweis einer unmittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts entfalten. Dem vorliegenden Fall liegt insoweit kein typischer Sachverhalt aus dem Geltungsbereich der Richtlinie 2006/54 zugrunde. Denn der Arbeitgeber hatte die Einstellung der Bewerberin ausdrücklich wegen ihrer Schwangerschaft abgelehnt und diese Begründung offen mit der Zeugin kommuniziert. Diese teilte die Begründung des Arbeitgebers der betroffenen Bewerberin mit und trat wohl zudem als Zeugin im Rahmen der Untersuchung der von der Bewerberin eingereichten Beschwerde auf. Der Bewerberin war damit ohne weiteres Schadenersatz wegen einer unmittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zuzusprechen; das vorlegende Gericht musste dazu keine weiteren Überlegungen anstellen.
Nach Erwägungsgrund Nr. 23 und Art 2 II c der Richtlinie 2006/54, in deutsches Recht umgesetzt durch § 3 Abs. 1 Satz 2 AGG, ist jegliche ungünstigere Behandlung einer Frau wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts. Die Ablehnung einer Einstellung bzw. Beförderung, die mit der Schwangerschaft der Bewerberin begründet wird, wertet der EuGH in ständiger Rechtsprechung und ihm folgend das BAG als unmittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts.36
Anders als im vorliegenden Fall werden heute jedoch in der Praxis nur noch selten Einstellungen mit offen diskriminierenden Begründungen abgelehnt.
In der Regel werden Bewerbungen ohnehin ohne Begründung zurückgewiesen. Auf Vorlagebeschluss des BAG37
hat der EuGH den – im deutschen Arbeitsrecht praktizierten – Grundsatz bestätigt, dass abgelehnte Bewerberinnen keinen Anspruch auf Auskunft über die Gründe der Absage bzw. die getroffene Personalentscheidung haben. Eine Ausnahme ist dann zu machen, wenn abgelehnte Bewerberinnen schlüssig darlegen, dass erst die verweigerte Auskunft Indizien i.S.d. § 22 AGG liefern werde oder wenn die Verweigerung der Auskunft (in der Gesamtbetrachtung) die Vermutung einer Benachteiligung begründet. Dabei stellt allein der Umstand, dass ein objektiv geeigneter Bewerber nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden ist, kein Indiz für eine vermutete Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes dar.38
Damit ist zwar ein Auskunftsanspruch nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber die Anforderungen sind so streng, dass eine Durchsetzung in der Praxis nur im Ausnahmefall gelingen wird. Abgewiesene Bewerber*innen bleiben im Normalfall darauf angewiesen, dass sich aus dem Verhalten bzw. Äußerungen der Personalverantwortlichen wenigstens geeignete Indizien für eine verbotene Diskriminierung wegen des Geschlechts ableiten lassen.39
Dann kommt der Beweiserleichterung aus Artikel 19 der Richtlinie 2006/54 bzw. § 22 AGG eine große Bedeutung zu.40
Nach ständiger Rechtsprechung des BAG genügt eine nach allgemeiner Lebenserfahrung überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Verknüpfung der Benachteiligung mit dem fraglichen Merkmal.41
Ggf. lassen einzelne Fakten für sich allein betrachtet keine Benachteiligung vermuten. Daher sind alle Umstände im Sinne einer Gesamtbetrachtung und Würdigung des Sachverhalts zu berücksichtigen. Aus einer Gesamtschau unterschiedlicher Tatsachen kann eine diskriminierende Grundhaltung des Arbeitgebers bzw. eine „Benachteiligungskultur“ im Unternehmen deutlich werden.42
Können Bewerber*innen keine ihrer Wahrnehmung zugängliche Fakten, die die Vermutung einer Diskriminierung i. S. d. AGG belegen, vortragen, besteht die einzige Möglichkeit, eine verbotene Diskriminierung nachzuweisen und Entschädigungen mit Erfolg einzuklagen, in den Aussagen von Zeug*innen, die Kenntnis von diskriminierenden Fakten haben. Daher ist es für einen effektiven Rechtsschutz in der Praxis von erheblicher Bedeutung, dass diese Zeug*innen vor Benachteiligungen als Sanktion für ihre Unterstützungshandlung bzw. Zeugenaussage geschützt werden. Denn ansonsten verringert sich die Wahrscheinlichkeit, dass Fälle von Diskriminierung erkannt und gerichtlich verfolgt werden, erheblich – darauf weist der EuGH mit Blick auf die Ziele der Antidiskriminierungsrichtlinien ausdrücklich hin.
Es ist zu begrüßen, dass der EuGH die Regelung des Art. 24 der Richtlinie 2006/54 mit seiner Entscheidung in der Wahrnehmung und Umsetzung gestärkt hat. Indem der EuGH den Begriff der „Unterstützung“ weit ausgelegt und formale Voraussetzungen für den Viktimisierungsschutz für unvereinbar mit EU-Recht erklärt, wird der Schutz von Zeug*innen in der Praxis gestärkt. § 16 Abs. 1 Satz 1 und 2 AGG müssen aber mehr als bisher in der betrieblichen Praxis wahrgenommen und umgesetzt werden. Personalräte wie Betriebsräte und Gleichstellungsbeauftragte in Betrieben und im öffentlichen Dienst sollten die Beschäftigten über diese Schutzvorschrift intensiver als bisher informieren – um den (Rechts)Schutz vor verbotenen Diskriminierungen zu effektivieren.
- Richtlinie 2006/54 EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 05.07.2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen, ABl. Nr. L 204, S. 23. ↩
- Vgl. Art. 7 der Richtlinie 2000/43 und Art. 9 der Richtlinie 2000/78. ↩
- EuGH v. 20.6.2019 – C-404/18 Rn. 32. Art. 47 GRCh: Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. (…) ↩
- EuGH v. 22.9.1998 – C-185/97 (Coote) Rn. 24; auch EuGH v. 14.10.2010 – C-243/09 (Fuß) Rn. 66 zu Art. 6 b) der Richtlinie 2003/88 (Arbeitszeitrichtlinie). ↩
- Däubler/Bertzbach-Deinert AGG 4. Aufl. 2018 § 16 Rn. 8. ↩
- Franzen/Gallner/Oetker-Mohr Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2020, RL 2000/78/EG, Art. 11 Rn. 2. ↩
- EuGH v. 20.6.2019 – C-404/18 Rn. 29. ↩
- EuGH v. 20.6.2019 – C-404/18 Rn. 34. ↩
- BAG 2.4.1987 – 2 AZR 227/86. ↩
- EuGH v. 20.6.2019 – C-404/18 Rn. 27. ↩
- jurisPK-BGB/Harwart 9. Aufl. 2020 § 16 AGG Rn. 5. ↩
- jurisPK-BGB/Harwart § 16 AGG Rn. 8; MüKo-Thüsing 7. Aufl. 2015 § 16 AGG Rn. 12. ↩
- jurisPK-BGB/Harwart § 16 AGG Rn. 6; Däubler/Bertzbach- Deinert § 16 Rn. 18. ↩
- EGMR v. 21. 7.2011 – 28274/08 – NJW 2011, 3501. ↩
- ErfK-Schlachter § 16 Rn. 2. ↩
- Richtlinie (EU) 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.10.2019 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, EU-ABl L 305/17. Nach Art. 26 ist die Richtlinie bis zum 17.12.2021 in deutsches Recht umzusetzen. ↩
- Richtlinie (EU) 2019/1937 Erwägungsgrund Nr. 32; Klaas CCZ 2019, 163, 167. ↩
- EGMR v. 21.7.2011 – 28274/08 – NJW 2011, 3501 Rn. 68, 78. ↩
- Vgl. HK-ArbSchR/Feldhoff/Schulze-Doll 2. Aufl. 2018 §§ 15-17 Rn. 26; so auch der Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen BT-Drs. 19/4558 S. 15 zu einem einzufügenden § 612 b BGB „Anzeigerecht“. ↩
- EGMR v. 21.7.2011 – 28274/08 – NJW 2011, 3501 Rn. 80. ↩
- BeckOK BGB/Horcher (1.11.2019) § 16 AGG Rn. 5; Däubler/Bertzbach-Deinert § 16 Rn. 18, 22. ↩
- Däubler/Bertzbach-Deinert § 16 Rn. 18; Müko-Thüsing § 16 AGG Rn. 11. ↩
- Däubler/Bertzbach-Deinert § 16 Rn. 13; Bennecke NZA 2011, 481, 485. ↩
- EuGH v. 20.6.2019 – C-404/18 Rn. 34 f. ↩
- Bennecke NZA 2011, 481, 485; BeckOK-BGB § 16 AGG Rn. 3; ErfK-Schlachter § 16 AGG Rn. 2. ↩
- EuGH v. 20.6.2019 – C-404/18 Rn. 27. ↩
- jurisPK-BGB/Harwart § 16 AGG Rn. 9. ↩
- Zust. MüKo-Thüsing § 16 AGG Rn. 11; Däubler/Bertzbach-Deinert § 16 Rn. 14; Leist Anm. zu EuGH v. 20.6.2019, jurisPR-ArbR 33/2019 Anm. 2. ↩
- Däubler/Bertzbach-Deinert § 16 Rn. 14; Leist Anm. zu EuGH v. 20.6.2019, jurisPR-ArbR 33/2019 Anm. 2; jurisPK-BGB/Harwart § 16 AGG Rn. 9; Bennecke NZA 2011, 481, 485. ↩
- Beispiele für verbotene Repressalien werden in Art. 19 der Richtlinie zum „Whistleblowing“ genannt, Richtlinie (EU) 2019/1937. ↩
- ErfK-Schlachter § 16 Rn. 2; jurisPK-BGB/Harward § 16 AGG Rn. 12; MüKo-Thüsing § 16 AGG Rn. 13; Däubler/Bertzbach-Deinert § 16 Rn. 27. ↩
- BAG v. 18.9.2007 – 3 AZR 639/06; BAG v. 21.9.2011 – 3 AZR 481/10; jurisPK-BGB/Harwart § 16 AGG Rn. 12. ↩
- St. Rsp. des BAG BAG v. 18.9.2014 – 8 AZR 753/13 Rn 22 m. w. N.; nachgehend LAG Hamm vom 11.6.2015 – 11 Sa 194/15 mit Anm. Feldhoff jurisPR-ArbR 8/2016 Anm. 3. ↩
- Vgl. Däubler/Bertzbach-Däubler § 1 AGG Rn. 20 m. w. N.; zuletzt BAG v. 17.12.2015 – 8 AZR 421/14 zu einer unmittelbaren Diskriminierung wegen Transsexualität, die das BAG sowohl dem Merkmal „Geschlecht“ wie auch dem der „sexuellen Identität“ zuweist. ↩
- Bennecke NZA 2011, 481, 486; jurisPK-BGB/Harwart § 16 AGG Rn. 26 f. ↩
- Erwägungsgrund Nr. 23 der EU-Richtlinie 2006/54 weist auf die st. Rsp. des EuGH seit 8.11.1990 – C 177/88 – Dekker hin; BAG v. 18.9.2014 – 8 AZR 753/13 mit Anm. Feldhoff jurisPR-ArbR 8/2016 Anm. 3; zuletzt EuGH v. 19.10.2017 – C-531/15 (Otero Ramos) zur unmittelbaren Diskriminierung einer stillenden Mutter wegen unzureichender Gefährdungsbeurteilung des Arbeitsplatzes, dazu Feldhoff STREIT 2018, S. 51 ff.; Franzen/Gallner/Oetker-Mohr RL 2006/54/EG, Art. 2 Rn. 4 m. w. N. ↩
- BAG v. 20.5.2010 – 8 AZR 287/08 (A). ↩
- EuGH v. 19.4.2012 – C 415/10 (Meister); BAG v. 25.4.2013 – 8 AZR 287/08. ↩
- Krit. Däubler/Bertzbach-Däubler § 7 Rn. 94. ↩
- Vgl. anschaulich BAG v. 27.1.2011 – 8 AZR 483/09; BAG v. 18.9.2014 – 8 AZR 753/13; nachgehend LAG Hamm vom 11.6.2015 – 11 Sa 194/15 mit Anm. Feldhoff jurisPR-ArbR 8/2016 Anm. 3; BAG v. 17.12.2009 – 8 AZR 670/08 zum Merkmal „Behinderung“. ↩
- BAG v. 18.5.2017 – 8 AZR 74/16 Rn. 43 ff. m. w. N. ↩
- BAG v. 27.1.2011 – 8 AZR 483/09; ErfK-Schlachter § 22 Rn. 3. ↩