STREIT 1/2020
S. 3-8
„Nach Hanau“ - Gespräch zwischen den STREIT-Redakteurinnen Malin Bode aus Bochum und Zümrüt Turan-Schnieders aus Hanau
Das Interview wurde wegen der Corona-Pandemie schriftlich vorbereitet und am 21.3.2020 telefonisch geführt
In Hanau wurde in der Nacht vom 19.2.2020 ein rassistischer Anschlag auf eine Shisha-Bar und einen Kiosk verübt. Der Täter erschoss neun Menschen mit Migrationshintergrund. Ermordet wurden Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kenan Kurtović, Vili-Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.
Malin Bode: Wer ist die Hanauer Redakteurin der STREIT Zümrüt Turan-Schnieders? – Eine niedergelassene Rechtsanwältin in eigener Praxis!
Zümrüt Turan-Schnieders: Mir fällt es hier etwas schwer über mich zu reden, aber ich fange mal damit an, wie ich nach Deutschland kam. Das war 1973, für mich nicht nur ein Meilenstein, sondern eine grundlegende Richtungsänderung in meinem Leben. Geboren bin ich Anfang 1959 in Ankara.
Mein Vater ist 1965 nach Bonn gekommen. Er wurde als Lehrer mit vielen anderen Lehrern von der türkischen Regierung nach Deutschland geschickt, damit er hier Deutsch lernen konnte, um dann zurück in der Türkei Deutsch als Fremdsprache zu lehren. Er hat in Deutschland ein Jahr gelebt und ist nicht mehr zur Familie nach Ankara zurückgekehrt.
Für meine Mutter war es die zweite Ehe. Sie war eine großartige Frau und sie hatte schon Migrationserfahrung innerhalb der Türkei, sie wurde in Tokat geboren, einer Stadt in Mittelanatolien. Dort wurde sie verheiratet und bekam zwei Töchter. Nachdem ihr erster Mann gestorben war, hätte sie dort, alleinerziehend, nur schwer bleiben können; meine Großeltern lebten schon nicht mehr. Da entschloss sie sich, mit ihrer älteren Schwester nach Ankara zu gehen, weil es dort wesentlich mehr Arbeitsplätze gab. In Ankara fand meine Tante in einem Ministerium eine Stelle, meine Mutter wurde Lehrerin in einem Institut für Handwerkslehrerinnen. Sie lebte mit ihrer älteren Schwester und ihren beiden minderjährigen Töchtern zusammen, bis sie 1956 meinen Vater kennenlernte.
Ich blieb 1965 mit meiner Mutter allein in der Türkei, in Ankara. Meine beiden älteren Schwestern waren 10-14 Jahre älter, sie waren beide schon aus dem Haus. Ich war eine sehr gute Schülerin, auch Schulsprecherin, und als ich die 8. Klasse abgeschlossen hatte, mittlerweile war es 1972, tauchte plötzlich im Sommer mein Vater auf und wollte von meiner Mutter eine Unterschrift, dass sie in die Scheidung einwillige. Meine Mutter dachte überhaupt nicht daran.
Genau zu der Zeit, als mein Vater wieder in die Türkei kam, gab es die massiven Anschläge von den Grauen Wölfen. Es gab Gegendemonstrationen und ich war immer dabei. Ich habe mit demonstriert; ich war damals 13 Jahre alt. Meine ältere Schwester studierte damals schon Jura und hatte einen radikalen linken Studenten geheiratet. Ihnen bin ich gefolgt.
Meine Mutter und mein Vater haben dann gesagt, dass ich womöglich zwischen die Fronten geriete, wenn ich in der Türkei bliebe; weswegen sie beide gemeinsam – über meinen Kopf hinweg – beschlossen, dass ich zu meinem Vater nach Deutschland umziehe.
Im Sommer 1973 kam ich in Berlin an. Mein Vater wohnte damals in Spandau. Ich wurde zunächst in Spandau in das Hans-Carossa-Gymnasium eingeschult und bin später dann in das Albert-Schweitzer-Gymnasium in Neukölln gewechselt. Ich erinnere mich noch an einen Mitschüler, dessen Vater ihm gesagt hatte: „Unterhalte dich nicht mit diesem Türkenmädchen, die Brüder kommen und stechen dich ab.“ Woraufhin ich geantwortet habe: „Ich habe doch gar keine Brüder.“ Im Rückblick kommen dir dabei die Tränen, wie ungläubig eine 15-Jährige damals antworten konnte: „Ich habe doch gar keine Brüder“.
Im Mai 1977 habe ich in Berlin Abitur gemacht. Ich war in der Zeit immer sehr unglücklich, weil ich das Gefühl hatte, nicht richtig dazu zu gehören. Nach dem Abitur bin ich in die Türkei zurückgeflogen und wollte dort studieren. Kaum war ich jedoch in der Türkei angekommen, habe ich gemerkt, dass die Türkei auch nicht mehr mein zu Hause war. Ich bin dann nach Deutschland zurückgekehrt. Da waren aber alle Fristen zur Einschreibung für die Uni schon verstrichen. Ich wollte nicht einfach zuhause herumsitzen und habe mich als Dolmetscherin für die Berliner Gerichte und Notare vereidigen lassen, ein Dolmetscherbüro aufgemacht und im Wedding als Dolmetscherin gearbeitet. Dabei habe ich gut verdient, denn eine Dolmetscherin für türkisch war damals eine Rarität.
Im Sommersemester 1978 habe ich in Berlin angefangen Jura zu studieren. Meine erste Vorlesung im Familienrecht habe ich bei Jutta Limbach gehört. Ich fand das sehr interessant, sie berichtete über die höchstrichterliche Rechtsprechung aus 1977, dass der Unterhaltsanspruch der Ehefrau verwirkt sei, wenn sie aus der Ehe ausbricht. Diese Rechtsprechung kommentierte sie mit den Worten: „als ob die Ehe eine Irrenanstalt ist“. Dieses Erlebnis war der Grundstein für meine weitere familienrechtliche Orientierung.
Malin B.: Wo hast du dann weiter studiert?
Zümrüt T.-Sch: Ich habe die zweite Hälfte meines Studiums in Frankfurt absolviert. Ich hatte den Vater meiner Kinder kennen gelernt und ging mit ihm nach Hessen. Mitten im ersten Staatsexamen bin ich schwanger geworden und habe das erste Kind bekommen. Als ich mich kurze Zeit später von dem Vater meines Kindes getrennt habe, gab es für mich die Überlegung, ob ich zurück nach Berlin gehe oder ob ich in Hanau bleibe. Ich habe mich für Hanau entschieden. Wenn ich zurück nach Berlin gegangen wäre, in die Großstadt, wäre das Leben als Alleinerziehende im Referendariat doch etwas schwieriger gewesen als in einer recht überschaubaren Stadt. Da war in dem kleinen Viertel, wo ich wohnte, doch mal die helfende Nachbarin da. Ich hab mich so ganz bewusst für Hanau entschieden. In Hanau habe ich auch mein Referendariat gemacht, und zusätzlich habe ich mir in einer Anwaltskanzlei ein bisschen dazuverdient. In Frankfurt am Main habe ich mein zweites Staatsexamen gemacht.
Malin B.: Bist du dann sofort Anwältin geworden oder hast du vorher noch etwas anderes gemacht?
Zümrüt T.-Sch.: Ich habe bei den Anwälten, bei denen ich schon als Referendarin „neben“beschäftigt war, weitergearbeitet, dann als Angestellte, aber nur für kurze Zeit. Kurz vor meinem zweiten Staatsexamen hatte der Seniorchef gesagt, er möchte, dass ich da bleibe. Ich habe gesagt, ja, gerne, aber ich müsse meine Arbeitszeiten an den Stundenplan von meinem Kind anpassen, das eingeschult wurde. Meine Bedingung war, dass ich zur Arbeit käme, wenn ich mein Kind zur Schule gebracht hätte, aber auch gehen müsse, wenn es früher aus der Schule käme. Alle Akten würde ich ordnungsgemäß bearbeiten. Zunächst waren sie einverstanden. Es dauerte 3 Monate, dann meinte der Juniorchef, ich müsste wegen der „Moral“, insbesondere den Sekretärinnen gegenüber, morgens um 8.00 Uhr im Büro sein, alles andere könne er sich nicht vorstellen. Ich konnte mir seinen Plan jedoch nicht vorstellen und habe einen Kollegen, der mit mir das Referendariat gemacht hatte, gefragt, ob er mit mir eine Bürogemeinschaft aufmachen will, womit er einverstanden war. Wir haben auch sofort Räumlichkeiten gefunden und uns dann am 15. August 1991 selbständig gemacht. Seit der Zeit bin ich selbständige Anwältin und habe noch mein zweites Kind bekommen.
Malin B.: Was ist Hanau für eine Stadt?
Zümrüt T.-Sch.: Hanau war schon immer eine Arbeiterstadt, auch das Stadtbild ist davon geprägt. Wenn man durch die einzelnen Bezirke geht, sieht man, wie die große Industrie für ihre Arbeiter auch die Häuser gebaut hat, das sind diese Reihenhaus-Siedlungen, die man sonst eher aus dem Ruhrgebiet kennt. Hier gibt es noch ganz viele bestehende Siedlungen, die allerdings heute leider teilweise abgerissen werden, um neuen Häusern Platz zu machen. Hanau hat eine lange Migrationsgeschichte, das hat auch der Oberbürgermeister im Rahmen der Reden wegen des Terroranschlags vom 19.02.2020 immer wieder betont. Er sagte, dass wir eine jahrhundertealte Tradition im Zusammenleben der unterschiedlichsten Menschen in Hanau hätten. Im 16. Jahrhundert hat Graf Ludwig aus Hanau einen Vertrag geschlossen mit den wallonischen und niederländischen, calvinistischen Flüchtlingen. Diese kamen aus Frankreich und den spanischen Niederlanden, man nannte sie Hugenotten. Sie kamen mit viel Geld und Fachwissen im handwerklichen Bereich und haben die Stadt zu dem gemacht, was sie heute ist. Graf Ludwig hatte den Flüchtlingen zugesichert, dass sie ihre Religion frei ausüben können, deshalb gibt es z.B. auch heute noch eine ziemlich große niederländisch-wallonische Kirche, und eine sehr aktive Gemeinde. Es kamen damals Facharbeiter, die auch noch Geld mitbrachten. Es waren darunter z.B. Goldschmiede, Tuchmacher, Weber, die ihre Häuser hier gebaut haben und der Stadt zu ihrem Wachstum verholfen haben. Ein paar Jahre später, nach den Hugenotten, siedelte sich auch eine jüdische Gemeinde hier an, die in 1945 völlig zerstört wurde. Aber es gibt mittlerweile wieder eine jüdische Gemeinde in Hanau.
Malin B.: Nach dem zweiten Weltkrieg, als die Gastarbeiter nach Hanau kamen, war Hanau auch ein Ort für sie?
Zümrüt T.-Sch.: Ja, Hanau hat keine andere, exklusive Geschichte. Es war, wie es in den 60-ern war, sie kamen, und sie blieben in Hanau. Derzeit leben in Hanau knapp 96.000 Menschen, davon 50 % Menschen mit Migrationshintergrund, und 26 % ohne deutschen Pass. In Hanau ist es keine Ausnahme, Migrantin zu sein, man gehört einfach dazu.
Malin B.: Wie sieht dein Leben als Anwältin aus? Wer kommt zu dir?
Zümrüt T.-Sch.: Als ich mich 1991 als Anwältin hier niedergelassen habe, habe ich zu 80 – 90 % türkische Mandanten gehabt, das hat sich im Laufe der Jahre verschoben. Damals war ich die einzige türkischsprachige Anwältin im Umkreis von 200 km und mittlerweile haben wir allein in Hanau zehn türkischsprachige Kolleginnen und Kollegen. Jetzt hat sich das etwas verändert. Ich bearbeite hauptsächlich Familienrecht und Arbeitsrecht, und in diesen Bereichen kommen nach wie vor „Migrant*innen“. Als ich nach Hanau und hier endlich zur Ruhe gekommen war, habe ich mich umgeschaut, was ich frauenpolitisch machen kann. Damals wurde gerade das Frauenhaus Hanau gegründet und die „Lawine“, eine Beratungsstelle für sexuell missbrauchte Mädchen und Frauen. So bin ich zu diesen Bereichen der Arbeit für Frauen gekommen. Ich berate u.a. auch Frauen, die in Frauenhäusern Schutz suchen müssen; aber ich berate auch Männer.
Es sind überwiegend familienrechtliche Fälle. Die türkische Mandantschaft empfinde ich zuweilen als diffizil. Wenn sie kommen, wollen sie im Grunde genommen auch Lebensberatung bekommen; aber das ist bei „Deutschen“ eigentlich auch nicht anders.
Malin B.: Sie fühlen sich von dir besonders verstanden.
Zümrüt T.-Sch.: Ja, und viele haben natürlich auch ein ausländerrechtliches Problem in den familienrechtlichen Verfahren, dann gibt es Arbeitsprobleme und Wohnungsprobleme. Ich habe irgendwann überlegt, ob ich mich darin weiter fortbilde oder mich lieber auf Familienrecht konzentriere. Das habe ich dann gemacht. Wenn sich jetzt etwas anders ergibt, z.B. ausländerrechtliche Probleme, dann habe ich meine Kolleginnen am Ort, mit denen ich in diesen Fragen zusammenarbeite.
Malin B.: Wann hast du das erste Mal eine STREIT in der Hand gehabt, oder etwas damit zu tun gehabt, wenn du dich erinnern kannst?
Zümrüt T.-Sch.: Das kann ich dir sehr genau sagen. Ich war 1998 auf einem Symposium in Regensburg zum Internationalen Familienrecht. Unter anderem war eine Professorin, Frau Özkan aus Ankara, da. Es fand in der Uni statt und im Hörsaal vor mir saß Jutta Bahr-Jendges. Ich weiß nicht, wie sie auf mich aufmerksam geworden ist, jedenfalls sprach sie mich an. Das war kurz vor dem Feministischen Juristinnentag, und sie erzählte mir vom FJT und von STREIT. Ich bin dann im Mai nach Bremen zum FJT gefahren und habe auch die STREIT abonniert.
Malin B.: Kommen wir zum 19.02. in diesem Jahr. Wie hast du von dem Anschlag erfahren? Wie war das für dich, was geschehen war?
Zümrüt T.-Sch.: Ich habe davon morgens um halb sieben erfahren. Als ich auf mein Handy schaute, sah ich 74 Nachrichten, Sprachnachrichten etc. Ich habe reingeschaut, und es waren einfach nur besorgte Freunde und Freudinnen, die dann die ganze Nacht schon geschrieben haben, bist du ok, sind deine Kinder ok? Ich hab zunächst gar nicht verstanden, was die alle von mir wollten, und habe dann erst einmal Nachrichten gehört.
Zuerst habe ich gedacht nein, das ist nicht wahr. Es hat bei mir einige Minuten gedauert, bis ich begriffen habe, hier ist ein Terrorakt oder Anschlag passiert. Zu diesem Zeitpunkt, also morgens um halb sieben, wusste man noch nicht, wie viele Tote es schon gab. Und zu allem Unglück heißt meine Schwiegertochter Mercedes, sie hat auch zwei Kinder, und als dann immer wieder durchsickerte, eine der Toten heißt Mercedes und hat zwei Kinder, war ich völlig gelähmt. Ich begriff die Besorgnis von ganz vielen, dass meine Schwiegertochter unter den Opfern sein könnte. Dann habe ich erst einmal bei meiner Schwiegertochter angerufen. Als ich sie am Telefon hatte, sagte ich ok, mehr wollte ich eigentlich nicht wissen. Und dann fing das Eigentliche an. Was mache ich jetzt? Ich kann jetzt nicht so einfach ins Büro gehen. Wo gehe ich jetzt hin? Irgendwie war da totale Fassungslosigkeit. Dann kam schon mein älterer Sohn zu mir und sagte, Mama, was machen wir jetzt? Ich hab gesagt, ich weiß es jetzt gerade auch nicht, was wir machen. Aber vielleicht sollten wir uns alle mal im Büro treffen. Wir haben uns im Büro getroffen und haben einfach nur dagesessen. Wir waren völlig fassungslos. Die Jungs haben ständig über das Internet die Neuigkeiten verfolgt, und dann haben wir beschlossen, gemeinsam zu dem einen Tatort zu laufen. Der war zu diesem Zeitpunkt sehr weiträumig abgesperrt, aber wir sind trotzdem zusammen hingelaufen. Und kaum hatten wir den Marktplatz erreicht, sahen wir schon Menschenmassen dort und erst dann kam es auch so richtig bei mir an, weil viele Leute, die ich kannte, dort waren, sich umarmt und geweint haben. Jeder hat jeden umarmt und geweint und alle haben versucht, sich wechselseitig zu trösten. Wir haben noch nicht einmal geschafft, bis zum „Tatort“ zu gehen, weil das Ganze so emotional war. Wir standen da, und irgendjemand hat gesagt, wir müssen jetzt auch Blumen hinlegen.
Es gab eine junge Frau, die mich sehr begeistert hat, sie heißt Newroz Duman. Sie ist eine 30-jährige kurdische Frau, die auch politisch sehr engagiert ist, bei „Solidarität statt Spaltung“. Sie war in diesen Tagen nur in Bewegung, ich glaube, sie hat überhaupt nicht geschlafen. Sie war überall dabei, sie hat die Kundgebungen organisiert, sie hat auch immer wieder geredet, und sie hat immer wieder gesagt, wir sind fassungslos, unendlich fassungslos, dass diese Tat in unserer Stadt passiert ist. Wir gehören dazu, das hat sie immer wieder eingefordert. Sie ist vor 18 Jahren mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen, das ist natürlich auch ihre Geschichte, aber die Geschichte auch von vielen.
Am ersten Tag danach, also am 20. Februar, hat sie an einem Tatort geredet, das habe ich mir aufgeschrieben: „Hanau ist die Stadt der Migration. Dass so eine Tat in dieser Stadt passiert ist, macht uns alle unfassbar wütend, unfassbar traurig. Wir – ihr – sie … wie lange bleibt ein Mensch ein Migrant und ein Flüchtling? Wer ist deutsch und wer nicht? Eigentlich soll es nicht zählen, ob man blonde oder schwarze Haare hat, woran wir glauben, wen wir lieben oder nicht. Aber Hanau zeigt, dass die Realität eine andere ist.“ Sie ist übrigens die Cousine des einen Getöteten, und sie hat bewegt, die Leute einfach bewegt, im doppelten und dreifachen Sinne hat sie die Leute bewegt. Wir waren alle in Schockstarre, und diese 30-Jährige mit ihren tiefschwarzen Locken hat diese Stadt wirklich zwei Tage lang bewegt. Sie hat Kundgebungen organisiert. Ziemlich früh, also an dem Abend, am 20. Februar, war die Politprominenz schon in Hanau und an dem ersten Abend waren wir bestimmt 5 – 6.000 Menschen auf dem Marktplatz. Der Bundespräsident war da und hat mit den Familien gesprochen, mit den Eltern, und da waren wirklich alle da, auch alle füreinander.
Malin B.: Sag noch mal etwas zu den Orten, an denen das passiert ist. Kennen z.B. deine Söhne diese Orte? Es sollen ja eine Shisha-Bar und eine Trinkhalle gewesen sein.
Zümrüt T.-Sch.: Der erste Tatort ist mitten in der Stadt. Das ist mein Weg zum Gericht jeden Tag. Wenn ich von meinem Büro zum Gericht laufe, komme ich an diesem Tatort vorbei. Mein jüngerer Sohn kannte diese Shisha-Bar. Der andere Tatort ist 150 m Luftlinie von meinem Haus entfernt.
Wir kennen die Ecke, und mein jüngerer Sohn kannte Gökhan, weil er der Onkel seines Fußballfreundes ist. Wie das oft so ist auf dem Fußballplatz, da stehen sie natürlich alle. Also er kannte Gökhan und es war dann immer wieder so, dass die Angehörigen, vor allem diese Männer, durch die Stadt liefen. Ich habe mich gefragt, warum bleiben sie nicht zuhause, wie man das so macht im Islam, dass man zuhause sitzt, in der Moschee sitzt und trauert, mit den anderen? Zumindest der eine Onkel von Gökhan ist durch die Stadt gelaufen und hatte Redebedürfnis. Das war seine Art zu trauern. Wenn es ein Kollektivtrauern gibt, dann fand das an dem Tag wirklich statt.
Malin B.: Hat es auch von deinen Mandanten und Mandantinnen Kontakte zu den Betroffenen dieses Anschlags gegeben?
Zümrüt T.Sch.: Ja. Mercedes Kierpacz, weibliches Opfer, kannte ich schon als Kind. Und dann berate ich jetzt auch noch einen Jungen, der das überlebt hat. Er hat jemanden gesucht, mit dem er eins zu eins sprechen kann, obwohl das oft gar nicht nötig ist. Denn die Stadt Hanau, der Oberbürgermeister, hat so gut reagiert. Er hat den Menschen in dieser Stadt wirklich das Gefühl gegeben, wir sind eins. Es gibt nur ein „wir“ hier. Es gibt nicht „ihr“, von der ersten Sekunde an. Er hat es sehr gut gemanagt, sofort zwei Opferbeauftragte benannt, die sich dann sofort um die Familien gekümmert haben. Für jede Familie gibt es einen Sozialarbeiter oder eine Sozialarbeiterin, die sich tagtäglich nur um diese Familie kümmert. Wir haben eine Anlaufstelle im Rathaus – die ist zwar wegen Corona gerade geschlossen, aber sie ist telefonisch erreichbar –, wo die Leute hingehen können, wenn sie reden wollen, wenn sie etwas wissen wollen, es gibt Ansprechpartner. Man hat überhaupt nicht das Gefühl, dass die betroffenen Familien im Stich gelassen worden sind, ganz im Gegenteil. Auf der offiziellen Trauerfeier sind sowohl der Bundespräsident als auch die Kanzlerin als auch Ministerpräsident Bouffier als Trauerpaten mit den Eltern und den Angehörigen auf die Bühne gegangen und haben auch Blumen niedergelegt. Dieses Wir-Gefühl hat die Leute getröstet. Das hat der Oberbürgermeister gut vermittelt, sehr empathisch, sehr mitfühlend und auch die Leute ansprechend.
Auf dieser Feier haben zwei Schwestern der Getöteten, Ajla Kurtović und Saida Hashemi, Reden gehalten. Beide jungen Frauen haben den Mut aufgebracht, auf die Bühne zu gehen, auf dieser Bühne stehend, nach Fassung ringend, aber trotzdem nicht in Tränen ausbrechend, sehr bewegt, sehr betroffen zu reden, aber nicht anklagend, und unendlich zuversichtlich. Die eine Schwester hat gesagt, „Nein, ich fühle keinen Hass.“ Das war wirklich sehr bewegend. Da hab ich gedacht, Hut ab, vor dir, Mädchen, Hut ab.
Malin B.: Du erzählst Sachen, die mir so nicht klar waren. Ich habe Tagesschau oder Nachrichten im Fernsehen gesehen und auch Zeitung gelesen, aber es ist nochmal ein ganz anderer Eindruck, das jetzt von dir zu hören.
Zümrüt T.-Sch.: Es war sehr bewegend, wirklich. Es gab immer wieder Totengebete, man traf sich immer wieder und immer wieder. In der Stadt selbst hast du das Gefühl gehabt, hier entsteht eine Zusammengehörigkeit. Insgesamt war alles sehr solidarisch und wirklich auch einander tröstend. Nur waren alle irgendwie in Schockstarre, und die löste sich sehr, sehr langsam.
Malin B.: Wie hat sich das im alltäglichen Leben ausgewirkt? Wenn du deine Mandanten, deine Mandantinnen erlebst, hat sich etwas verändert? Oder hat sich auch bei dir etwas verändert?
Zümrüt T.-Sch.: Bei mir hat sich etwas verändert, Malin. Meine beiden Söhne sehen türkisch aus, beide, und egal wo sie waren – oder womöglich sind, in welchem Auto sie fahren – sobald eine Polizeikontrolle kam, wurden meine beiden Jungs heraus gewunken. Die schließen schon miteinander Wetten ab. Das erleben wir tagtäglich. Die Jungs erzählen mir das schon gar nicht mehr, weil sie mitkriegen, wie es mich belastet.
Malin B.: Ist das jetzt schlimmer als vorher? Eigentlich sollte es ja genau umgekehrt sein.
Zümrüt T.-Sch.: Ich weiß nicht, ob sie nach dem Anschlag auch herausgeholt worden sind. Aber es ist noch mal deutlich geworden, und das merke ich auch im Gespräch mit dem überlebenden Jungen, der vor mir sitzt mit seinen 19 Jahren und weint und sagt, ich bin doch hier geboren, Frau Turan, ich bin doch hier geboren, ich bin doch ein Hanauer Bub. Ich sage, natürlich bist du hier geboren, natürlich gehörst du hierher. Er sagt, die Leute akzeptieren mich nicht. Er sagt, es gibt Leute, die geben mir nicht die Hand draußen. Also das hat mit Corona nichts zu tun, das war ja vorher schon. Auch mein jüngerer Sohn nimmt das jetzt noch stärker wahr und bringt es zur Sprache, all das, was er bis jetzt an Rassismus erlebt hat. Sie machen jetzt etwas anders. Sie machen keine Witze mehr, sie sagen jetzt nicht mehr, ha, ha, ich bin jetzt von den Bullen wieder herausgeholt worden, sondern sie fragen, warum holen die mich jetzt raus?
Ich habe das Gefühl, sie sagen, wir wollen jetzt akzeptiert werden und wir wollen unsere Präsenz hier zeigen. Und Newroz Duman hat auch immer wieder gesagt, das ist unsere Stadt. Wir lassen es nicht zu, dass ihr uns unsere Stadt wegnehmt. Ich habe wirklich das Gefühl, dass sie in eine „Jetzt erst recht“-Stimmung hereingekommen sind.
Malin B.: Eine „Jetzt erst recht“-Stimmung. Also, wenn bisher noch nicht allen klar war, dass wir zusammen gehören, dann fordern wir das jetzt ein.
Zümrüt T.-Sch.: Genau. Ich habe noch einen Part von Newroz aufgeschrieben, weil ich das wirklich besonders fand. Sie hat gesagt: „Betroffen sind wir jetzt vielleicht alle, ermordet werden am Ende aber die Migranten und diejenigen, die als nicht zugehörig gesehen werden.“
Was hat das jetzt mit uns gemacht in der Stadt? Wenn ich mich mit den Leuten unterhalte, die einen Migrationshintergrund haben, sie haben alle ein „Jetzt erst recht“-Gefühl, wir gehören dazu. Wir gehören hierher und wollen uns jetzt zeigen. Wenn ich mich mit den „Bio-Deutschen“ unterhalte, ist es eher so, dass sie bewegt, dass der Name unserer Stadt zu einem Synonym geworden ist. In den 90er Jahren waren das Solingen, Mölln, und jetzt ist es nicht nur Kassel, nicht nur Lübcke, sondern jetzt auch Hanau. Dass diese Stadt jetzt im Kontext mit einem Terroranschlag genannt wird, empfinden ganz viele als besonders belastend. Ich versuche, das für mich nachvollziehbar zu machen, aber ich kann das nicht nachvollziehen.
Malin B.: Ich glaube, der Unterschied in Hanau ist, und jetzt wo du das sagst, werde ich darin noch mehr bestärkt, dass die Gesellschaft in Hanau anders reagiert hat – die Stadt selbst, aber auch die Gesellschaft. Dass der Bundespräsident, die Bundeskanzlerin und der Oberbürgermeister so reagiert haben, wie sie reagiert haben, macht deutlich, dass das nicht hingenommen wird und dass Solidarität auch in der Situation etwas ganz Selbstverständliches ist. Dafür steht Hanau bei mir auch. Das hat natürlich auch mit euch allen zu tun, die in Hanau leben, die auch in der Weise reagiert haben, die dies für sich auch eingefordert haben und auch öffentlich gemacht haben. Insofern hat Hanau einen besonderen Klang, der auch heißt, ihr steht zusammen und versucht es auch mit Zuversicht zu sehen.
Zümrüt T.-Sch.: Auch dieses, nicht einfach in Trauer zu fallen und einfach nur mitmachen, sondern auch wirklich: Wir machen das anders. Wir sehen trotzdem positiv in die Zukunft. Das hat die Stadt wirklich geprägt.
Malin B.: Auch zu sagen, dass ihr dafür steht, dass das gemeinsam angepackt wird und dass dem Rassismus sozusagen kein Zentimeter gegeben wird.
Zümrüt T.-Sch.: Genau. Die Stadt Hanau hat auch sofort Plakate gedruckt, „Die Opfer waren keine Fremden.“ und „Wir sind alle gleich.“, diese hängen überall. Es gab keinen Überaktionismus, sondern das sind ganz gezielte Maßnahmen, die gut taten. Am Rathaus hängt ein Riesenbanner „Hanau steht zusammen.“ Das muss man wirklich hervorheben, dass da richtig gut gehandelt worden ist.
Malin B.: Was möchtest du zum Schluss noch sagen?
Zümrüt T.-Sch.: Das sind zwei Sachen. Aus der Rede von Ajla Kurtović habe ich mir die letzten Sätze aufgeschrieben, die fand ich gut. Das ist das eine, das sage ich gleich. Das zweite ist, ich will zwar dem Täter keine Plattform geben, aber es stellt sich immer mehr heraus, dass er in einer Atmosphäre, in einem Haushalt groß geworden ist, in dem häusliche Gewalt herrschte. Der Vater muss die Mutter ziemlich unter Druck gesetzt haben; er hat nicht geschlagen, aber psychische Gewalt muss es jeden Tag gegeben haben. Es gibt auch die Erklärung, warum er seine Mutter getötet hat, als eine Art verlängerter Suizid, damit seine Mutter nicht mehr allein mit diesem Vater zurückbleibt. Das ist eine mögliche Erklärung. Er hat geschrieben – das wurde veröffentlicht – dass er keine Frau auf Augenhöhe gefunden habe und wenn er eine Frau gehabt hätte, würde es ihm besser gehen. Diese frauenfeindlichen Tendenzen in seinen Schriften, und aber auch diese Prägung, die Auswirkung der häuslichen Gewalt, wie gewaltig das ist, sollte erwähnt werden.
Ajla Kurtović hat am Ende ihrer Rede gesagt: „Ich habe eine Bitte an alle, an die Politik, sorgen Sie bitte dafür, dass die Umstände dieses schrecklichen Verbrechens restlos aufgeklärt und die entsprechenden Lehren daraus gezogen werden, damit sich so eine schreckliche Tat nicht wiederholen kann. Helfen Sie, liebe Trauernde, dass wir den Hass und das Gift namens Rassismus aus unserer Gesellschaft restlos verbannen und wir alle, auch wenn wir verschiedenen Glaubensrichtungen angehören, in unserem Land friedlich und glücklich leben können.“
Ich finde, das ist ein ganz wunderbares Schlusswort.
Malin B. Vielen Dank, Zümrüt.
Die in diesem Heft veröffentlichten Bilder der Künstlerin Almut Knebel gehören zu einer am 11.3.2020 eröffneten Ausstellung in den Kanzleiräumen der STREIT-Redakteurin Zümrüt Turan-Schnieders.