STREIT 1/2023
S. 14-22
24-Stunden-Pflege neu denken. STREITige Gedanken zu einer emotionalisierten Debatte
Mein Beitrag knüpft an Überlegungen aus meinem Vorschlag zu einer djb-Arbeitsgruppe an sowie an meinen Beitrag zusammen mit Rudolf Herweck: „24-Stunden-Pflege“: Abschaffen oder neu gestalten? in NDV 8/2022, S. 399-404.
1. Stand der Dinge und der politischen Agenda
„Eine Frau aus Osteuropa für die Pflege zu Hause“
Der Pflegenotstand in der Altenpflege ist Dauerthema in Politik, Gesellschaft und Medien. Zur Realität gehört die „24-Stunden-Pflege“ durch osteuropäische „Live-In“-Betreuungskräfte in schätzungsweise 300.000 bis 400.000 Haushalten mit rund 600.000 bis 700.000 Betreuungskräften.1
Ihre Arbeitsbedingungen sind meist hochbelastend mit rechtswidrigen Arbeitszeiten und Löhnen weit unter dem Mindestlohn. Dienstleistungsagenturen mit Sitz in einem osteuropäischen EU-Mitgliedstaat entsenden die Beschäftigten in Privathaushalte in Deutschland; die Geschäftsanbahnung erfolgt durch eine in Deutschland ansässige Vermittlungsagentur.
Politischer Handlungsbedarf wird seit Jahren beschworen. Die Ampel-Koalition hat im Koalitionsvertrag eine Lösung in Aussicht gestellt, geschehen ist noch nichts. Andere EU-Mitgliedstaaten haben dazu rechtliche Wege geschaffen, die nicht unkritisch zu sehen sind, aber den Gestaltungswillen für rechtssichere, faire und handhabbare Rahmenbedingungen zeigen.2
Die 99. Konferenz der Arbeits- und Sozialminister*innen der Bundesländer hat am 30.11./01.12.2022 mit einem einstimmigen Beschluss3
die Bundesregierung aufgefordert, ein Gesamtkonzept vorzulegen, mit dem diese faktisch bestehende und weiter zunehmende Betreuungsform in legale Bahnen gelenkt, als Gute Arbeit gestaltet sowie für Privathaushalte finanzierbar gemacht wird.
Die Systemrelevanz des Spargelstechens und der 24-Stunden-Pflege
Der politisch-gesellschaftliche und behördliche Umgang mit Menschen aus EU-Mitgliedstaaten und Drittstaaten, die befristet mit wiederholten Aufenthalten in Deutschland erwerbstätig sind, hat eine geschlechterpolitische Schlagseite.
In der Bauwirtschaft arbeiten pro Jahr rd. 95.000 Personen (zu 100 % Männer), in der Landwirtschaft als Saisonarbeitskräfte rd. 270.000 (Männer und Frauen gemischt). Von den rd. 600.000 bis 700.000 Betreuungskräften in Privathaushalten sind 80 bis 90 % Frauen.
Die Probleme der in den angesprochenen Branchen tätigen Menschen sind nicht grundlegend verschieden: Bei fast allen ist das Beschäftigungsverhältnis teilweise oder vollständig rechtswidrig, vielfach ist der Aufenthaltsstatus irregulär. Die Arbeitsbedingungen sind prekär, von der Entlohnung bis zu den Arbeitszeiten und dem Arbeits- und Gesundheitsschutz, ebenso die Lebensbedingungen vor Ort (Unterkunft). Individuelle Möglichkeiten, sich zu wehren, bestehen so gut wie nicht.
Für rechtssichere, faire Beschäftigung rumänischer Bauarbeiter oder georgischer Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft werden Regelungen erlassen und Ressourcen eingesetzt, um diese Teilarbeitsmärkte besser zu regulieren und Beschäftigte zu schützen. Niemand erhebt gegen ihren Wunsch, in Mangelbereichen des deutschen Arbeitsmarktes Geld zu verdienen, politische Forderungen nach „Zurückdrängung“.
Im Gegensatz dazu werden osteuropäische Betreuungskräfte in Privathaushalten, die im gesellschaftlichen Mangelbereich der Versorgung pflegebedürftiger Menschen arbeiten, als „Pendelmigrantinnen“ adressiert und diskriminiert. Dass und warum sie in Deutschland erwerbstätig sein wollen, spielt keine Rolle. Ohne zu fragen, inwieweit ihr Einkommen die Familie zu Hause mit ernährt, wird ihnen ihre Arbeit zum Vorwurf gemacht: Die Abwesenheit von zu Hause ginge zu Lasten ihrer Familie. Männlichen Bauarbeitern oder Saisonarbeiter*innen auf Spargel- und Erdbeerfeldern ist das noch nie entgegengehalten worden. Bezeichnend ist ferner, dass in den Debatten um die erwünschte längerfristige Fachkräfteanwerbung auch und gerade von ausländischen Pflegekräften solche Töne fehlen – anders als im Wechselmodell der 24-Stunden-Kräfte.
2. Die grundsätzliche Kontroverse um die 24-Stunden-Betreuung
Grundsätzliche Kritik
Die 24-Stunden-Betreuung ist seit vielen Jahren ein Dauerthema. In den meisten Debatten wird sie abgelehnt: mit grundsätzlicher Kritik und unter Bezug auf die Erfahrungsberichte ausgebeuteter, schutzloser osteuropäischer Betreuerinnen, die sich an Beratungsprojekte z.B. von Gewerkschaften („Faire Mobilität“), Kirchen und Menschenrechtsorganisationen wenden. Den Weg zu den Gerichten, um ihre Rechte zu erstreiten, sind bisher, soweit mir bekannt, nicht einmal ein Dutzend Betroffene gegangen.4
Die grundsätzliche sozialethische Kritik, teilweise auch im feministischen Care-Diskurs, lautet:
1. Mit der 24-Stunden-Betreuung wird die Notlage der osteuropäischen Frauen – der Mangel an existenzsichernden Erwerbsarbeitsplätzen im Heimatland – ausgenutzt. Sie sind in deutschen Familien diskriminierenden und gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen ausgesetzt und können sich nicht wehren.
2. Ihre Arbeit für Pflegebedürftige im deutschen Privathaushalt führt dazu, dass sie für ihre Familien im Heimatland die Care-Arbeit nicht leisten können und ihre Kinder sowie alte und pflegebedürftige Angehörige daher Not leiden.
3. Ursachen liegen im Egoismus und Wohlstandsmodell bzw. einer kolonialistischen Haltung von Töchtern, Schwiegertöchtern, Ehefrauen oder Schwestern in Deutschland, die wegen ihrer Berufskarriere oder aus sonstigen Gründen die familiäre Care-Arbeit nicht leisten wollen, sondern sie für einen Hungerlohn und unter inakzeptablen Arbeitsbedingungen auf ausländische Frauen abwälzen.
Aus dieser Position der Kritik resultieren die politischen Vorschläge:
1. Eine deutliche Reduzierung der Live-In-Beschäftigung soll ein vorrangiges Ziel der Pflegepolitik sein und durch Schaffung von entsprechend mehr stationären Pflegeplätzen und ambulanten Pflegediensten erreicht werden.
2. Soweit dies (zunächst) nicht ausreichend gelingt, sollen Lösungen in Form eines „Betreuungs-Mix“ im Privathaushalt gefördert werden, verbunden mit Begleitung und Beratung sowie Überwachung insbesondere der Arbeitszeitbedingungen der Live-In-Betreuerinnen.
3. Und mehr Familienangehörige sollen in größerem Umfang die Pflege übernehmen. Einen Rechtsanspruch auf ein unbefristetes „Pflegendengeld“ schlägt das Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen vor: Wenn „An- oder Zugehörige“ zur Pflege eines Familienmitglieds ihre Berufstätigkeit unbefristet ganz oder teilweise aufgeben, soll ihnen auf Dauer eine entsprechende Vergütung nach dem Mindestlohn gezahlt werden.5
Beim Kreis der Anspruchsberechtigten sind neben den Familienangehörigen „Zugehörige“ definiert, „um zu erschweren, dass das Pflegendengeld genutzt wird, um Live-In-Care zu finanzieren.“ (ebenda, S. 7)
Der Unabhängige Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf schlägt mit seinem Modell einer Familienpflegezeit mit Familienpflegegeld gleichfalls vor, dass Angehörige, die zur Betreuung eines pflegebedürftigen Familienmitglieds ihre Erwerbsarbeit unterbrechen oder reduzieren wollen, sozial abgesichert werden.6
Dieser Vorschlag sieht eine Dauer von maximal 36 Monaten vor, vorzugsweise in Teilzeit.
3. Frauen- und Gleichstellungsrelevanz
24-Stunden-Betreuung ist ein Frauenthema.
Es sind weit überwiegend Frauen, die als Betreuungskräfte drei- bis viermal pro Jahr für mehrere Wochen oder Monate aus osteuropäischen EU-Ländern und Drittstaaten nach Deutschland kommen. Eine anerkannte Pflegeausbildung hat, nach den Fallgeschichten der vorliegenden Studien zu urteilen, kaum eine von ihnen. Ihr Motiv ist der Einkommenserwerb bei weitgehend flexiblem Wechsel zwischen Erwerbsarbeit in Deutschland und Leben mit ihrer Familie im Heimatland. Die meisten arbeiten jahre- bis jahrzehntelang in dieser Weise. Um dauerhafte Einwanderung nach Deutschland geht es ihnen nicht.
Angehörige sind „Deutschlands größter Pflegedienst“,7
und weit überwiegend sind es die Ehefrauen, Töchter, Schwiegertöchter, Schwestern, die millionenfach (2,1 Mio.) die Pflege in der Familie leisten. Der Preis, den sie dafür zahlen, ist die Einschränkung ihrer Berufstätigkeit bis hin zum vollständigen Verzicht.
Wenn ambulante Dienste zur Unterstützung der pflegenden Angehörigen nicht mehr ausreichen und ihre eigene Lebenssituation Not leidet, kann eine Familie die „24-Stunden-Betreuung“ durch eine osteuropäische Betreuungsperson als Lösung sehen, damit die/der pflegebedürftige Angehörige nicht gegen den eigenen Willen das Leben zu Hause aufgeben muss.
An dieser Sachlage scheiden sich die Geister – gerade aus der gleichstellungspolitischen Perspektive.
Gleichstellungspolitische Schlaglichter auf die Grundsatzkritik
Hinter den Einwänden, die als sozialethische Kritik vorgebracht werden, – dass erstens osteuropäische Frauen nicht in Deutschland im Privathaushalt Care-Arbeit leisten und eigene Angehörige unversorgt bleiben, und dass zweitens Frauen in Deutschland mehr die Pflege ihrer Angehörigen im Sinn haben sollten als ihre Berufskarriere, – steht die patriarchale Norm, dass Frauen ihrer unbezahlten Care-Arbeit in der Familie den Vorrang vor einer bezahlten Erwerbsarbeit geben müssten.
Gleichstellungspolitisch ist das nicht zu akzeptieren – weder für osteuropäische Frauen noch für Frauen in Deutschland – beide Male Ehefrauen, Mütter, Töchter, Schwiegertöchter. Von Männern wird dieser Vorrang privater Care-Arbeit nie als gleichsam naturgegeben eingefordert.
Wenn osteuropäische Frauen sich angesichts der Arbeitsmarktsituation im Heimatland entscheiden, in Deutschland als Betreuerin im Privathaushalt zu arbeiten, phasenweise und ohne die Absicht einzuwandern, haben sie dafür zu respektierende Gründe. Sie davon abhalten zu wollen, ist eine paternalistische Bevormundung. Diskreditierend ist der Verweis auf die unbezahlte Care-Arbeit, die sie zuhause ihrer Familie schuldig bleiben würden. Stattdessen sollten sie im Heimatland und an ihrem Arbeitsort in Deutschland beim Spagat, den sie bewältigen müssen, unterstützt werden. Die Intention muss der Schutz der Frauen in und nicht vor dieser Arbeit sein.
Auf der Seite der Frauen in Deutschland ist zu respektieren, wenn sie ihre Berufstätigkeit und eigenständige Lebenspläne nicht aufgeben wollen, sobald zur häuslichen Betreuung ihrer Angehörigen ambulante Dienstleistungen nicht (mehr) ausreichen, der eigene Wunsch des Vaters oder der Mutter aber ist, weiter zu Haus zu leben. Sie haben ein Anrecht auf tragfähige Lösungsalternativen für ihr Dilemma.
Das Modell der mehrjährigen Familienpflegezeiten – gleichstellungspolitisch zu Ende gedacht
Schutz vor zeitlicher, physischer und psychischer Überbeanspruchung braucht die Angehörige in voller oder hälftiger Familienpflegezeit genauso wie die abhängig beschäftigte Betreuerin. Die Woche umfasst aber bei 20 oder 40 Stunden vergüteter Angehörigenfreistellung weitere 148 oder 128 Stunden Lebenszeit der zu betreuenden Person. Wenn sich die pflegende Tochter, Schwiegertochter oder Ehefrau rund um die Uhr kümmert – was wäre der Unterschied zu der mit Recht kritisierten Arbeitssituation der osteuropäischen Betreuerin: dass erstere es schlussendlich doch „aus Liebe“ tut, nicht des Erwerbs wegen?
Für die eine wie für die andere ist wirksamer Schutz durch einen Betreuungs-Mix notwendig und muss organisiert werden.8
Im Fall der Live-in-Betreuerin gibt es deren Arbeitgeber-Agentur, die auf Einhaltung achten muss und für Lösungen, auch Einhaltung des Arbeits(zeit)schutzes rechtlich verantwortlich ist. Für die Ehefrau oder Tochter gibt es das nicht.
Ob die pflegende Angehörige weniger abhängig und ausbeutbar ist als die osteuropäische Live-in-Betreuerin, ist noch die Frage. Wenn die Situation zu belastend ist, kann die Betreuerin nach Ableisten der zwei oder drei Monate i.d.R. entscheiden, ob sie nach ihrer „Pause“ in diesen Haushalt zurückkehren oder anderswo arbeiten will; die hohe Nachfrage nach 24-Stunden-Kräften gibt das her. Eine Wahl hat die Tochter, wenn sie sich einmal entschieden hat, eher nicht: Wo ist für sie der Notausgang?
Der Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf will mit Familienpflegezeit und Familienpflegegeld persönliche Entscheidungen zur umfassenden, längerfristigen Betreuung eines pflegebedürftigen Familienmitgliedes absichern: Eine solche Entscheidung darf nicht zu eigener Existenznot führen und auch nicht das Aus für den Berufsweg bedeuten. Da gibt es gleichstellungspolitisch kein Vertun – hier besteht politischer Handlungsbedarf.
Grundlegend anders ist allerdings ein Politikvorschlag zu beurteilen, der bei umfassendem Betreuungsbedarf unter Selbstbestimmung des/der Pflegebedürftigen allein die Alternative „Angehörigenpflege oder Heimunterbringung“ versteht9
und öffentlich so vertreten wird, als sei neben dem (längerfristigen) Ausbau „attraktiver stationärer Strukturen“ das finanziell mit Mindestlohn abgesicherte, unbefristete Ausscheiden aus dem Beruf zugunsten von Angehörigenpflege quasi der Königsweg aus dem gegenwärtigen Pflegenotstand heraus. Eine solche Pflegepolitik würde patriarchale Gesellschaftsmuster wiederauferstehen lassen und zu einem Backlash der beruflichen Gleichstellungspolitik führen. Wer das nicht will, muss es deutlich sagen.
Vor allem unbefristete Modelle des Berufsausstiegs zugunsten familiärer Vollzeitpflege konterkarieren die berufliche Chancengleichheit von Frauen. Wenn persönliche Entscheidungen, der familiären Care-Arbeit Vorrang vor der Berufstätigkeit einzuräumen, als gesellschaftliches Leitbild gesetzt und sozialrechtlich gerahmt werden, haben wir statt einer nunmehr zwei Lebensphasen von Frauen, in denen sie aus der Berufswelt herausfallen: das erste Mal nach der Ausbildung in der Startphase des Berufsweges, wenn sie Kinder bekommen; das zweite Mal im mittleren oder höheren Lebensalter auf ihrem erreichten Platz in der Berufswelt, vom Rentenalter noch ein oder zwei Jahrzehnte entfernt, wenn jetzt die Eltern pflegebedürftig werden. Für die Elternzeit gibt es mit der Kita ab dem dritten Lebensjahr eine zeitlich überschaubare, planbare Perspektive, die gesellschaftlich als Leitbild funktioniert. Pflegezeit für Eltern dagegen ist in ihrer Dauer nicht vorhersagbar, sie kann wenige Jahre, aber auch ein Jahrzehnt und länger dauern.
Nicht unterschätzt werden sollte, wie Modelle für längere oder unbefristete Familienpflegezeiten sozialen Druck, auch ungewollt, auf Töchter, Schwiegertöchter, Ehefrauen und Schwestern ausüben können, wenn die individuelle Präferenz des/der Pflegebedürftigen lautet „im Alter zuhause leben“10
und die quantitativen sowie qualitativen Pflegelücken bei der stationären und ambulanten Versorgung fortbestehen. Die Lücken bedarfsgerecht zu schließen, erfordert mehr Kapital und längere Zeiträume – die individuelle Freistellung von Angehörigen mit Einkommensabsicherung verheißt schnellere Lösungen. Ohnehin ist für betroffene Familien Warten auf bessere Zeiten keine Option – ihre Bedarfslage besteht heute.
Demographischer Wandel und Fachkräftemangel
Wer angesichts der alternden Gesellschaft den Wunsch von Frauen nach einer qualifizierten, kontinuierlichen Berufsbiographie als nachrangig gegenüber familiären Pflegeaufgaben ansehen will, muss auch die Frage beantworten: Was ist mit dem Fachkräftemangel, der im demographischen Wandel weiter ansteigen wird? Eine zentrale Forderung ist die Erweiterung des Arbeitskräftepotenzials von Frauen durch Kontinuität ihrer Erwerbsbiographien und Arbeitszeitaufstockungen teilzeitbeschäftigter Frauen. Eine weitere Forderung lautet, ältere Beschäftigte länger im Beruf zu halten.11
Die politisch gewollte Fachkräftezuwanderung allein kann nicht die Lücke schließen und müsste noch erhebliche Hürden beseitigen. Sozialethisch ist sie zu Recht nicht unumstritten.
4. Handlungsbedarf und Ansatzpunkte für eine Gesamtkonzeption
Wie viel, wie wenig wissen wir über das Gesamtbild der kritisierten Verhältnisse?
Die negative Sicht auf die „24-Stunden-Pflege“ resultiert aus den bekannt gewordenen, unstrittigen Beispielfällen von Ausbeutung (Vergütung unterhalb des Mindestlohns), unzumutbarer Arbeitsbelastung (Arbeitszeiten rund um die Uhr) sowie sozialer Diskriminierung (mit rassistischen Elementen). Alle veröffentlichten sowie auch meine eigenen Erfahrungen gehen dahin, dass bei der 24-Stunden-Betreuung die informell organisierte illegale Beschäftigung dominiert und dass auch bei der von Agenturen vermittelten, stets als legal beworbenen Beschäftigung Rechtsverstöße die Regel, nicht die Ausnahme sind.
Die zahlreichen Erfahrungsberichte und Forschungsarbeiten12
basieren auf qualitativen Erhebungen i.d.R. mit geringen zweistelligen Fallzahlen. Eine einigermaßen repräsentative Datenbasis haben nur wenige Untersuchungen – z.B. des Bundesverbandes Häusliche Betreuung und Pflege (VHBP), des Interessenverbandes der Pflegevermittlungsagenturen, sowie eines Projektes der Fachstelle Einwanderung iQ.13
Unzumutbare Arbeitsbedingungen und Diskriminierung sind überall in der Arbeitswelt erfahrbar – die politische Aufgabe lautet, Rahmenbedingungen für funktionierenden Schutz zu regeln und durchzusetzen. Der Informationsstand über die soziale Lage der osteuropäischen Frauen einerseits in ihrer Familie und im Heimatland, andererseits während der Arbeit in Deutschland ist unzureichend. Mit repräsentativen Untersuchungen muss eine Grundlage geschaffen werden; dazu ist der politische Wille und die Bereitstellung von Mitteln erforderlich.
Zum Konzept „Zurückdrängen, wenn Abschaffen nicht geht“
Für eine „deutliche Reduktion“ plädieren z.B. Emunds/Kocher et al.14
Auch im Empfehlungskatalog eines von der Gleichbehandlungsstelle der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration geförderten Projektes steht an erster Stelle als „zentrale Aufgabe der Politik“ die Reduktion der Live-In-Beschäftigungsverhältnisse.15
Handlungsvorschläge für Verbesserungen in der Zwischenzeit sind auf das Tun und Lassen des Privathaushalts fokussiert: Anlauf- und Beratungsstellen sollen Pflegearrangements für einen Betreuungs-Mix unterstützen und mit Begleitangeboten beraten und steuern. Der Privathaushalt soll über die Rechtslage informiert und vor Sanktionen bei Verstößen gewarnt werden, insbesondere hinsichtlich des Arbeitszeitgesetzes, dessen § 18 Abs. 3 als in Stein gemeißelt erscheint.
Wer Live-In-Betreuungsverhältnisse zurückdrängen oder am liebsten abschaffen will, sollte zu einigen Fragen Stellung beziehen:
Welcher sozialethische Standpunkt wird vertreten zur Selbstbestimmung und Entscheidung alter Menschen über ihre eigene Lebens- und Betreuungsform auch bei zunehmendem Pflegebedarf?
Was ist mit der Forderung nach „deutlicher Reduktion“ gemeint: ein Rückgang auf ein Drittel oder ein Viertel? Selbst wenn man (nur) eine Halbierung als politisches Ziel propagieren würde, blieben weiterhin mehrere hunderttausend osteuropäische Betreuungskräfte in Privathaushalten und für sie müsste ein funktionierender Schutz geschaffen werden.
Ein „Policy Paper“ mit wortwörtlicher Forderung nach „Zurückdrängen“ dieser Betreuungsform impliziert aktives Handeln, also einen Push Back. Wie soll das umgesetzt werden: mehr Razzien, schärfere Kontrollen bei Visa-Erteilung und Einreise nach Deutschland? Ein bloßer Appell an Privathaushalte zum freiwilligen Verzicht wird wohl kaum als zielführend angesehen.
Wie realistisch ist es, ambulante Pflegedienste und vollstationäre Pflegeplätze qualitativ und quantitativ so auszubauen und ergänzende Dienstleistungen (Alltagsbegleitung, Hauswirtschaft, Aktivierung und soziale Teilhabe) so zu erweitern, dass sie Hunderttausende zusätzlicher Pflegebedürftiger gut versorgen könnten? Welche Zeiträume und welche Finanzmittel für Investitionen werden veranschlagt, um die Kapazitäten und den Personalbestand bedarfsentsprechend auszubauen?
Statt Zurückdrängung: Neugestaltung
Neugestalten bedeutet, den großen Bereich der bestehenden 24-Stunden-Betreuung als gesellschaftlich notwendige weitere Säule des Pflegesystems anzuerkennen und mit einem geeigneten sozialstaatlichen Rechtsrahmen abzusichern. Flankierend kommen verschiedene Umsetzungsinstrumente hinzu, über die auch zwischen den Kontrahent*innen der Grundsatzkontroverse kein Dissens besteht: Wege zu einem wirksamen Betreuungs-Mix, Vorbereitung und Weiterbildung für die Betreuungskräfte, Unterstützung bei auftretenden Konflikten, Hilfen im Heimatland.
Das Selbstbestimmungsrecht pflegebedürftiger Menschen über ihre Wohn- und Betreuungssituation ist ein Grundrecht. Alle Umfragen und Analysen belegen, dass die meisten alten Menschen auch in ihren letzten Lebensjahren im vertrauten Zuhause leben wollen und Angehörige diesen Willen unterstützen, solange sie das ermöglichen können.
Die fehlenden Pflegekräfte sind im stationären Bereich der Grund für die quantitativen und qualitativen Defizite, die in der Corona-Pandemie in aller Schärfe sichtbar wurden, aber längst vorher bestanden und auch weiterbestehen. Unzureichende Pflegequalität, mangelnde Aktivierung für Erhalt der individuellen Fähigkeiten sowie fehlende soziale Teilhabe kennzeichnen die Realität in der großen Mehrzahl der Einrichtungen: So möchte im Alter möglichst niemand leben. Von den Seniorenresidenzen, in denen die privat zu tragenden Kosten bei mindestens 4.000 bis 5.000 € liegen, soll hier abgesehen werden.
Bei den ambulanten Pflegediensten ist der Normalfall die fragmentierte Minutenpflege, oft zu Tageszeiten, die nicht zum Lebensrhythmus der Pflegebedürftigen passen.
5. Kernthemen für die zu führenden Debatten
Ein geordneter Arbeitsmarkt für die Arbeitsplätze zur 24-Stunden-Betreuung
Rechtswidrige, intransparente Verhältnisse hängen zum größten Teil mit der Trennung in Vermittlungsfunktion eines in Deutschland ansässigen Unternehmens und „Leistungsgeberfunktion“ eines Entsende-Unternehmens in einem EU-Mitgliedstaat zusammen. Die Doppelstruktur ist für den Privathaushalt als Vertragspartei undurchschaubar und nicht angreifbar; in der Pflegebedarfssituation hat er auch ganz andere Sorgen. Behördlich ist das System zweier Agenturen nicht kontrollierbar, zumal wegen der grenzüberschreitenden Vertragsbeziehungen.
Ein geordneter Arbeitsmarkt für häusliche Betreuungskräfte braucht einen Strukturwandel dergestalt, dass mittel- bis langfristig vor allem in Deutschland ansässige privatwirtschaftliche oder sozialwirtschaftliche Unternehmen Arbeitgeber der Betreuungskräfte und Vertragspartner der Privathaushalte werden. Das können bisherige Vermittlungsagenturen sein oder Zeitarbeitsfirmen, die längst nicht nur ausgebildete Pflegekräfte, sondern auch Hilfskräfte in Pflegeeinrichtungen verleihen. Vor allem sind ambulante Pflegedienste und Tagespflegeeinrichtungen sowie allgemein haushaltsbezogene Dienstleistungsanbieter16
als geeignete Arbeitgeber anzusehen. Sie können ihr Angebots- und Leistungsspektrum erweitern und werden bei der Organisation eines Betreuungs-Mix ohnehin Teil der Lösung sein. Aus dem großen Bestand der gegenwärtig mehr oder weniger rechtswidrig beschäftigten Betreuungskräfte könnten die Bewerbungen kommen.
Ein Strukturwandel ist die Voraussetzung dafür, dass Arbeits- und Vertragsbeziehungen nach deutschem Recht funktionieren, dass die Gesamtsituation für die Privathaushalte transparent ist, dass Behörden die Einhaltung der geltenden Rechtsvorschriften von der Arbeitserlaubnis bis zum Arbeitszeitschutz überwachen und dass Gerichte im Streitfall eingeschaltet werden können – alles in dem Maße, wie es für Arbeitsverhältnisse in anderen Bereichen des Arbeitsmarktes möglich ist.
Damit Profit- und Non-Profit-Unternehmen Live-In-Betreuung in ihr Angebots-Portfolio aufnehmen wollen und können, müssen die Rechtsvorschriften des Arbeits- und Sozialrechts so angepasst werden, dass eine rechtssichere Praxis für die besonderen Bedingungen dieser Tätigkeit möglich wird. Damit daraus ein Strukturwandel wird, muss das SGB XI die Kostenerstattung auch für Live-In-Betreuung regeln.
Arbeitsverhältnisse nach deutschem Recht
Für Arbeitsverträge und Arbeitsbedingungen müssen deutsche Rechtsvorschriften gelten. Im Arbeitsrecht und Arbeitsschutzrecht, insbesondere Arbeitszeitrecht, sowie bei der Arbeitnehmerüberlassung und bei den Sozialversicherungen müssen Regelungen so angepasst oder ergänzt werden, dass sie den Belangen sowohl der Betreuungskräfte als auch der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen Rechnung tragen. Im Gewerberecht wären Regeln orientiert an den Bestimmungen für Zeitarbeitsunternehmen zu diskutieren.
Das Entsendegesetz sowie Hürden im Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisrecht müssen überprüft werden. Für die zunehmende Zahl besonders ausbeutbarer Betreuungskräfte aus osteuropäischen Drittstaaten mit Arbeitsvisum und Bindung an polnische oder bulgarische Agenturen müssen legal funktionierende direkte Wege geschaffen werden.
Mit der Rahmung eines geordneten Arbeitsmarktes für Live-In-Betreuungskräfte kann dieser auch zur Chance für in Deutschland lebende Erwerbsuchende werden, etwa für Frauen, die nach langen eigenen Familienphasen an ihre frühere Erwerbstätigkeit nicht anknüpfen können oder wollen, aber evtl. mit Teilzeitvertrag im Betreuungs-Mix einzelne Tage der 24-/7-Betreuung abdecken würden.
Falscher Fokus Arbeitszeit? ein provokanter Standpunkt
Ehe ich die Provokation formuliere, gebe ich eine Erklärung ab:
Mein Standpunkt zu einem Betreuungsbedarf im grundsätzlichen Umfang 24/7 ist, dass ein Betreuungs-Mix zwingend erforderlich ist: mit einer Live-In-Betreuungskraft plus professionellen Angeboten und verantwortlicher Mitwirkung von Angehörigen oder anderen nahestehenden Personen. Der Mix muss organisiert, von allen Beteiligten gelebt und im Rahmen der sozialen Sicherung finanziell abgesichert werden.
Aber die Diskussion der Arbeitszeitfrage muss in Bewegung kommen. Die nach dem ArbZG geltende Rechtslage steht im Mittelpunkt des Streits über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer sozialstaatswürdigen Betreuung Pflegebedürftiger in ihrem Zuhause. Eine Lösung, die in der Breite auf die Realität anwendbar ist und gelebt werden kann, ist essentiell.
Die Arbeits- und Bereitschaftszeiten waren der Kern des gerichtlichen Verfahrens, das nach dem vielbeachteten Urteil zu 24-Stunden-Pflege und Mindestlohn des BAG 2021 mit dem Urteil des LAG Berlin-Brandenburg 2022 abgeschlossen wurde.17
Deutlich sichtbar sind die Mühen, den Sachverhalt dieses Einzelfalls in allen Facetten zu ermitteln und zu bewerten. Das Urteil hat die Klarstellung der bestehenden Rechtslage geliefert, sich aber etwaiger Hinweise auf gesellschaftliche Erfordernisse einer Weiterentwicklung des Arbeitszeitrechts enthalten.
Es muss nicht erläutert werden, warum bei der 24-Stunden-Betreuung weder Betreuungspersonen noch Privathaushalte bei Konflikten nicht einfach die Gerichte anrufen wollen bzw. können. Ich möchte vorhersagen, dass das Urteil für die Realität folgenlos bleiben wird. Dass es zu einer Klagewelle von ausgebeuteten Betreuerinnen führt, glaubt niemand. Vielleicht führt es im seltenen Einzelfall dazu, dass von der (Weiter)Beschäftigung einer osteuropäischen Betreuungsperson Abstand genommen wird. Die überwältigende Mehrzahl der Privathaushalte mit einer 24-Stunden-Betreuungsperson wird so weitermachen wie bisher und keine andere Möglichkeit sehen; ebenso die Betreuungskräfte. Voraussichtlich werden Jurist*innen im Auftrag von Vermittlungsagenturen sich verstärkt um Ideen oder Schlupflöcher für ein Selbstständigen-Modell bemühen, das dem Vorwurf der Scheinselbstständigkeit entgehen könnte.
Die moderne Arbeitswelt umfasst kapazitätsorientierte variable Arbeitszeiten, flexibles Arbeiten on demand, mobil zu jeder Zeit, Homeoffice mit schwieriger Grenzziehung, Projekt- und Plattformarbeit rund um die Uhr. Überall müssen realitätstaugliche Regeln geschaffen, Schutzvorschriften angepasst und mit neuen Mechanismen kontrolliert werden. Die rechtliche Rahmung muss ein Thema auf der politischen Agenda sein mit Blick auf die Betreuungskräfte im Privathaushalt nicht weniger als für die Beschäftigten von Plattformen wie Lieferando oder Gorillas.
Für die Diskussion sind mehrere Themen vorzuschlagen:
Ausnahmeregelung des § 18 Abs. 1 Satz 3 ArbZG unanwendbar?
Die Ausnahmeregelung war seinerzeit für SOS-Kinderdorfeltern geschaffen worden. Nach herrschender Rechtsauffassung ist sie auf Betreuungskräfte im Privathaushalt nicht anwendbar: Es liege keine häusliche Gemeinschaft vor; die Betreuungsarbeit erfolge nicht eigenverantwortlich. Für diese grundsätzlich ablehnende Beurteilung der Tätigkeit fehlt allerdings eine belastbare repräsentative Datengrundlage – zur Abwägung von Argumenten und um eine Lösung zu finden, müsste sie geschaffen werden.
Sollte die politische Debatte zu dem Lösungsansatz gelangen, in der Ausnahmeregelung des § 18 Abs. 1 Satz 3 ArbZG die „24-Stunden-Betreuung“ zu ergänzen, wäre die Änderung wegen des Bezugs zur EU-Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG gegenüber der Europäischen Kommission anzeigepflichtig. Sofern Bedenken der Kommission erwartet würden, könnte die Bundesregierung gemeinsam mit anderen Mitgliedstaaten18
auf eine entsprechende Änderung der Richtlinie hinwirken.
Bewertung als Arbeitszeit, Bereitschaftsdienst oder Rufbereitschaft?
Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft sind in der Realität je nach Berufsfeld und Institution höchst unterschiedlich, teilweise sind sie tariflich geregelt. Die Situation von „24-Stunden-Kräften“ sollte vergleichend mit anderen Berufsfeldern betrachtet und bewertet werden – z.B. mit Beschäftigten in betreuenden integrativen Wohnformen, die anders als in 8-Stunden-Schichten arbeiten.
Das Arbeitszeitrecht enthält eine generelle Regelung zur Einordnung von Bereitschaftszeit als Arbeitszeit hinsichtlich Vergütung oder Freizeitausgleich. Bei der Anerkennung als Arbeitszeit kommt es auf die Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls an: Wo ist die Bereitschaftszeit örtlich abzuleisten – nach freier Entscheidung, z.B. in der eigenen Wohnung bei vorgegebener Frist für die Arbeitsaufnahme, oder in der Dienststelle, z.B. im Bereitschaftsdienstzimmer der Klinik oder des Wohnheims oder auf der Feuerwache? Kommen Arbeitseinsätze häufig, regelmäßig oder ausnahmsweise vor? Wie stark sind die Einschränkungen und wie hoch ist die gesundheitliche Belastung?19
So differenziert sollte auch die Live-In-Betreuungsarbeit betrachtet werden. Typische Fallgestaltungen sind zu identifizieren, anhand derer der konkrete Einzelfall beurteilt werden kann. Danach zeigt sich, wie dem Ruhe- und Schutzbedürfnis wirksam Rechnung zu tragen ist. Solche Lösungsansätze zu entwickeln ist für die Arbeitsschutz-Expert*innen z.B. der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin nichts Neues: Auf den durch Gefährdungsbeurteilung ermittelten Grundlagen werden Arbeitszeitmodelle entwickelt, um den Arbeits- und Gesundheitsschutz zu gewährleisten.
Auch die Frage des Ausgleichszeitraums bei Arbeits- und Bereitschaftszeiten über den Rahmen der Regelarbeitszeiten hinaus ist eine Diskussion wert: Meist sind die Betreuungskräfte sechs bis 12 Wochen im Einsatz, d.h. deutlich kürzer als der vom ArbZG vorgegebene Ausgleichszeitraum von sechs Monaten. Im Allgemeinen wird von den 12 Monaten eines Jahres nur die Hälfte der Zeit gearbeitet und die andere Hälfte im Heimatland in der „Pause“ verbracht; Ausgleichszeiten könnten in diese Zeiten gelegt werden. Anspruch auf vergüteten Jahresurlaub entsteht nur für die Monate, in denen gearbeitet wird.
Untrennbarkeit einzelner Arbeitstätigkeiten der Betreuungskraft von ihrer eigenen Reproduktion?
In den Debatten fragt bisher niemand, wie eigentlich die Betreuungskraft am Leben bleibt, wenn sie rund um die Uhr arbeitet. Wie sind die Zeiten für diejenigen Aufgaben und Tätigkeiten zu bewerten, die zugleich mit der Versorgung der pflegebedürftigen Person die höchstpersönlichen Lebensbedürfnisse und die Reproduktion der Betreuungskraft mit abdecken? Einkaufen, Zubereitung von Mahlzeiten, Essenszeiten, Reinigen der Wohnung und Wäschewaschen dienen zu geringeren oder gleichen Teilen auch der Reproduktion der Betreuerin selbst; sie werden aber zu 100 % als Arbeitszeit gerechnet. Hier besteht Reflexionsbedarf, zumal wenn wir bedenken, wie ansonsten in Arbeitswelten mit geregelten Arbeitszeiten per Zeiterfassung Zeiten für private Einkäufe, Arzt- oder Behördengänge aus der vertraglich geschuldeten Arbeitszeit herausgerechnet werden. Private Telefonate, Mails und Internetnutzung während der Dienstzeit (wenngleich kaum kontrollierbar) können mit Geschäftsanweisungen untersagt oder beschränkt werden.
Mindestlohn, Zusatzleistungen und die Wohnsituation
Für die geleistete Arbeitszeit besteht in vollem Umfang Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn. Zur Versachlichung der Debatte um ausbeuterische Arbeitsbedingungen gehört die Erwähnung, dass kostenfreie Wohnmöglichkeit und kostenlose Mahlzeiten eine nicht unerhebliche finanzielle Entlastung darstellen. Die Betreuerin, die ein Nettogehalt von 1.000 bis 1.400 € ausgezahlt bekommt, was der Normalfall bei den bekannteren Vermittlungsagenturen ist, steht sich weit besser als die ungelernte Hilfskraft in der stationären Pflege mit Tariflohn 2.100 € brutto, die für Wohnung, Mahlzeiten und Kosten der Lebensführung vom Waschpulver bis zum WLAN selbst aufkommen muss.
„Live-In“-Betreuerinnen wohnen definitionsgemäß mit in der Wohnung oder im Haus der pflegebedürftigen Person. Eine osteuropäische Frau könnte für ihr intendiertes Wechselmodell zwischen mehrwöchigen oder -monatigen Arbeitsphasen und gleich langen „Pausen“ gar keine Wohnung finden und anmieten. In dieser Hinsicht ist die Wohnsituation im Privathaushalt tatsächlich für die Beschäftigungsform konstitutiv. Die Frage ist zu beantworten, ob von daher das im Privathaushalt bewohnte Zimmer pauschal als aufgezwungen gelten kann und es gerechtfertigt ist, die Wohnsituation als Beweis zu nehmen, dass rund um die Uhr Bereitschaftsdienst vorliegt.
6. Betreuungsarbeit als Gute Arbeit gestalten – was sind die Ansatzpunkte?
Wertschätzung und Selbstachtung fangen am Arbeitsplatz an
Die Pflegebedürftigen, ihre Angehörigen sowie alle professionell Beteiligten (z.B. ambulanter Pflegedienst) müssen eine respektvolle, sachbezogene Haltung gegenüber der Betreuungskraft entwickeln: als grundsätzliche Einstellung und als Verhalten in der Zusammenarbeit. Zugleich gilt es, Betreuungskräfte in ihrer Selbstachtung zu stärken und sie zu unterstützen, dass sie ein Selbstverständnis ihrer Betreuungsarbeit als qualifizierte, anforderungsreiche und verantwortungsvolle Erwerbsarbeit entwickeln und sie nicht nur als Chance zum Geldverdienen ansehen.
Guter Arbeitgeber – effektiver Arbeits- und Gesundheitsschutz
Das Unternehmen muss die Betreuungskraft auf ihre Tätigkeit vorbereiten, sie begleiten und unterstützen; dazu gehören Vorab-Informationen und Weiterbildung. Anforderungen und Regeln im Privathaushalt müssen geklärt sein, Notfall-Hilfe und Konfliktmanagement müssen vorgehalten werden.
Eine zentrale Aufgabe des Arbeitgebers ist es, das Wechselmodell zwischen Einsatzzeiten und Zeiten im Heimatland gemäß den Bedürfnissen der Betreuungskraft zu gewährleisten. Einhaltung zugesagter An- und Abreisedaten, rechtzeitige Klärung der Ersatzkraft für den Wechsel, nach Möglichkeit im Tandem-Modell, ist für alle Beteiligten entlastend.
Mit geteilter Verantwortung von Verleih- und von Entleihbetrieb für den Arbeits- und Gesundheitsschutz bei Zeitarbeitnehmer*innen beschäftigen sich die Arbeitsschutzpolitik, die Arbeitsschutzbehörden und die Zeitarbeitsbranche seit langem. Auch für Betreuungskräfte im Privathaushalt können funktionierende Schutzkonzepte entwickelt werden.
Bisher steht fast ausschließlich die Arbeitszeit im Fokus. Viel zu wenig wird die komplexe Stressbelastung auf der kommunikativen Ebene thematisiert: sprachliche Hürden, wechselseitige kulturelle Missverständnisse, mangelnder Informationsaustausch über Sachfragen des Betreuungsalltags, fehlende Kommunikation über die Beziehungsebene und die Erwartungen, Einsamkeit in arbeitsfreien Zeiten. Bei Stress, Ausbeutung und Diskriminierung spielt auch die entsendende Dienstleistungsagentur als dominante Vertragspartei der Betreuungskraft eine große Rolle; das wird bisher so gut wie gar nicht diskutiert.
Auch die physischen Arbeitsbelastungen und die häuslichen Verhältnisse als Arbeitsstätte müssen auf Ansatzpunkte für gesundheitsverträgliche (Um)Gestaltung hin geprüft werden, ebenso, ob die Qualität der Unterkunft für die Betreuungskraft als Erholungsraum in Ordnung ist.
Betreuungs-Mix und Case Management
Dieses Thema ist unstrittig und wird deshalb hier nicht ausführlich behandelt: Fallbezogen müssen neben der Arbeit der Betreuungskraft und den familiären Ressourcen weitere Hilfen wie ambulante Pflegedienste, Tagespflege,20
ehrenamtliche Besuchsdienste und vergütete Nachbarschaftshilfe eingebunden werden.
Unabhängige kommunale Stellen sollten zusammen mit den Betroffenen Betreuungspläne erstellen und die Umsetzung begleiten. Die Weiterentwicklung der regionalen Pflegestützpunkte, die auf der Grundlage von Verträgen zwischen Kommunen und Krankenkassen/Pflegekassen in Städten und Landkreisen eingerichtet sind, sollte geprüft werden. Notwendig ist der Ausbau an Personal mit Fachkompetenz sowie die Absicherung der fachlichen Unabhängigkeit.
7. Finanzielle Entlastung der Pflegebedürftigen durch sozialrechtliche Ansprüche
Im SGB XI sollte für häusliche Betreuung durch eine legal beschäftigte Betreuungskraft ein Erstattungsanspruch entsprechend dem Sachleistungsbetrag für ambulante und stationäre Pflege sowie dem Pflegegrad geschaffen werden. In die Berechnung sind Entlastungsbeitrag sowie Erstattungen für Verhinderungs-, Kurzzeit- und Tagespflege einzubeziehen. Voraussetzung muss, wie generell bei Sachleistungserstattungen, eine Anerkennung des Anbieters der „24-Stunden-Betreuungskräfte“ durch die Pflegekasse sein.
Für die verschiedenen Säulen des Pflegesystems, insbesondere auch für die stationären Heimplätze, sollten vollständige Berechnungen der Zusammensetzung und des Gesamtbetrags der Kosten vorgelegt werden. Zur Gesamtdebatte wird gehören, wer diese Kosten zu welchen Anteilen trägt.
Bei Pflegebedürftigkeit mit entsprechendem Pflegegrad können gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention auch Leistungen des SGB IX einen Part bei der Deckung der Kosten für häusliche Live-In-Betreuung und Betreuungs-Mix übernehmen.
Leistungen des SGB V für Gesundheits- und Krankheitspflege kommen ggfs. hinzu. Auch auf Leistungen der ambulanten geriatrischen Rehabilitation ist hinzuweisen.
8. Herausforderungen nicht wegschweigen, sondern die Lösung gestalten
Anscheinend will keine Organisation, keine Kommission, keine Politikerin die erste sein. Aber Wegschweigen oder Wegkritisieren wird die 24-Stunden-Betreuung nicht abschaffen. Notwendig ist die Debatte über alle Bausteine für gute Lösungen, die in der Breite der Realität funktionieren und allen Beteiligten, in ihrer überwältigenden Zahl Frauen, soweit wie möglich gerecht werden: den osteuropäischen Pflegekräften, den zu Pflegenden und den Angehörigen. Bei dieser spannungsreichen, aber auch spannenden gesellschaftlichen Aufgabe sollten wir bereit sein, auch festgefügte Positionen in Frage zu stellen, neu zu denken und neu zu diskutieren. Diese Herausforderung stellt sich für die Live-In-Betreuung wie für viele andere Bereiche der Arbeitswelt von heute und morgen.
- Diese Zahl wird aufgrund des gelebten Wechselmodells zwischen zwei bis drei Monaten Erwerbsarbeit in Deutschland und gleich langer „Pause“ im Heimatland geschätzt. ↩
- Verschiedene Beiträge hierzu im WSI-Schwerpunktheft 5/2022, Arbeit in der Langzeitpflege: Who cares? Zum österreichischen Selbstständigenmodell: https://minor-kontor.de/wp-content/uploads/2023/01/Minor_MB4.0_Stellungnahme_Selbststaendigkeit_haeusliche-Betreuung_22-01-16.pdf abgerufen am 01.02.2023; Sagmeister „Die rechtliche Regulierung der Personenbetreuung in Österreich: Das Hausbetreuungsgesetz“ in: STREIT 3/2022 S. 110 ff. ↩
- TOP 6.21 „Verbesserter Schutz der in Privathaushalten beschäftigten Betreuungskräfte (sog. Live-Ins)“; Protokoll abrufbar: https://www.asmk.saarland/media/a03lvh42/asmk_externes- protokoll_22122022.pdf abgerufen am 18.01.2023. ↩
- Siehe Barbara Bucher, 24-Stunden-Pflege braucht ein Gesetz, STREIT 1/2022, S. 25, Fn. 5. ↩
- Offensiv vertreten im Interview mit Bernhard Emunds, einem grundsätzlichen Kritiker der 24-Stunden-Pflege: „Der Staat muss pflegende Angehörige schützen“ Frankfurter Rundschau vom 13./14. August 2022. Differenzierter (Entscheidung von Angehörigen muss frei bleiben: „Right to care or not to care“) wird der Ansatz dargestellt in: Jonas Hagedorn / Eva Hänselmann / Bernhard Emunds / Marianne Heimbach-Steins (2022): Doppelte Personenzentrierung – Leitidee für den Leistungsmix in der häuslichen Versorgung, Policy Paper. Frankfurter Arbeitspapiere zur gesellschaftsethischen und sozialwissenschaftlichen Forschung Nr. 80, Frankfurt/M., Juli 2022. Man fragt sich beiläufig, warum anders als beim (befristeten) Elterngeld beim Pflegendengeld zur Vergütung der Care-Arbeit für alte Eltern oder ein Familienmitglied mit Behinderung der Mindestlohn für angemessen und ausreichend gehalten wird. Beim im Oktober 2022 gesetzlich festgelegten Mindestlohn von 12 € pro Stunde errechnet sich für 40-Stunden-Vollzeit-Angehörigenpflege ein Pflegendengeld von 1.440 €. Beim österreichische „Burgenland-Modell“ schließen pflegende Angehörige einen Arbeitsvertrag mit der Gebietskörperschaft ab, je nach Pflegegrad über 20, 30 oder 40 Stunden: https://www.pflegeserviceburgenland.at/infos/anstellungs-moeglichkeiten abgerufen am 31.01.2023. ↩
- Begrenzung auf maximal 3 Jahre, nur 6 Monate Vollzeit möglich, ansonsten Fortsetzung der Berufstätigkeit in Teilzeit, Absicherung der Berufsrückkehr https://www.wege-zur-pflege.de/familienpflegezeit abgerufen am 31.01.2023. So auch die Position des DGB. ↩
- https://edoc.rki.de/handle/176904/3137 abgerufen am 31.01.2023. ↩
- In den kontroversen Debatten besteht in dem Punkt Konsens, dass Gute Häusliche Pflege bei höherem Pflegebedarf einen Betreuungs-Mix erfordert, zu dessen Organisation Familien professionelle Unterstützung brauchen, etwa durch qualifiziert ausgebaute, in ihrer Unabhängigkeit abgesicherte Pflegestützpunkte auf regionaler Ebene. Solche Einrichtungen können informieren, beraten und die Umsetzung unterstützen. Rechtlich Verantwortung übernehmen, Fehlverhalten abstellen oder sanktionieren könnten sie nicht. ↩
- Siehe Fn. 6: Hagedorn et al. (2022) verwahren sich im Vorhinein gegen Vorwürfe einer Familialisierung der Pflege, sie lassen aber aufgrund ihrer Ablehnung von Live-In-Betreuung ausschließlich Angehörigenpflege als Möglichkeit zu, selbstbestimmt im eigenen Zuhause weiter zu leben. (ebenda, S. 12) ↩
- Diejenigen Pflegebedürftigen, deren Präferenz der Umzug und das Leben in der Gemeinschaft eines Pflegeheims ist, brauchen wir an dieser Stelle nur insoweit zu erwähnen, als für sie schon heute die Angebote vielfach unzureichend sind, auch ohne weiter steigende Zahlen. ↩
- https://www.iab-forum.de/wie-sich-eine-demografisch-bedingte -schrumpfung-des-arbeitsmarkts-noch-abwenden-laesst/ abgerufen am 13.02.2023. ↩
- Für die allgemeine Quellen-Lage: IAB-Infoplattform zur Beschäftigungssituation der 24-Stunden-Betreuungskräfte: https://iab.de/dossier/?id=262951 ↩
- https://minor-kontor.de/wp-content/uploads/2022/10/FE_WP_Tragende-Saeule-broeckelnder-Versorgungssicherheit-ohne-regulaeren-Untergrund_22-10-20.pdf abgerufen am 03.11.2022. https://www.vhbp.de/fileadmin/user_upload/210527_Datenblatt T%C3%A4tigkeitsprofilBihG.pdf abgerufen am 19.10.2022. ↩
- Emunds, B., Kocher, E., Habel, S., Pflug, R., Tschenker, T., von Deetzen, V. (2021): Gute Arbeit für Live-In-Care. Gestaltungsoptionen für Praxis und Politik, NBI-Positionen 2021/2; S. 2,7, 9 und 11. https://nbi.sankt-georgen.de/assets/documents/cillas--und_nbi-position-2021_2-live-in-care.pdf abgerufen am 17.12.2022. https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/detail/harte-arbeit-wenig-schutz abgerufen am 01.02.2023. ↩
- „Migrationsberatung 4.0 – Gute Arbeit in Deutschland“ https://minor-kontor.de/wp-content/uploads/2022/08/Minor_MB4.0_Endbericht_Stand_Juli_2022.pdf abgerufen am 01.02.2023. ↩
- Beispiele von gemeinnützigen Service- oder Dienstleistungsgesellschaften in Trägerschaft von Kommunen und gemeinnützigen Organisationen gibt nicht flächendeckend, aber in zunehmender Zahl. ↩
- Az. 21 Sa 1900/19 | LArbG Berlin-Brandenburg 21. Kammer (Folgeentscheidung nach Zurückverweisung durch BAG 24.06.2021 – 5 AZR 505/20) https://gesetze.berlin.de/bsbe/document/JURE220038775 abgerufen am 21.12.2022; Urteil des BAG 24.06.21 – Mindestlohn für 24-Stundenpflege; in STREIT 1/22, S. 20 ff.; ebenda Barbara Bucher (siehe Fn. 5), Sabine Rechmann, Buchbesprechung Barbara Bucher – Rechtliche Ausgestaltung der 24-h-Betreuung durch ausländische Pflegekräfte in deutschen Privathaushalten – Eine kritische Analyse. ↩
- Z.B. Österreich könnte angesichts ungelöster Rechtsfragen seines Selbstständigenmodells in der Praxis interessiert sein. ↩
- Für gesundheitlichen Stress macht es einen Unterschied, ob im nächtlichen Bereitschaftsdienst jeder Alarm in der Klinik zu einem Notfall oder bei der Feuerwehr zu einem Brand oder schweren Unfall rufen kann, ob eine Person mit hochgradiger Demenz sich jederzeit selbst gefährden kann oder ob eine pflegebedürftige Person manchmal Hilfe beim Toilettengang benötigt. ↩
- Tagespflege könnte bei flächendeckendem Ausbau eine Ergänzung sein, die den Pflegebedürftigen wie den Betreuungskräften und Angehörigen zugutekommt. Nachtpflege in einer Einrichtung als Ergänzung zur häuslichen Betreuung ist i.d.R. keine der pflegebedürftigen Person zumutbare Option. Der BARMER Pflegereport 2021 (S. 103 Tab. 2.13) nennt für 2019 bundesweit die Zahl von rd. 82.600 Tagespflegeplätzen und 300 Nachtpflegeplätzen. ↩