STREIT 1/2025
S. 28-31
OLG Frankfurt, Art. 6 Abs. 2 GG, §§ 1671 Abs.1 BGB, Art. 31 Abs. 2 Istanbul-Konvention
Alleinige Sorge wegen Gewalt gegen die Mutter, keine Pflicht zur Restkooperation
1. Vom Kindesvater verübte häusliche Gewalt, Nachstellungen und Bedrohungen gegenüber der Kindesmutter können es im Einzelfall im Hinblick auf Art. 31 GewSchÜ (Istanbul-Konvention) gebieten, das Sorgerecht für ein gemeinsames Kind auf die Mutter zur alleinigen Ausübung zu übertragen.
2. Von einem Kind miterlebte Gewalt gegen seine Mutter ist als eine spezielle Form der Kindesmisshandlung zu bewerten.
3. Der gewaltbetroffene Elternteil kann in der Regel auch nicht zu einer Restkooperation mit dem anderen Elternteil verpflichtet werden, so dass auch die Erteilung einer vom gewalttätigen Elternteil umfassend erteilten Sorgevollmacht eine Alleinsorge des betreuenden Eltern- teils nicht entbehrlich macht.
Beschluss des OLG Frankfurt vom 10.09.2024 – 6 UF 144/24
Aus den Gründen:
I.
Der Beteiligte zu 4. (im Folgenden Kindesvater) wen- det sich mit seiner Beschwerde gegen die Übertragung des Sorgerechts für die vorliegend betroffenen, derzeit neun- und fünfjährigen Kinder, auf die Beteiligte zu 5. (im Folgenden Kindesmutter) allein. Die Kinder leben seit der Trennung der Eltern im Oktober 2020 bei der Kindesmutter. Die Eltern sind mittlerweile geschieden.
Auf Antrag der Kindesmutter wurde gegen den Kindesvater mit Beschluss vom 25. Mai 2021 ein Näherungs- und Kontaktverbot für die Dauer von sechs Monaten ausgesprochen (Amtsgericht Dieburg, Az. ). Bei der im Rahmen dieses Verfahrens geschlossenen Vereinbarung verpflichtete sich der Kindesvater, sich der Kindesmutter bis zum 28. Dezember 2021 nicht zu nähern. […] In der Folgezeit gewährte die Kindesmutter dem Kindesvater selbst- ständig Umgang, unter anderem in ihrer Wohnung.
Am 30. November 2023 beantragte die Kindesmutter erneut den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach dem GewSchG (Amtsgericht Dieburg, Az. ). Zur Begründung trug sie vor, dass der Kindesvater sie bei einem Besuch in ihrer Wohnung am 25. November 2023 im Zuge einer Auseinandersetzung um ihr Handy im Beisein der beiden Kinder in das Kinderzimmer geschubst und zu ihr gesagt habe „Ich habe nur auf diesen Moment gewartet. Ich bringe dich um“. Dann habe er ihr ins Gesicht und in den Nackenbereich geschlagen. Er habe sich immer mehr in seine Wut hineingesteigert und sie zu Boden geworfen. Sie habe eine Hautabschürfung und eine Knie- und Rippenprellung erlitten, […]. Er habe sie nochmals mit dem Tod bedroht und geäußert „Ich bringe dich um, dann liegst du neben deinem Vater im Grab“. Dann habe er ihr Handy gegen die Wand geschmissen. Das ältere Kind sei aus der Wohnung gerannt, um Hilfe zu holen. Das jüngere Kind habe geschrien. […]
Mit Beschluss vom 30. November 2023 hat das Amtsgericht gegenüber dem Kindesvater ein Näherungs- und Kontaktverbot für die Dauer von sechs Monaten ausgesprochen. […]
Im hiesigen Verfahren hat die Kindesmutter am 05. Februar 2024 die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge beantragt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass eine Kommunikation zwischen den Beteiligten nicht mehr möglich sei. Sie hat auf die gewalttätigen Übergriffe verwiesen, die Gegenstand der einstweiligen Anordnungsverfahren waren. […]
Die Kindesmutter hat am 30. April 2024 die Verlängerung der einstweiligen Anordnung vom 30. November 2023 beantragt. Zur Begründung hat sie vorgetragen, dass sich der Kindesvater nicht an die Verbote aus dem Beschluss vom 30. November 2023 gehalten habe. Am 14. Dezember 2023 habe er ihr geschrieben „Ruf die Cops die brauchen ewig bis die aus Dieburg kommen. Ist das klar genug oder nicht. Du rufst mich in einer halben Stunde an, ansonsten kannst du was erleben. Ich bin auf dem Weg zu euch ich scheiß auf dein gsa ok.“ Mit GSA habe er den Gewaltschutzantrag gemeint. Am 30. Januar 2024 habe er dreimal versucht, sie anzurufen. Am 08. April 2024 habe er vor ihrer Haustür auf den gemeinsamen Sohn gewartet. Seit diesem Tag tauche er fast täglich in der Nähe des Hauses auf und suche die Kinder. Am 29. April 2024 habe er in der Nähe ihres Hauses im Auto gewartet. Er habe ihr zugerufen „Ich bin jeden Tag hier. Du und die Kinder könnt euch nicht vor mir verstecken!“. Mit Beschluss vom 15. Mai 2024 hat das Amtsgericht das Näherungs- und Kontaktverbot für die Dauer von sechs Monaten verlängert. […] Das Amtsgericht hat die Kinder und die Eltern im hiesigen Verfahren persönlich angehört und die Sache mit den Beteiligten erörtert. […] Er hat eingeräumt, dass die Vorwürfe der Kindesmutter zum Teil zutreffend seien und es Ende November Gewalt gegeben habe, bei der die Kindesmutter ihn aber auch angegriffen und verletzt habe. […]
Mit Beschluss vom 26. Juni 2024 hat das Amtsgericht der Kindesmutter die elterliche Sorge für die beiden Kinder zur alleinigen Ausübung übertragen.
II.
[…] Das Amtsgericht hat zu Recht die elterliche Sorge für die Kinder auf die Kindesmutter zur alleinigen Ausübung übertragen, weil die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern nicht nur vorübergehend getrennt leben und zu erwarten ist, dass die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge und die Übertragung auf die Kindesmutter dem Wohl der Kinder am besten entspricht (§ 1671 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nummer 2 BGB); eine auf Grund anderer Vorschriften abweichende Regelung war nicht erforderlich (§ 1671 Abs. 4 BGB).
[…] Die mit der Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge verbundene Beeinträchtigung des Elterngrundrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG desjenigen Elternteils, der von der Sorge ausgeschlossen wird, ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn es an den tatsächlichen Voraussetzungen für die Ausübung gemeinsamer elterlicher Sorge, insbesondere einer tragfähigen sozialen Beziehung zwischen den Eltern und einem Mindestmaß an Übereinstimmung zwischen ihnen, fehlt. Die gemeinsame elterliche Sorge setzt eine hinreichende Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft der Eltern voraus und verlangt insoweit ein Mindestmaß an sozialer Beziehung der Eltern zueinander (BGH, Beschluss vom 15. Juni 2016 XII ZB 419/15 Die, BGHZ 211, 22-37). Ist die Kommunikation der Eltern schwer und nachhaltig gestört, weil sie nicht regelmäßig dazu in der Lage sind, sich in der gebotenen Weise sachlich über die Belange des Kindes auszutauschen und auf diesem Wege zu einer gemeinsamen Entscheidung zu gelangen, dann ist insbesondere zu prüfen, ob hierdurch eine erhebliche Belastung des Kindes zu befürchten ist, wobei es unerheblich ist, ob einem Elternteil die Schuld hierfür zu geben ist (BGH, Beschluss vom 12.12.2007 – XII ZB 158/05 -, juris).
Diesen Maßstäben entspricht die amtsgerichtliche Entscheidung. Es ist nicht erkennbar, dass zwischen den Eltern eine tragfähige soziale Beziehung besteht oder mit Unterstützung durch professionelle Beratungsstellen hergestellt werden könnte. Die vom Kindesvater gegenüber der Kindesmutter ausgeübte Gewalt spricht gegen eine für die Ausübung der elterlichen Sorge zwingend erforderliche Kommunikation auf Augenhöhe. Unter Berücksichtigung der Geschehnisse seit der Trennung der Eltern, die wiederholt zu Schutzanordnungen nach dem GewSchG gegen den Kindesvater geführt haben, ist die von der Kindesmutter und dem ältesten Kind bekundete Angst vor dem Kindesvater objektiv nachvollziehbar. […] Unzweifelhaft ist der Kindesvater vorliegend nicht zu einem angemessenen und respektvollen Umgang mit der Kindesmutter in der Lage. Angesichts des Inhalts der ausgesprochenen Todesdrohungen ist es für die Kindesmutter unzumutbar, sich mit dem Kindesvater regelmäßig in sorgerechtlichen Fragen abzustimmen. Nicht zuletzt, weil der Kindesvater keinerlei Einsicht zeigt, sich offenkundig nicht mit der unstreitig statt- gefundenen Gewalt auseinandersetzt und es bereits zu einer Körperverletzung durch ihn gekommen ist, ist es überwiegend wahrscheinlich, dass es erneut zu einem gewalttätigen Übergriff des Kindesvaters zum Nachteil der Kindesmutter kommen würde, wenn die Eltern verpflichtet wären, die elterliche Sorge zu- künftig weiterhin gemeinsam auszuüben.
Gegen die Beibehaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge spricht auch der Wille der Kinder, der trotz ihres noch geringen Alters beachtlich ist. Denn jede gerichtliche Lösung eines Konflikts zwischen Eltern, die sich auf die Zukunft des Kindes auswirkt, muss das Kind in seiner Individualität als Grundrechtsträger berücksichtigen. Die Grundrechte des Kindes gebieten, bei der gerichtlichen Entscheidung über die elterliche Sorge den Kindeswillen zu berücksichtigen, soweit das mit seinem Wohl vereinbar ist, weil das Kind mit der Kundgabe seines Willens von seinem Recht zur Selbstbestimmung Gebrauch macht. Nur wenn die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsvollem Handeln berücksichtigt werden, kann das Ziel erreicht werden, das Kind darin zu unterstützen, zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu werden (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 7. Dezember 2017 – 1 BvR 1914/17 -, juris). Kinder erwerben bereits ab dem Alter von drei bis vier Jahren die kognitiven und psychischen Kompetenzen, die Voraussetzungen für die Herausbildung und Äußerung eines autonomen Willens sind (Dettenborn/Walter, Familienrechtspsychologie, 4. Aufl. 2022, S. 86 ff.). Vorliegend haben sich die beiden neun und fünf Jahre alten Kinder für die Übertragung der elterlichen Sor- ge auf die Kindesmutter und gegen unbegleitete Umgangskontakte mit dem Kindesvater ausgesprochen. Soweit der Kindesvater behauptet, die Kindesmutter habe die Kinder manipuliert, übersieht er, dass auch die Kinder die Konsequenzen der gegenüber der Kindesmutter ausgeübten Gewalt und ausgesprochenen Todesdrohungen im Sinne realen Negativerlebens zu tragen haben. Das älteste Kind hat davon berichtet, dass es kein normaler Streit der Eltern gewesen sei, der Kindesvater viele Beleidigungen ausgesprochen und das Handy der Kindesmutter kaputtgemacht habe. Weiter hat es berichtet, dass der Kindesvater ihm Angst gemacht habe, als er so geschrien habe. Gegenüber der Verfahrensbeiständin hat das ältere Kind zudem davon berichtet, dass der Kindesvater geschlagen habe, immer schreie und verbale und körperliche Gewalt auch gegen andere ausübe. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, dass die Schilderungen des Kindes nicht der Wahrheit entsprechen. Unstreitig haben die betroffenen Kinder zumindest den Über- griff im November 2023 miterlebt.
Zweifellos stellt miterlebte Gewalt eine spezielle Form der Kindesmisshandlung dar, nach der Definition der American Professional Society an Abuse of Children (APSAC, Brassard et al., 2019, S. 6) in Form der psychischen Misshandlung und hier der Unter- form des Terrorisierens: „[...] Terrorisieren beinhaltet folgendes: 6. Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen Angehörige, Haustiere oder geliebte Objekte des Kindes, einschließlich häuslicher/Partnerschaftsgewalt, durch das Kind beobachtbar; [...]“ (OLG Frankfurt, Beschluss vom 3. Juni 2022 – 1 UF 242/21 -, juris). Zudem beeinträchtigt das Mit- erleben häuslicher Gewalt das Sicherheitserleben des Kindes in seinen Beziehungen zu beiden Elternteilen und vor dem Kind ausgetragene massive Auseinandersetzungen stellen erhebliche Risikofaktoren für die kindliche Entwicklung dar (vgl. Kindler/Salzgeber/ Fichtner/Werner FamRZ 2004, 1241 (1244 f.)).
Mildere, gleich effektive Mittel als eine Übertragung der elterlichen Sorge auf die Kindesmutter stehen vorliegend nicht zur Verfügung. Da der Kindesvater keinerlei Anstrengungen unternommen hat, sein Verhalten zu reflektieren und zu einem gewaltfreien Umgang überzugehen, kann nur die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge sicherstellen, dass die Rechte und die Sicherheit der Kindesmutter und der Kinder bei der Ausübung des Sorgerechts nicht gefährdet werden (Art. 31 Abs. 2 des Übereinkommens zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11. Mai 2011 (sog. Istanbul-Konvention)).
Unter Berücksichtigung der hier vorliegenden Einzelfallumstände ist es der Kindesmutter auch nicht zuzumuten, Elterngespräche – weder gemeinsam mit dem Kindesvater noch in getrennter Form – zu führen, um den Elternkonflikt beizulegen und einen Weg der konstruktiven Entscheidungsfindung zu erarbeiten.
Soweit die Verfahrensbeiständin in erster Instanz angeregt hat, die durch die Gewalt belastete Elternebene durch eine Vollmachtserklärung zu entlasten, verkennt sie, dass es der Kindesmutter selbst im Falle der Abgabe einer umfassenden Vollmacht unter Berücksichtigung der Gewaltausbrüche und des impulsiven Auftretens des Kindesvaters, seiner fehlenden Reflexion und der wiederholt ausgesprochenen Todesdrohungen nicht zugemutet werden [kann], für etwa erforderliche Mitwirkungshandlungen mit ihm in Kontakt zu treten (so auch Rake NZFam 2022, 344 (347); zu ggf. erforderlichen Mitwirkungshandlungen bei Vollmachterteilung BGH, Beschluss vom 29. April 2020 – XII ZB 112/19 -, BGHZ 225, 184-198). Eine ausreichend verlässliche Handhabe zur Wahrung der Kindesbelange (vgl. insoweit OLG Bamberg, Beschluss vom 18. Oktober 2021 – 7 UF 185/21 -, juris) wäre damit auch im Falle einer Vollmachtserteilung nicht vorhanden. […]
Mitgeteilt von Dr. Thomas Meysen, SOCLES Heidelberg