STREIT 1/2025
S. 31-32
KG Berlin, § 1671 Abs. 1 BGB, Art. 31 Abs. 2 Istanbul-Konvention
Entzug der gemeinsamen elterlichen Sorge nach Gewalttaten des Vaters gegen die Mutter
Bei der Frage, ob die gemeinsame elterliche Sorge aufzuheben ist, sind die Wertungen von Art. 31 Abs. 2 Istanbul-Konvention zu berücksichtigen mit der Folge, dass die gemeinsame elterliche Sorge aufgehoben werden kann, wenn die Gewalttat so schwer war, dass vom Opfer nicht mehr erwartet werden kann, mit dem Gewalttäter in den Belangen des Kindes künftig weiter zu kooperieren.
(Aus den amtlichen Leitsätzen)
Beschluss des Kammergerichts Berlin vom 19.09.2024 – 16 UF 108/24
Aus den Gründen:
Der Vater wendet sich gegen den am 10.Juni 2024 erlassenen Beschluss des Familiengerichts, mit dem die kraft Sorgeerklärung bestehende gemeinsame Sorge der nicht verheirateten Eltern für den heute (fast) sieben Jahre alten J. sowie die beiden etwas über drei Jahre alten Zwillinge Z. und A. aufgehoben und auf die Mutter allein übertragen wurde. […]
2. In der Sache selbst erweist sich die Beschwerde des Vaters als unbegründet:
a) Dass der Vater sein Rechtsmittel nicht begründet hat, führt nicht dazu, dass die Beschwerde aus diesem Grunde unbegründet wäre. Denn die zur Prüfung der Begründetheit erforderlichen Ermittlungen des Senats werden von Amts wegen geführt (§ 26 FamFG). Die fehlende Begründung des Rechtsmittels führt jedoch dazu, dass der Prüfungsumfang des Senats sich notwendigerweise verengt: Mangels Vortrags besonderer Anliegen des Vaters ist es dem Senat nicht möglich, spezifischen, von ihm gerügten Punkten, von denen er meint, dass die angegriffene Entscheidung insoweit unzutreffend sei, gezielt nachzugehen (vgl. Thomas/Putzo-Seiler, ZPO [45. Aufl. 2024], § 67 FamFG Rn. 2), sondern muss sich notgedrungen auf eine allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle beschränken. Indessen lässt die Rechtmäßigkeitskontrolle der angegriffenen familiengerichtlichen Entscheidung keinen Fehler zum Nachteil des Vaters erkennen, so dass sein Rechtsmittel zurückzuweisen ist. […]
c) Rechtlicher Maßstab für die vom Familiengericht verfügte Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge ist § 1671 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB. […] Auf der Grundlage dieses Maßstabs hat das Familiengericht zu Recht die gemeinsame elterliche Sorge von Mutter und Vater für die drei Kinder aufgehoben und sie auf die Mutter allein übertragen: […].
(i) Der Vater hat gegenüber der Mutter wiederholt schwerste Gewalttaten begangen: […]
Durch die Gewaltübergriffe des Vaters ist die Mutter bis heute schwer traumatisiert. Sie hält sich zusammen mit den Kindern an einem anonymen, dem Senat bekannten Wohnort auf. Aufgrund ihres Zustandes war es ihr – trotz des Angebots, zu ihrem Schutz Gerichtswachtmeister hinzuzuziehen – nicht möglich, an der Anhörung vor dem Familiengericht teilzunehmen und den Anblick des Vaters zu ertragen; ihr wurde vom Familiengericht gestattet, der Anhörung per Videoschalte zu folgen (§ 33 Abs. 1 Satz 2 FamFG). Aufgrund ihres Zustandes ist sie derzeit nicht arbeitsfähig und befindet sich in kontinuierlicher therapeutischer Behandlung.
(ii) Bei dieser Sachlage ist die gemeinsame elterliche Sorge aufzuheben: […]
Eine weitere gemeinsame Sorge setzt eine tragfähige soziale Beziehung der Eltern voraus. Die Eltern müssen trotz Trennung weiterhin in der Lage sein, im Interesse ihrer Kinder miteinander zu kooperieren und zu kommunizieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. Dezember 2003 – 1 BvR 1140/03, FamRZ 2004, 354 [Rz. 13] sowie Grüneberg/Götz, BGB [83. Aufl. 2024], § 1671 Rn. 15). Das ist, nachdem die Mutter durch die gewalt- tätigen Übergriffe des Vaters schwer traumatisiert und – trotz des Angebots des Familiengerichts, Wachtmeister hinzuzuziehen – noch nicht einmal in der Lage ist, gemeinsam mit dem Vater an einer familiengerichtlichen Anhörung teilzunehmen, nicht mehr gewährleistet, so dass die gemeinsame Sorge aufzuheben ist.
Die weitere Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge ist der Mutter auch nicht mehr zumutbar: Bei der Frage, ob die gemeinsame elterliche Sorge aufzuheben ist, sind die Wertungen der „Istanbul-Konvention“ (= IK; Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt vom 11. Mai 2011, für die Bundesrepublik am 1. Februar 2018 in Kraft getreten; BGBl. 2018.II.142) zu berücksichtigen. Art. 31 Abs. 2 IK, demzufolge die Vertragsstaaten die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass die Ausübung des Besuchs- oder Sorgerechts nicht die Rechte und die Sicherheit des Opfers oder der Kinder gefährdet, gilt auch für die Auslegung von § 1671 Abs. 1 BGB: Von der Mutter als dem Opfer schwerer häuslicher Gewalt kann nicht erwartet werden, dass sie mit dem Vater weiter kooperiert (vgl. OLG Saarbrücken, Beschluss vom 17. April 2024 – 6 UF 22/24, FamRZ 2024, 1269 [Rz. 18, 24ff.]). Da eine weiter fortbestehende Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der gemeinsamen Sorge ist, von der Mutter in der konkreten Situation jedoch nicht erwartet werden kann, kommt nur ihre Aufhebung in Betracht (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 16. Mai 2024 – 11 UF 329/24, FamRZ 2024, 1369). […]
Mitgeteilt von Ri am KG Dr. Martin Menne