STREIT 1/2025

S. 32-36

EuGH, Art. 4 Abs. 3, Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95

Grundsatzentscheidung: Afghanischen Frauen ist Flüchtlingsschutz zu gewähren

1.  Die systematische Unterdrückung von Frauen durch das Taliban-Regime in Afghanistan ist bereits für sich genommen als eine „Verfolgung“ einzustufen, da durch deren kumulative Wirkung die durch Art. 1 der Charta gewährleistete Wahrung der Menschenwürde beeinträchtigt wird.
2.  Bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft für Afghaninnen muss nur das Geschlecht und die Staatsangehörigkeit herangezogen werden, spezifische Verfolgungshandlungen müssen den Antragstellerinnen nicht drohen.
(Leitsätze der Redaktion)

Urteil des EuGH vom 4. Oktober 2024 – verbundene Rechtssachen C-608/22 und C-609/22, AH und FN – gegen Österreich

Zum Sachverhalt:

Bei AH und FN handelt es sich um zwei Frauen mit afghanischer Staatsangehörigkeit, die in Österreich auf Anerkennung als Flüchtling geklagt haben, da ihnen lediglich subsidiärer Schutz zugesprochen worden war. Sie argumentierten, dass die Situation der Frauen in Afghanistan schon allein die Gewährung des Flüchtlingsstatus rechtfertige. Der österreichische Verwaltungsgerichtshof wandte sich mit der Frage an den EuGH, ob ein EU-Mitgliedstaat einer afghanischen Frau allein aufgrund ihres Geschlechts Asyl gewähren könne.

Aus den Gründen:

Zur ersten Frage
31 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass unter den Begriff „Verfolgungshandlung“ eine Kumulierung von Frauen diskriminierenden Maßnahmen fällt, die von einem „Akteur, von dem Verfolgung ausgeht“, im Sinne von Art. 6 dieser Richtlinie getroffen oder geduldet werden und insbesondere im Fehlen jedes rechtlichen Schutzes vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt sowie Zwangsverheiratungen, der Verpflichtung, ihren Körper vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen, der Beschränkung des Zugangs zu Gesundheitseinrichtungen und der Bewegungsfreiheit, dem Verbot oder der Beschränkung der Ausübung einer Erwerbstätigkeit, der Verwehrung des Zugangs zu Bildung, dem Verbot, Sport auszuüben, und der Verwehrung der Teilhabe am politischen Leben bestehen. […]
33 Die Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 sind nicht nur im Licht der allgemeinen Systematik und des Zwecks dieser Richtlinie, sondern auch unter Beachtung der Genfer Flüchtlingskonvention […] auszulegen. Zu diesen Verträgen gehören u. a. das Übereinkommen von Istanbul und das CEDAW (Urteile vom 16. Januar 2024, Intervyuirasht organ na DAB pri MS [Frauen als Opfer häuslicher Gewalt], C-621/21, EU:C:2024:47, Rn. 37 und 44 bis 47, sowie vom 11. Juni 2024, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Frauen, die sich mit dem Wert der Geschlechtergleichheit identifizieren], C-646/21, EU:C:2024:487, Rn. 36).
34 Wie die Art. 1 und 3 und Art. 4 Abs. 2 des Übereinkommens von Istanbul bestätigen, umfasst die Gleichstellung von Frauen und Männern u. a. das Recht jeder Frau, vor geschlechtsspezifischer Gewalt geschützt zu werden, das Recht, nicht zur Eheschließung gezwungen zu werden, sowie das Recht, sich für oder gegen einen Glauben zu entscheiden, ihre eigenen politischen Meinungen zu haben und zu äußern und ihre eigenen Lebensentscheidungen, insbesondere in den Bereichen Bildung, Berufswahl oder Tätigkeiten im öffentlichen Raum, frei zu treffen. Gleiches gilt für die Art. 3, 5, 7, 10 und 16 des CEDAW (Urteil vom 11. Juni 2024, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Frauen, die sich mit dem Wert der Geschlechtergleichheit identifizieren], C-646/21, EU:C:2024:487, Rn. 37).
35 Außerdem bestimmt Art. 60 Abs. 1 des Übereinkommens von Istanbul, dass Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts, die nach Art. 3 dieses Übereinkommens als eine Menschenrechtsverletzung und eine Form der Diskriminierung der Frau zu verstehen ist, als eine Form der Verfolgung im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention anzuerkennen ist (Urteil vom 11. Juni 2024, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Frauen, die sich mit dem Wert der Geschlechtergleichheit identifizieren], C-646/21, EU:C:2024:487, Rn. 55).
36 Die Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 muss zudem, wie deren 16. Erwägungsgrund zu entnehmen ist, die Achtung der in der Charta anerkannten Rechte gewährleisten, deren Anwendung die Richtlinie fördern soll, wobei Art. 21 Abs. 1 der Charta Diskriminierungen wegen des Geschlechts verbietet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Januar 2021, Bundesrepublik Deutschland [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C-507/19, EU:C:2021:3, Rn. 39; vom 9. November 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Begriff „ernsthafter Schaden“], C-125/22, EU:C:2023:843, Rn. 60, und vom 11. Juni 2024, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Frauen, die sich mit dem Wert der Geschlechtergleichheit identifizieren], C-646/21, EU:C:2024:487, Rn. 38).

37 Zweitens definiert Art. 9 der Richtlinie 2011/95 die Tatbestandsmerkmale, bei deren Vorliegen eine Handlung als Verfolgung im Sinne von Art. 1 Ab- schnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention gilt. […] 42 Im vorliegenden Fall besteht […] kein Zweifel daran, dass unabhängig von den Repressionen, denen afghanische Frauen ausgesetzt sind, wenn sie die vom Taliban-Regime erlassenen Vorschriften – die für sich genommen bereits eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 darstellen können – nicht befolgen, die vom vorlegenden Gericht angeführten diskriminierenden Maßnahmen sowohl aufgrund ihrer Intensität und ihrer kumulativen Wirkung als auch aufgrund der Folgen, die sie für die betroffene Frau haben, den erforderlichen Schweregrad erreichen.
43 Zum einen sind einige dieser Maßnahmen für sich genommen als „Verfolgung“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 einzustufen. Dies gilt insbesondere für die Zwangsverheiratung, die einer nach Art. 4 EMRK verbotenen Form der Sklaverei gleichzustellen ist, und für den fehlenden Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt, die Formen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung darstellen, die nach Art. 3 EMRK verboten sind.
44 Wenn man zum anderen annimmt, dass die diskriminierenden Maßnahmen gegen Frauen, die den Zugang zur Gesundheitsfürsorge, zum politischen Leben und zur Bildung sowie die Ausübung einer beruflichen oder sportlichen Tätigkeit einschränken, die Bewegungsfreiheit behindern oder die Freiheit, sich zu kleiden, beeinträchtigen, für sich genommen keine ausreichend schwerwiegende Verletzung eines Grundrechts im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 darstellen, beeinträchtigen diese Maßnahmen in ihrer Gesamtheit Frauen in einer Wei- se, dass sie den Schweregrad erreichen, der erforderlich ist, um eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 darzustellen. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 56 bis 58 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, führen diese Maßnahmen nämlich aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und ihrer bewussten und systematischen Anwendung dazu, dass afghanischen Frauen in flagranter Weise hartnäckig aus Gründen ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden. Diese Maßnahmen zeugen von der Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in ihrem Herkunftsland verwehrt wird.
45  Eine solche Auslegung wird durch Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 unterstützt, der eine beispielhafte Aufzählung von Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie enthält, zu denen u. a. nach den Buchst. a bis c und f dieses Absatzes physische oder psychische Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, gesetzliche, administrative, polizeiliche und/ oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung sowie Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen, gehören.

46  Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass unter den Begriff „Verfolgungshandlung“ eine Kumulierung von Frauen diskriminierenden Maßnahmen fällt, die von einem „Akteur, von dem Verfolgung ausgeht“, im Sinne von Art. 6 dieser Richtlinie getroffen oder geduldet werden und insbesondere im Fehlen jedes rechtlichen Schutzes vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt sowie Zwangsverheiratungen, der Verpflichtung, ihren Körper vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen, der Beschränkung des Zugangs zu Gesundheitseinrichtungen sowie der Bewegungsfreiheit, dem Verbot oder der Beschränkung der Ausübung einer Erwerbstätigkeit, der Verwehrung des Zugangs zu Bildung, dem Verbot, Sport auszuüben, und der Verwehrung der Teilhabe am politischen Leben bestehen, da diese Maßnahmen durch ihre kumulative Wirkung die durch Art. 1 der Charta gewährleistete Wahrung der Menschenwürde beeinträchtigen.

Zur zweiten Frage
47  Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegen- de Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er die zuständige nationale Behörde verpflichtet, bei der Feststellung, ob angesichts der im Herkunftsland einer Frau zum Zeitpunkt der Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz vorherrschenden Bedingungen diskriminierende Maßnahmen, denen sie in diesem Land ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie darstellen, im Rahmen der individuellen Prüfung dieses Antrags im Sinne von Art. 2 Buchst. H dieser Richtlinie andere Aspekte ihrer persönlichen Umstände als ihr Geschlecht oder ihre Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen.
48    Nach Art. 4 der Richtlinie 2011/95 ist jeder Antrag auf internationalen Schutz grundsätzlich individuell zu prüfen (vgl. u. a. Urteile vom 7. November 2013, X u. a., C-199/12 bis C-201/12, EU:C:2013:720, Rn. 73, vom 25. Januar 2018, F, C-473/16, EU:C:2018:36, Rn. 41, sowie vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Militärdienst und Asyl], C-238/19, EU:C:2020:945, Rn. 23).
49   Gemäß Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie muss die individuelle Prüfung der zuständigen nationalen Behörden, ob die von einem Antragsteller geäußerte Furcht vor Verfolgung begründet ist, im Einzel- fall mit Wachsamkeit und Vorsicht vorgenommen werden, wobei ausschließlich eine konkrete Prüfung der Tatsachen und Umstände zugrunde zu legen ist, um zu ermitteln, ob die festgestellten Tatsachen und Umstände eine solche Bedrohung darstellen, dass die betroffene Person in Anbetracht ihrer individuellen Lage begründete Furcht haben kann, tatsächlich Verfolgungshandlungen zu erleiden, sollte sie in ihr Herkunftsland zurückkehren müssen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Januar 2024, Intervyuirasht organna DAB pri MS [Frauen als Opfer häuslicher Gewalt], C-621/21, EU:C:2024:47, Rn. 60, und vom 11. Juni 2024, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Frauen, die sich mit dem Wert der Geschlechtergleichheit identifizieren], C-646/21, EU:C:2024:487, Rn. 59).
50    Diese Bestimmung zählt die Anhaltspunkte auf, die die zuständigen nationalen Behörden bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz berücksichtigen müssen. Dazu gehören die mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den An- trag auf internationalen Schutz relevant sind, die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter.
51    Art. 4 der Richtlinie 2011/95 gilt zwar für alle Anträge auf internationalen Schutz unabhängig von den Verfolgungsgründen, auf die diese Anträge gestützt werden, doch müssen die zuständigen Behör- den unter Wahrung der in der Charta garantierten Rechte die Art und Weise, in der sie die Aussagen und Unterlagen oder sonstigen Beweise prüfen, den besonderen Merkmalen der jeweiligen Kategorie von Anträgen auf internationalen Schutz anpassen (Ur- teile vom 2. Dezember 2014, A u. a., C-148/13 bis C-150/13, EU:C:2014:2406, Rn. 54, sowie vom 25. Januar 2018, F, C-473/16, EU:C:2018:36, Rn. 36).
52  Außerdem verpflichtet Art. 10 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 die Mitgliedstaaten, sicher- zustellen, dass zum einen Entscheidungen über An- träge auf internationalen Schutz nach einer angemessenen Prüfung getroffen werden, bei der genaue und aktuelle Informationen aus verschiedenen Quellen, wie etwa dem Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO), dem Nachfolger der Asylagentur der Europäischen Union (EUAA), und dem UNHCR sowie einschlägigen internationalen Menschenrechtsorganisationen, eingeholt werden, die Aufschluss geben über die allgemeine Lage in den Herkunftsstaaten der Antragsteller. Zum anderen verlangt diese Bestimmung, dass diese Informationen den für die Prüfung und Entscheidung dieser Anträge zuständigen Bediensteten zur Verfügung stehen (Urteil vom 11. Juni 2024, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Frauen, die sich mit dem Wert der Geschlechtergleichheit identifizieren], C-646/21, EU:C:2024:487, Rn. 60).

53    Zu diesem Zweck sollten, wie in Rn. 36 Ziff. x der die geschlechtsspezifische Verfolgung im Zusammenhang mit Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention betreffenden Richtlinien des UNHCR zum internationalen Schutz Nr. 1 ausgeführt wird, von den zuständigen nationalen Behörden Informationen über das Herkunftsland eingeholt wer- den, die für Anträge von Frauen von Bedeutung sind, z. B. über die Rechtsstellung der Frau, ihre politischen Rechte, ihre bürgerlichen und wirtschaftlichen Rechte, die kulturellen und sozialen Sitten und Gebräuche des Landes und die Folgen, wenn sich eine Frau darüber hinwegsetzt, das Vorhandensein grausamer traditioneller Praktiken, Häufigkeit und Formen von Gewalt gegen Frauen und wie Frauen davor geschützt werden, die für solche Gewalttäter vorgesehenen Strafen und welche Risiken eine Frau möglicherweise erwarten, wenn sie in ihr Land zurückkehrt, nachdem sie einen solchen Antrag gestellt hat […].
54   Aus dem Vorstehenden folgt, dass schon das Erfordernis einer individuellen Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz voraussetzt, dass die zu- ständigen nationalen Behörden die Art und Weise, in der sie die Tatsachen und Beweise prüfen, den Um- ständen und Besonderheiten des jeweiligen Antrags anpassen.
55   Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 3 der Richtlinie 2011/95 günstigere Normen erlassen oder beibehalten können, die z. B. die Lockerung der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorsehen können, sofern diese Normen die allgemeine Systematik oder die Ziele dieser Richtlinie nicht gefährden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova, C-652/16, EU:C:2018:801, Rn. 70 und 71, sowie vom 9. November 2021, Bundesrepublik Deutschland [Wahrung des Familienverbands], C-91/20, EU:C:2021:898, Rn. 39 und 40).
56    Im vorliegenden Fall kommt die EUAA in Punkt 3.15 ihres Berichts „Country Guidance: Afgha- nistan“ aus dem Januar 2023 zu dem Schluss, dass für afghanische Frauen und junge Mädchen angesichts der vom Taliban-Regime seit dem Jahr 2021 ergriffenen Maßnahmen im Allgemeinen eine begründete Furcht vor Verfolgungsmaßnahmen im Sinne von Art. 9 der Richtlinie 2011/95 bestehe. Auch weist das UNHCR im Kontext der vorliegenden Rechtssache in seiner am 25. Mai 2023 abgegebenen Erklärung zum Begriff der Verfolgung aufgrund einer Kumulierung von Maßnahmen im Hinblick auf die aktuelle Situation von Frauen und jungen Mädchen in Afghanistan darauf hin, dass bei afghanischen Frauen und jungen Mädchen wegen der von den Taliban allein aufgrund ihres Geschlechts gegen sie begangenen Verfolgungshandlungen die Vermutung einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bestehe.

57  Unter diesen Umständen können die zuständigen nationalen Behörden bei Anträgen auf internationalen Schutz, die von Frauen, die Staatsangehörige von Afghanistan sind, gestellt werden, davon ausgehen, dass es derzeit nicht erforderlich ist, bei der individuellen Prüfung der Situation einer Antragstellerin auf internationalen Schutz festzustellen, dass diese bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht, sofern die Umstände hinsichtlich ihrer individuellen Lage wie ihre Staatsangehörigkeit oder ihr Geschlecht erwiesen sind.
58   Somit ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er die zuständige nationale Behörde nicht verpflichtet, bei der Feststellung, ob angesichts der im Herkunftsland einer Frau zum Zeitpunkt der Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz vor- herrschenden Bedingungen diskriminierende Maß- nahmen, denen sie in diesem Land ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie darstellen, im Rahmen der individuellen Prüfung dieses Antrags im Sinne von Art. 2 Buchst. h dieser Richtlinie andere Aspekte ihrer persönlichen Umstände als ihr Geschlecht oder ihre Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen. […]

Anmerkung:

Der EuGH hat im Jahr 2024 einige für geflüchtete Frauen sehr positive Entscheidungen gefällt (siehe auch Urteil vom 16.01.2024 – C-621/21 – WS gegen Bulgarien; Urteil vom 11.06.2024 – C 646/21), was Hoffnung macht, dass dieser Kurs auch Eingang in die deutsche Rechtsprechung und Behördenpraxis findet.
Für afghanische Frauen gibt es nur wenige Möglichkeiten, ohne die gefährliche Fluchtroute auf sich zu nehmen, nach Europa zu gelangen. Die wenigen, die unter die Voraussetzungen von Aufnahmeprogrammen oder Familienzusammenführungen fallen, müssen mit jahrelangen Wartezeiten rechnen und währenddessen in Afghanistan oder Nachbarländern ausharren. So ist es zumindest ein Schritt in die richtige Richtung, dass sich für diejenigen, die es nach Europa geschafft haben, die Asylverfahrensdauer stark verkürzen dürfte und ihnen die Flüchtlingseigenschaft zugesprochen werden muss.
Für Afghaninnen, die in Deutschland lediglich ein Abschiebeverbot bzw. subsidiären Schutz erhalten haben, besteht nun die Möglichkeit, einen Asylfolgeantrag zu stellen, um als Flüchtling anerkannt zu wer- den. Das aktuelle EuGH-Urteil stellt eine „Änderung der Rechtslage“ und damit einen „neuen Umstand“ im Sinne des § 71 Abs. 1 AsylG i.V. m. § 52 VwVfG dar. Dies ist vor allem für diejenigen relevant, die ihre Kernfamilie im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland holen möchten, denn für anerkannte Flüchtlinge, die den Antrag rechtzeitig gestellt haben, gilt der privilegierte Familiennachzug nach § 29 Abs. 2 S. 2 AufenthG, so dass zumindest eine Lebensunterhaltssicherung nicht nachgewiesen werden muss.

Katharina Gruber