STREIT 1/2020

S. 26-27

Anmerkung zum Urteil des EuGH „Glawischnig-Piesczek“ vom 3. Oktober 2019 – C-18/18

Das Urteil ist ein Erfolg bei der Bekämpfung antifeministischer Hassrede. Ob es einen Fortschritt bei der Gestaltung von Meinungsfreiheit im internationalen Cyberspace darstellt, ist allerdings fraglich.

Der Fall ist unter zwei Gesichtspunkten exemplarisch. Die beschimpfte Frau war politisch aktiv. Und die beschimpfte Person war eine Frau. Es sind die politisch aktiven Personen in der Gesellschaft, die von konzertierten Hassrede-Aktionen im Netz gezielt getroffen werden sollen. Die organisierte technisch versierte anonyme strategische Verbreitung hetzerischer Inhalte macht Hassrede zu einem ernsthaften Demokratieproblem. Und es sind Frauen, die – dem Geschlechterverhältnis aus der realen Welt geschuldet – durch Hass-Postings im Netz weit verletzbarer sind als Männer.1 Von Hass-Postings im Netz betroffen sind Politikerinnen schlicht häufiger als Politiker.

Als Gerichtsfall ist der Fall selten. Denn dass Hassrede von der betroffenen Person unter Ausnutzung des gesamten Rechtsweges konsequent individuell zivilgerichtlich verfolgt wird, ist die Ausnahme. Meist scheitert die Durchsetzung individueller Persönlichkeitsrechte hier an anonymer Tatbegehung, fehlender finanzieller Stärke oder schlicht psychischer Kraft des Opfers.

Die österreichische Grünen-Politikerin war 2016 im Netz im Zusammenhang mit ihrer politischen Äußerung, eine Mindestsicherung für Flüchtlinge beibehalten zu wollen, mit den Ausdrücken „korrupter Trampel“, „miese Volksverräterin“ und als Mitglied einer „Faschistenpartei“ beschimpft worden. Im Gegensatz zur deutschen Grünen-Politikerin Künast, die sich gegen extrem sexuell konnotierte Beschimpfungen vor den deutschen Gerichten bisher nicht durchsetzen konnte,2 hat sie sich vor den österreichischen Gerichten gegen diese Beschimpfungen durchsetzen können. Das ist in diesem Einzelfall positiv, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die im Bereich Presse- und Meinungsäußerungsfreiheit eher restriktive österreichische Rechtsprechung vielleicht nicht in jeder Hinsicht zu begrüßen ist.3
Der EuGH hat mit diesem Fall einen Präzedenzfall zum sog. Haftungsprivileg der Host-Provider4 geschaffen. Er hat Facebook, das als Diensteanbieter von Host-Providing eigentlich keine Verantwortung für die Inhalte auf seinen Plattformen übernehmen muss, weit in die Pflicht für Inhalte genommen. Der EuGH geht über das „notice and take-down“-Prinzip, Beseitigen rechtswidriger Inhalte nur bei positiver Kenntnis, hinaus und verlangt eine aktive Überwachung der Plattform auf rechtswidrige Inhalte „in spezifischen Fällen“. Sobald ein Gericht die Rechtswidrigkeit einer Äußerung auf der Plattform festgestellt hat, ist ein solcher spezifischer Fall gegeben. Dann ist der Schutz der Host-Provider vor der inhaltlichen Überwachungspflicht hinfällig. Der EuGH hat auch ausdrücklich betont, dass die Verfolgung von Hassrede durch die Mitgliedsstaaten bzw. deren Gerichte effektiv zu gestalten ist.

Im Äußerungsrecht ist es dabei selbstverständlich, neben wortlautgleichen auch kerninhaltsgleiche rechtswidrige Äußerungen in die Unterlassungspflicht aufzunehmen. Wenn das Opfer nun eine gerichtliche Maßnahme gegen den Host-Provider erwirkt hat, auf dessen Plattform die Äußerungen gemacht wurden, gilt dies jetzt nicht nur bei allen Wiederholungen wortlautgleicher oder kerninhaltsgleicher Postings des Äußerungsurhebers, sondern auch bei allen wiederholenden Äußerungen Dritter, also des virtuellen Schwarms. Der EuGH begründet dies explizit mit der Gefährlichkeit des Internets. Die Argumentation des EuGH ist vor dem Hintergrund des epidemischen Ausmaßes von Hassrede im Netz nachvollziehbar. Insoweit ist es konsequent, dass der EuGH Löschung und Sperrung wortlautgleicher und kerninhaltsgleicher Postings auch von Dritten erfasst sein lässt.

Schwierig erscheint aber die technische Umsetzbarkeit des Urteils und damit die Realitätsnähe der Entscheidung. Wortlautgleiche Postings lassen sich mit technischen Mitteln finden, wenn auch Fehlerquoten, z.B. bei Zitaten mit entsprechender inhaltlicher Auseinandersetzung, zu berücksichtigen sein werden. Wenn der EuGH aber in einem Nebensatz ausführt, dass sich der Diensteanbieter technischer Mittel auch zur Auffindbarkeit der kerninhaltsgleichen Äußerungen bedienen soll, fragt sich, ob dem Gericht die Problematik der KI-basierten Auswertung in äußerungsrechtlichen Fragen bekannt ist.
Es gehört zu einer der schwierigsten technischen Herausforderungen, Meinungsäußerungen algorithmisch nach rechtlichen Kriterien zu filtern, zumal wenn die Wortlautgleichheit als technischer Anknüpfungspunkt nicht ausreicht. Nicht zuletzt deshalb formulieren in konzertierten Hassaktionen die Akteure ihre Inhalte immer wieder geringfügig um, um den algorithmenbasierten Sperrungen der Netzwerke zu entgehen. Es ist richtig, dass es äußerungsrechtlich nicht auf die formalen Worte sondern auf den Inhalt einer Aussage ankommt und dass Opfer rechtswidriger Äußerungen insoweit effektiven Rechtsschutz vor inhaltlichen Wiederholungen brauchen. Der EuGH will dabei die neue Überwachungsverpflichtung der Host-Provider auf nur die Informationen beschränken, die die in der gerichtlichen Verfügung genau bezeichneten „Einzelheiten“ enthalten. Das soll eine „autonome“ Überwachungsentscheidung unnötig machen. Es fragt sich aber, wo eine „autonome“ Beurteilung des Inhalts, von der der EuGH die Diensteanbieter ausdrücklich entbinden will, anfängt. Was die Netzwerke aus der nur technischen Nachforschungspflicht nach „spezifischen Einzelheiten“ in der Praxis machen werden, bleibt abzuwarten.

Die faktischen Probleme im digitalen Raum stellen sich aufgrund der großen inhaltlichen Verbreitung von Hass auch weitergehender. Dass ein Hass-Posting viral geht, meint eben nicht nur, dass Hassrede inhaltsgleich per Link geteilt wird. Vielmehr wird Hassrede in gewisser Weise mit „gelebt“, die Formulierungen werden verschärft, nur teilweise übernommen, sozusagen mit „eigenem Hass“ angereichert, und jedes Mitglied in diesem Schwarm fühlt sich gestärkt und ermutigt, selbst etwas beizutragen. Die Realität von Hassrede ist vielschichtig und auch mit dieser neuen Überwachungspflicht nicht bekämpfbar. Viel wird sich also nach diesem Urteil nicht ändern und es bleibt die medienpolitische Herausforderung.

Soweit der EuGH verlangt, dass eine Löschung weltweit zu erfolgen hat, ist dies vor dem Hintergrund effektiven Rechtsschutzes der Betroffenen ebenfalls konsequent. Schwierig umsetzbar ist aber der internationale Maßstab für Meinungsfreiheit bei den Maßnahmen, den der EuGH hier kurzerhand den nationalen Gerichten bzw. den Mitgliedsstaaten überantwortet. Entsprechend hat Facebook auf das Urteil kritisch reagiert, sieht die Gefahr, dass ein Land seine Auslegung von Meinungsfreiheit einem anderen Land aufzwingen und dass das Urteil Inhalteüberwachung im Internet bedeuten könne.
Hier ist zunächst im Blick zu behalten, dass Hassrede sich in vielen Fällen nicht als Inanspruchnahme von Meinungsfreiheit darstellt, sondern sich als bloße Schmähung einer Person sehr oft jenseits der Meinungsfreiheit befindet. Richtig ist aber, dass die Grenzen von Meinungsfreiheit von Land zu Land unterschiedlich gesehen werden. Wie insoweit verhindert werden soll, dass Host-Provider gerichtliche Entscheidungen zur Abwägung von Persönlichkeitsrecht und Meinungsfreiheit auf einem international „kleinsten gemeinsamen Nenner“ umsetzen müssen, bleibt unklar. Der EuGH hat in seinem Urteil nichts dazu gesagt, unter welchen Umständen nationale Gerichte weltweite Löschungen von Äußerungen anordnen können. Umso deutlicher ist die rechtspolitische Notwendigkeit, den virtuellen Raum hier mit klaren Regelungen zu versehen, die international abgestimmt sein müssen.

  1. Vertiefend dazu Stelkens „Digitale Gewalt und Persönlichkeitsrechtsverletzungen“ in STREIT 4/2016, S.147 ff.
  2. Beschluss des LG Berlin v. 9.9.2019, Az.:27 AR17/19.
  3. Kritisch insoweit zur österreichischen Rechtsprechung mit weiteren Nachweisen siehe Kettemann/Tiedecke „Welche Regeln, welches Recht?“ auf Verfassungsblog https://verfassungsblog.de/welche-regeln-welches-recht/.
  4. Als Host-Provider sind Internetdienstleister definiert, die keinen eigenen redaktionellen Inhalt anbieten (Content-Provider), aber auch nicht nur einen technischen Zugang bereitstellen (Access-Provider), sondern eine technische Plattform für das Posten von Inhalten Dritter bereitstellen. Sie sind insoweit haftungsprivilegiert, als dass sie für gepostete Inhalte auf ihren Plattformen grundsätzlich keine Haftung übernehmen müssen, sondern rechtswidrige Inhalte erst nach positiver Kenntnis beseitigen müssen.