STREIT 4/2022
S. 158-162
Beschimpft und verstummt – Hassrede als Gleichheitsproblem
Der Beitrag beruht auf der thematisch weiteren Publikation Völzmann Freiheit und Grenzen digitaler Kommunikation, MMR 2021, 619.
Hassrede als Folge der Digitalisierung aus gleichheitsrechtlicher Perspektive
Grundlage jeder freien, demokratischen Gesellschaft ist der offene Diskurs, an dem sich alle Bürger*innen frei und gleich beteiligen können.1
Während die Politik noch immer von ungleichen Beteiligungen geprägt ist und auch in den Medien nur langsam eine stärkere Beteiligung nichtmännlicher und nichtweißer Perspektiven erfolgt, verspricht die digitale Kommunikation über das Internet direkte Zugänge und Äußerungsmöglichkeiten für alle. Die Digitalisierung hat die Kommunikation verändert, insbesondere vereinfacht und beschleunigt. Dies gilt in besonderem Maße für die sozialen Medien, die den Zugang zum demokratischen Diskurs auf eine völlig neue, unmittelbare Art ermöglicht und damit gesellschaftliche Deliberation und demokratische Teilhabe gefördert haben. Insbesondere auch jene, die unter strukturellen Benachteiligungen leiden, finden Austauschmöglichkeiten, Vernetzung, Empowerment und Mobilisierungsanreize. Gerade auch aus feministischer Perspektive können die sich mit der Digitalisierung eröffnenden Möglichkeiten kaum hoch genug eingeschätzt werden.
Dennoch ist diese Errungenschaft zweischneidig. Zu den Schattenseiten der digitalen Kommunikationsmöglichkeiten gehört digitale Gewalt.2
Diese umfasst diverse einzelne Phänomene, denen gemein ist, dass sie mithilfe elektronischer Hilfsmittel und damit im digitalen Raum erfolgen: Hassrede (Hate Speech), Belästigung im Internet (Cyber Harassment), Rache Pornos (Revenge Porn) etc. Hassrede als besonders verbreitete Form digitaler Gewalt bezeichnet die bewusste Herabsetzung und Bedrohung bestimmter Menschen und Menschengruppen, insbesondere auf der Grundlage ihrer (angenommenen) Identität oder anderweitig bezogen auf Diskriminierungsmerkmale.3
Für die Betroffenen kann Hassrede erhebliche gesundheitliche (zum Teil auch wirtschaftliche) Auswirkungen haben.4
Zu den überindividuellen Folgen gehört, dass Menschen sich aus dem Diskurs zurückziehen,5
sich die Meinungsvielfalt verringert und sich die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realität verschiebt.6
Aus gleichheitsrechtlicher und insbesondere auch aus feministischer Perspektive ist dies besonders alarmierend, denn: Betroffen sind mitnichten alle Menschen gleichermaßen. Hassrede ist insbesondere auf Frauen7
und gesellschaftliche Minderheiten bezogen: Migrant*innen, Muslim*innen und Jüd*innen, nichtheterosexuelle und behinderte Menschen.8
Besonders betroffen sind antirassistische und (queer-)feministische Akteur*innen.9
Frauen sind zudem überproportional vulnerabel für Verstummungseffekte durch Hassrede.10
Strafrechtliche Erfassung von Hassrede und verfassungsrechtliche Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht
Hassrede lässt sich zumindest teilweise über die bestehenden Normen des StGB erfassen. Dazu gehören die Volksverhetzungs-, Bedrohungs- und insbesondere die Ehrschutzdelikte. Zentral im Rahmen der Anwendung der Ehrschutzvorschriften ist der Konflikt zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht. Zu den Maßstäben dieser Abwägung existiert eine ausdifferenzierte Rechtsprechung des BVerfG.11
Nur ausnahmsweise tritt die Meinungsfreiheit hinter den Ehrenschutz zurück, ohne dass es einer Einzelfallabwägung bedarf: bei herabsetzenden Äußerungen, die die Menschenwürde eines anderen antasten oder sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen.12
Dabei bezeichnet Schmähkritik Äußerungen ohne jeden nachvollziehbaren Bezug zu einer Sachkritik, mit denen grundlos aus verwerflichen Motiven wie Hass- oder Wutgefühlen heraus andere Menschen verunglimpft und verächtlich gemacht werden.13
Für eine Formalbeleidigung im verfassungsrechtlichen Sinne kommt es nicht auf den Sachbezug, sondern die spezifische Form der Äußerung an. Sie liegt vor, wenn eine kontextunabhängig gesellschaftlich absolut missbilligte und tabuisierte Begrifflichkeit gebraucht wird (etwa Fäkalsprache).14
In allen anderen Fällen spricht eine Vermutung zugunsten der Freiheit der Rede.15
Innerhalb der Abwägung ist die Meinungsfreiheit umso höher zu gewichten, je mehr es sich um einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage handelt.16
Sie wiegt umso weniger, je mehr es hiervon unabhängig lediglich um die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen geht.17
Dass Hassrede-Äußerungen die Voraussetzungen einer Schmähkritik, Formalbeleidigung oder Menschenwürdeverletzung erfüllen, ist möglich, aber nicht zwingend. Insbesondere wird gerade bei verbalen Angriffen gegenüber Politiker*innen oder Aktivist*innen häufig ein Sachbezug vorliegen. Dafür ist nach dem BVerfG bereits ausreichend, dass die Äußerung, auch wenn sie besonders krass, gravierend ehrverletzend und damit unsachlich ist, ihren Bezug noch in sachlichen Auseinandersetzungen hat.18
Zudem sind die Ausnahmen von der Abwägung eng zu handhabende Sonderfälle,19
sodass es häufig doch zu einer Abwägung Gegenüberstellung von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz kommen dürfte.
Forderung: Gleichheit neben Freiheit in der Grundrechtsabwägung bei Hassrede
Schon die Definition von Hassrede mit ihrem Bezug auf Diskriminierungsmerkmale regt die Einbeziehung von Art. 3 Abs. 2, 3 GG im Rahmen der Grundrechtsabwägung an. Das Gleichheitsrecht spielt im Rahmen der Meinungsfreiheitsdogmatik bisher jedoch so gut wie keine Rolle.20
Miteinander abgewogen werden die zwei Individualfreiheiten Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 GG) und Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG). Das „überindividuelle Interesse an einer offenen Kommunikation“, die Grundvoraussetzung für demokratische Prozesse ist,21
wird zwar auch gesehen, dient aber allein als Argument gegen Einschränkungen der Meinungsfreiheit und für eine möglichst freie Rede.22
Diese rein freiheitliche Betrachtung der möglichen Verletzung von Einzelnen und die Reduktion des überindividuellen Interesses an einer offenen Kommunikation auf die Freiheit vor staatlicher Einschränkung erschweren es, Hassrede zu erfassen.
Der Demokratiebezug ist bei den Kommunikationsgrundrechten besonders eng: Freie Kommunikation ist Bestandteil des Demokratieprinzips, ihre Behinderung schlägt sich unmittelbar in der verringerten Möglichkeit demokratischer Teilhabe nieder. Zwar können sich formal alle gleichermaßen an Diskursen in sozialen Medien beteiligen. Hassrede führt aber dazu, dass Menschen sich weniger frei beteiligen oder gar ganz aus diesem Diskurs zurückziehen.23
Dies betrifft nicht alle Menschen gleichermaßen, sondern bestimmte Menschen, insbesondere Frauen und gesellschaftliche Minderheiten, stärker als andere (siehe oben). In den Rechtswissenschaften wird dies bisher kaum aufgegriffen.
Eine Heranziehung des Gleichheitsrechts drängt sich aufgrund der betroffenen Merkmale jedoch geradezu auf. Die Diskriminierungsmerkmale des Art. 3 Abs. 3 GG betreffen ganz wesentlich die Identität, das Selbstverständnis von Menschen. Verbale Angriffe, die sich auf Diskriminierungsmerkmale beziehen, sind daher geeignet, die angegriffene Person in stärkerer Weise zu verletzen, als dies verbale Attacken ohne einen solchen Bezug vermögen. Hinzu kommt, dass das Grundgesetz mit den Diskriminierungsverboten auf gravierende Ausgrenzungen und Diskriminierungen in der Vergangenheit reagiert – deren Nachwirkungen auch heute zum Teil noch strukturell spürbar sind. Verbale Angriffe, die auf Diskriminierungsmerkmale bezogen sind, haben daher ein besonderes individuelles Kränkungspotential.24
Darüber hinaus bergen sie ein besonderes soziales Konfliktpotenzial. Eine an Diskriminierungsmerkmale anknüpfende Äußerung wirkt sich potenziell auf sehr viel mehr Personen aus als die ursprünglich attackierte Person: Andere Menschen, die Identitätsmerkmale mit der angegriffenen Person teilen oder sich mit ihr identifizieren, können den Angriff, wenn auch in abgeschwächter Form, auch als Angriff auf sich selbst empfinden und sich eingeschüchtert fühlen. Zudem wirken diskriminierungsmerkmalsbezogene Äußerungen auch auf alle anderen, die diese Äußerung wahrnehmen, und letztlich auf die gesamte Gesellschaft. Sie ermutigen Nachahmer*innen und drohen, mit zunehmender Häufigkeit die Grenze des Sagbaren zu verschieben und strukturelle Diskriminierung zu verfestigen.25
Es ist daher zentral, sogenannten Herabwürdigungsschutz nicht rein individuell zu verstehen.26
Aufgrund der Gefahr von Diskriminierungen und der drohenden Beeinträchtigungen des demokratischen Diskurses kann Art. 3 Abs. 3 GG eine staatliche Schutzpflicht entnommen werden, Vorsorge gegen die Eskalation verbaler Konflikte und die Verfestigung struktureller Diskriminierung (im Diskurs) zu treffen: Je nach Kontext und Medium kann daher eine Pflicht zum Schutz vor diskriminierungsmerkmalsbezogener Herabwürdigung bestehen.27
Umsetzung: Gleichheitsrechtliche Aspekte in der Grundrechtsabwägung bei Hassrede
Innerhalb der herkömmlichen Dogmatik lassen sich gleichheitsrechtliche Aspekte sowohl auf Seiten des Ehrschutzes als auch auf der Seite der Meinungsfreiheit einbringen.28
Die gleichheitsrechtliche Dimension von Menschenwürde- und Persönlichkeitsrechtsverletzungen
Angehörige strukturell benachteiligter Gruppen sind in spezifischer Weise von verbalen Angriffen betroffen. Zu ihrer persönlichkeitsrechtlichen Betroffenheit kommt eine gleichheitsrechtliche. Betroffenen wird die gleiche Anerkennung als Mensch gerade nicht nur individuell, sondern aufgrund ihrer (angenommenen) Zuordnung zu einer bestimmten Gruppe verwehrt.29 Diese strukturelle Dimension kann ein rein auf das Persönlichkeitsrecht und die Menschenwürde fokussierter Blick kaum wahrnehmen. Das BVerfG hat jüngst gezeigt, wie sich der Blick mittels gleichheitsrechtlicher Perspektive weiten lässt: In einem Beschluss zu rassistischer Beleidigung nahm es eine „menschenverachtende Diskriminierung“ an, weil das „Recht auf Anerkennung als Gleiche“ aus Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG verletzt werde.30
Die gleichheitsrechtliche Perspektive als Teil der Meinungsäußerungsfreiheit
Die gleichheitsrechtliche Perspektive lässt sich im Rahmen einer Abwägung aber auch auf der Seite der Meinungsäußerungsfreiheit einbringen. Die legitimatorischen Wurzeln der Meinungsfreiheit sind nicht allein individueller, sondern auch kollektiver, konkret: demokratischer Art.31
Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist nicht nur als „unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt“, sondern auch „[f]ür eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung […] schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist.“32
Anders als einzelne Individualbeleidigungen können sich identitätsbezogene Herabwürdigungen multiplizieren und damit sowohl bestimmte Identitäten als auch den Hass auf und Aggressionen gegen diese verfestigen. Damit droht der demokratische Diskurs „zu einem Forum der sozialen Nichtanerkennung und zum Katalysator sozialer Konflikte“ zu werden.33
Wenn dadurch die Kooperationsbereitschaft und die Offenheit für die Argumente der Gegenseite zersetzt werden und die Bereitschaft zur Teilnahme am Diskurs selbst beeinträchtigt wird oder bei einigen Menschen ganz verloren geht,34
ist die demokratische Funktion der Meinungsfreiheit selbst bedroht.35
Ihr geht dann eine zentrale Voraussetzung verloren: dass sich alle in gleicher Weise am Diskurs beteiligen können.36
Zwar haben alle formal die gleichen Rechte und Möglichkeiten. Ein rein formales Verständnis blendet jedoch die tatsächlichen Gegebenheiten aus und führt dazu, dass die Teilhabe am Diskurs eben nicht für alle gleich ist, sondern für einige Teile der Bevölkerung mit größeren Hürden und potenziellen Gefahren einhergeht. Um gesellschaftlich bestehende Ungleichheiten nicht zu verstärken, ist daher ein materiales Verständnis37
von gleicher Meinungsäußerungsfreiheit notwendig.38
Ein solches muss bestehende Hürden für eine tatsächlich gleiche Äußerungsfreiheit wahrnehmen und auf deren Abbau zielen.
In diese Richtung argumentiert auch das BVerfG in seiner jüngeren Rechtsprechung zum Beleidigungsrecht: In der Abwägung kann der Schutz der Persönlichkeitsrechte stärker wiegen, wenn von diesem Schutz letztlich die „Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft“ abhängt.39
Das BVerfG bezieht sich auf die Übernahme demokratischer Verantwortung durch Amtsträger*innen und Politiker*innen. Der Kerngehalt der Argumentation lässt sich jedoch übertragen auf die Bereitschaft aller Menschen zur Teilhabe am gesamten demokratischen Prozess, insbesondere am Meinungskampf.
Auch die Meinungsfreiheit selbst ist daher kein Argument für möglichst weite Offenheit für alles Sagbare, sondern gibt aufgrund ihrer demokratischen Funktion Anlass für Einschränkungen, um den freien, demokratischen Diskurs als solchen zu erhalten.40
Regulierungsinstrumente [sind], um einen gleichberechtigten Wettbewerb im freien Markt der Meinungen gewährleisten zu können“ (bzgl. des Schutzes von „Ausländern und religiösen Gruppen“).]
Folgerungen
De lege lata
In die Abwägung, ob eine Meinungsäußerung zulässig ist oder nicht, ist auch eine gleichheitsrechtliche Perspektive einzubeziehen. Dabei muss die Meinungsfreiheit umso eher zurücktreten, je stärker die Äußerung in abwertender Weise auf ein Diskriminierungsmerkmal aus Art. 3 Abs. 3 GG bezogen ist. Bei einer Herabwürdigung nach den Merkmalen des Art. 3 Abs. 3 GG dürfte in der Regel die Diffamierung der durch das Identitätsmerkmal verbundenen Menschen im Vordergrund stehen.41
Die Meinungsfreiheit verliert zudem umso stärker an Gewicht, je stärker zu befürchten ist, dass die Äußerung abschreckende Wirkung auch für weitere Rezipient*innen entfaltet und damit den demokratischen Diskurs insgesamt beeinträchtigt.42
Letzteres dürfte insbesondere dann drohen, wenn es zu identitätsbezogenen Herabwürdigungen in den sozialen Medien kommt.43
Durch die besonderen Eigenarten und Wirkmechanismen digitaler Kommunikation und der damit einhergehenden besonderen Gefährdungen des demokratischen Diskursraums muss bei dort erfolgenden identitätsbezogenen, also etwa rassistischen oder sexistischen Angriffen eher die Meinungsfreiheit zurücktreten als im Rahmen klassischer Kommunikation (präsent oder vermittelt über traditionelle Medien).44
Ziel ist dabei nicht der Schutz vor harscher, polemischer, zugespitzter Diskussion – die fraglos auch geeignet sein kann, bestimmte Menschen aus dem Diskurs zu verdrängen. Anzuerkennen ist vielmehr, dass manche Menschen häufiger und stärker als andere, nämlich in besonderer – diskriminierungsmerkmalsbezogener – Weise, durch verbale Angriffe getroffen werden. Mehr als allein des Blickes auf reine Persönlichkeitsrechtsverletzungen bedarf es eines Verständnisses, das die Eingebundenheit von Individuen in soziale Strukturen ernst nimmt. Dazu gehört die Einbeziehung der Diskriminierungsverbote in Art. 3 Abs. 3 S. 1, 2 GG und die Auswirkungen auf den demokratischen Diskurs als solchen.
Die Regulierung des Meinungsdiskurses ist dann zum einen Gefahrenabwehr zum Schutz von Individuen, zugleich aber auch Risikovorsorge für die öffentliche Meinungsbildung.45
Das bürgerschaftliche Engagement im freien politischen Diskurs mag in der freiheitlichen Ordnung des Grundgesetzes tatsächlich die wirksamste Waffe im Kampf gegen menschenverachtende Ideologien sein.46
Auch diese Waffe ist jedoch zu sichern und zu pflegen. Das alleinige Vertrauen auf die Selbstregulierungskräfte der Zivilgesellschaft reicht dann nicht mehr aus, wenn der freie Diskurs zu Beschränkungen und Ausschlüssen insbesondere von Angehörigen bestimmter Gruppen führt, Freiheit also nicht mehr gleiche Freiheit ist. Den Staat treffen Schutzpflichten, den Meinungsdiskurs als solchen zu erhalten. Dazu gehört auch, diskriminierungsmerkmalsbezogene Herabwürdigung zu verhindern. Der Staat nimmt damit nicht (inhaltlich) Einfluss auf den Diskurs. Er sorgt vielmehr dafür, diesen selbst zu erhalten und die grundsätzlich gleiche Möglichkeit der Teilnahme am Diskurs zu gewährleisten.
Der Gehalt von Art. 3 Abs. 2, 3 GG ist im Rahmen der mittelbaren Drittwirkung über die Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffe der bestehenden zivil- und strafrechtlichen Normen im Rahmen der Abwägung einzubeziehen. Dies gilt insbesondere für die Normen des NetzDG sowie die Ehrverletzungs- und Volksverhetzungstatbestände des StGB – und dort vor allem den sehr unbestimmten Tatbestand der Beleidigung. Eine Beleidigung ist dann etwa umso eher anzunehmen, wenn sie einen Bezug zu Diskriminierungsmerkmalen aufweist.47
De lege ferenda
Aus gleichheitsrechtlicher Perspektive fehlt es – auch nach der jüngsten Gesetzesinitiative48
– an einer Anerkennung der besonderen Wirkung von Straftaten, insbesondere Beleidigungen und Bedrohungen, mit Bezug zu Diskriminierungsmerkmalen – und zwar hinsichtlich aller Merkmale des Art. 3 Abs. 3 GG. Denkbar wäre etwa die Einführung des Tatbestands der qualifizierten Beleidigung, der diese Merkmale berücksichtigt. Zudem könnte der Tatbestand der Volksverhetzung, § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB ausgedehnt werden auf die Anknüpfung an sämtliche grundgesetzliche Diskriminierungsmerkmale, insbesondere auch auf das Merkmal Geschlecht.49
Neben dem strafrechtlichen Weg der Rechtsverfolgung könnte ein Gesetz aktiviert werde, das explizit auf die Verhinderung und Beseitigung von Benachteiligungen zielt, die an Diskriminierungsmerkmale anknüpfen: das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG).50
Dessen Anwendungsbereich müsste dafür erweitert werden auf den Zugang zum digitalen öffentlichen Raum und den dort angebotenen Gütern und Dienstleistungen. Digitale Gewalt wäre dann eine Form der Beeinträchtigung dieses Zugangs.51
Noch mehr gestärkt würde die Position Betroffener – und würden diese zugleich stärker entlastet – durch die Einführung eines Verbandsklagerechts im AGG.
Fazit
Auch im Rahmen von Kommunikation gilt: Freiheit und Gleichheit gehören zusammen; erstere gibt es nicht ohne zweitere. Die Meinungsfreiheit wird ihrer demokratischen Bedeutung nicht gerecht, wenn die Grundbedingungen funktionierender öffentlicher Meinungsbildung aus dem Blick geraten. Es ist daher essentiell, die Grenzen der Meinungsfreiheit nicht allein anhand rein persönlichkeitsrechtlicher Perspektiven zu bestimmen. Vielmehr gilt es, zusätzlich eine gleichheitsrechtliche Perspektive zu entwickeln, die auch anerkennt, in welcher Form Individuen in soziale Strukturen eingebunden sind. Nur so wird es möglich, nicht allein Einzelne zu schützen, sondern auch den freien und gleichen Diskus als solchen.
- So bereits Kriele Ehrenschutz und Meinungsfreiheit, NJW 1994, 1897; jüngst: Bredler/Markard Grundrechtsdogmatik der Beleidigungsdelikte im digitalen Raum, JZ 2021, 864, 868, passim. ↩
- Stelkens Digitale Gewalt und Persönlichkeitsrechtsverletzungen, STREIT 4/2016, 147; Stelkens Smarte Gewalt – Digitalisierung häuslicher Gewalt im Internet of Things STREIT 1/2019, 3; Ballon Schutz vor digitaler Gewalt – Bestandsaufnahme und Ausblick, STREIT 4/2021, 147. ↩
- In Anlehnung an Committee of Ministers (Council of Europe) Recommendation No. R (97) 20, Scope. ↩
- Geschke/Klaßen/Quent/Richter Hass im Netz, eine bundesweite repräsentative Untersuchung, 2019, S. 27 https://www.idz-jena.de/fileadmin/user_upload/_Hass_im_Netz_-_Der_schleichende_Angriff.pdf (28.09.2022). ↩
- Frey Geschlecht und Gewalt im digitalen Raum, 2020. Expertise für den Dritten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung, abrufbar unter https://www.dritter-gleichstellungsbericht.de/kontext/controllers/document.php/115.9/9/339224.pdf (28.09.2022). ↩
- Geschke/Klaßen/Quent/Richter (Fn. 3), S. 28 f. ↩
- Europäisches Parlament Cyber violence and hate speech online against women, 2018, S. 31 f.; Deutscher Juristinnenbund e.V. Das Netz als antifeministische Radikalisierungsmaschine – zur Bedeutung von Frauenhass als Element extremistischer Strömungen und der radikalisierenden Wirkung des Internets, Policy Paper vom 09.09.2021, https://www.djb.de/fileadmin/user_upload/st21-18_Antifeminismus_im_Netz.pdf (28.09.2022). ↩
- Geschke/Klaßen/Quent/Richter (Fn. 3), S. 20, 24. ↩
- Illger Hass-Kampagnen und Silencing im Netz, in: Lang/Peters (Hg.): Antifeminismus in Bewegung – Aktuelle Debatten um Geschlecht und sexuelle Vielfalt, 2018, S. 253, 254 f. ↩
- Nadim/Fladmoe Social Science Computer Review 2019, 11 (quantitative Studie aus Norwegen); ebenfalls zur besonderen Betroffenheit von Frauen durch den Silencing Effect Frey (Fn. 4). ↩
- Grundlegend: BVerfGE 7, 198 (208 ff.). ↩
- BVerfGE 82, 43, 51; 90, 241, 248; 93, 266, 294; zuletzt bekräftigt in BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020, Az. 1 BvR 362/18, Rn. 16 ff. ↩
- BVerfG, Beschlüsse vom 19.05.2020, Az. 1 BvR 2397/19, Rn. 19 und Az. 1 BvR 362/18, Rn. 18 (ausdrückliche Erweiterung über den typischen Fall der Privatfehde auf – häufig anonyme – Beschimpfungen im Internet). ↩
- BVerfG, Beschluss vom 19.05.2020, Az. 1 BvR 2397/19, Rn. 21. ↩
- BVerfGE 7, 198 (208). ↩
- BVerfGE 7, 198 (212); 61, 1 (11); 93, 266 (294). ↩
- BVerfG, Beschluss vom 19.5.2020, Az. 1 BvR 2459/19, Rn. 19 mit Verweis auf BVerfGE 7, 198 (212); 93, 266 (294). ↩
- BVerfG, Beschluss vom 19.05.2020, Az. 1 BvR 2397/19, Rn. 20: „letztlich als (überschießendes) Mittel zum Zweck der Kritik eines Sachverhalts“. ↩
- BVerfG NJW 2016, 2870 Rn. 17; NJW 2017, 1460 Rn. 14; BVerfG, Beschluss vom 19.05.2020, Az. 1 BvR 2397/19, Rn. 20. ↩
- Bredler/Markard (Fn. 1), S. 866, sprechen treffend von „Leerstelle“; im Phänomen des „silencing“ allerdings schon früh ein Gleichheitsproblem sehend Baer Dignity, Liberty, Equality, Toronto L. J. 2009, 417, 450 f. ↩
- Grimm Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1995, 1697 (1703). ↩
- BVerfGE 43, 130 (136). ↩
- Geschke/Klaßen/Quent/Richter (Fn. 3), S. 28: fast die Hälfte der Befragten gab an, sich selbst wegen Hassrede seltener an Diskussionen im Netz zu beteiligen; ähnlich die Studie des Marktforschungsinstituts „Forschungsgruppe g/d/p“ Hate Speech Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage, 2020 https://www.jura.uni-leipzig.de/fileadmin/Fakult%C3%A4t_Juristen/Professuren/Hoven/gdp_Ergebnisse_HateSpeech_Kurzbericht.pdf (9.8.2022). ↩
- Magen Kontexte der Demokratie: Parteien – Medien – Sozialstrukturen, VVDStRL 2018, 67 (88). ↩
- So schon Stelkens Digitale Gewalt und Persönlichkeitsrechtsverletzungen, (Fn.2). ↩
- So auch Magen (Fn. 24) S. 92 ff. ↩
- So für die Merkmale Religion und Ethnie auch Magen (Fn. 24) S. 91. ↩
- Ebenso Markard/Bredler Jeder schweigt für sich allein: Silencing effect und die gleichheitsrechtliche Leerstelle in der Beleidigungsdogmatik, VerfBlog 20.04.2021, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/alleine-schweigen/ (28.09.2022) und Bredler/Markard (Fn. 1) S. 869 ff. ↩
- So auch Bredler/Markard, (Fn. 1) S. 869 ff. ↩
- BVerfG, Beschl. v. 02.11.2020, Az. 1 BvR 2727/19. ↩
- Grimm (Fn. 21) S. 1698. ↩
- BVerfGE 7, 198 (208). ↩
- Magen (Fn. 24) S. 85. ↩
- Zum Abdrängen von Angehörigen bestimmter Gruppen aus digitalen Räumen durch Hasskommunikation Lembke, Kollektive Rechtsmobilisierung gegen digitale Gewalt, 2017; Lüdemann Grundrechtliche Vorgaben für die Löschung von Beiträgen in sozialen Netzwerken, MMR 2019, 279 (283). ↩
- Treffend Kübler Rassenhetze und Meinungsfreiheit, AöR 2000, 109 (126): „Sprache verliert ihre Legitimation, wo sie dazu verwendet wird, Sprachlosigkeit zu bewirken“. ↩
- BVerfGE 7, 198 (219): „Erst im Widerstreit der in gleicher Freiheit vorgetragenen Auffassungen kommt die öffentliche Meinung zustande“ (Hervorhebung der Autorin). ↩
- Zu einem materialen Gleichheitsverständnis Baer/Markard, in von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Auflage 2018, Art. 3 Abs. 2, 3 Rn. 366, 418 ff.; grundlegend Sacksofsky Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl., 1996, S. 306 ff. ↩
- Ebenso Bredler/Markard (Fn. 1) S. 869. ↩
- BVerfGE 152, 152 Rn. 108 – Recht auf Vergessen I; BVerfG, Beschluss vom 19.05.2020, Az. 1 BvR 2397/19, Rn. 32. ↩
- Ähnlich Petersen Der Schutz von Minderheiten als Schranke der Meinungsäußerungsfreiheit, AVR 2017, 98, 108, nach dem „Beschränkungen der Meinungsfreiheit [… ↩
- So auch Magen (Fn. 24) S. 93; in diese Richtung, aber nur auf Kollektivbeleidigungen bezogen, auch BVerfGE 93, 266, 304. ↩
- So ebenfalls Bredler/Markard (Fn. 1) S. 868 f. ↩
- So wohl auch Eifert, Regulierung von Dynamik und dynamische Regulierung als netzwerkgerechtes Recht, in: Hermstrüwer/Lüdemann (Hg.), Der Schutz der Meinungsbildung im digitalen Zeitalter, 2021, S. 189, 197, der die Art der Einschüchterung als spezifischen Zustand der Kommunikation sieht und spezifische Grenzen für besonders vulnerable Gruppen für möglich hält. ↩
- Zu diesem Aspekt: Völzmann Freiheit und Grenzen digitaler Kommunikation, MMR 2021, 619, 620 f. ↩
- Magen (Fn. 24) S. 99. ↩
- Warg Meinungsfreiheit zwischen Zensur und Selbstzensur, DÖV 2018, 473 (481), mit Verweis auf BVerfGE 124, 300 (321). ↩
- Ähnlich will Magen bei Kollektivbeleidigungen unterscheiden zwischen qualifizierten Ehrverletzungen nach Diskriminierungsmerkmalen und sonstigen Ehrverletzungen unter Sammelbezeichnungen, Magen (Fn. 24) S. 93. ↩
- Mit dem Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität soll der zunehmenden Verrohung der Kommunikation im Netz begegnet werden. Auch dort wird der Blick über das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Betroffenen hinaus geweitet: Das Gesetz zielt nach der Gesetzesbegründung insbesondere auch darauf, den politischen Diskurs in der demokratischen und pluralistischen Gesellschaftsordnung vor Angriffen und Infragestellungen zu schützen (BT-Drs. 19/17741, S. 37, 39, 45). Als strafverschärfende Motive in § 46 StGB werden ausdrücklich auch antisemitische Motive aufgenommen; zudem wird der Bedrohungstatbestand erweitert und erfasst nun auch geschlechtsspezifische Bedrohungen (die Bedrohung mit Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, § 241 Abs. 1 StGB). Ausführlich zum strafrechtlichen Schutz vor Hassrede nach den jüngsten Reformen Steinl/Schemmel Der strafrechtliche Schutz vor Hassrede im Internet, GA 2021, 86; Hoven/Witting Das Beleidigungsunrecht im digitalen Zeitalter, NJW 2021, 2397 und unter Einbeziehung auch der zivilrechtlichen Perspektive Ballon (Fn. 2). ↩
- Erstmals Frauen als Teile der Bevölkerung i.S.d. § 130 Abs. 2 Nr. 1a StGB einordnend: OLG Köln, Urteil vom 09.06.2020 – 1 RVs 77/20, STREIT 4/2020, S. 172. ↩
- Lembke Ein antidiskriminierungsrechtlicher Ansatz für Maßnahmen gegen Cyber Harassment, KJ 2016, 385. ↩
- Lembke (Fn. 34) S. 32 f.; so auch Schmidt Netzpolitik, 2021 mit Rezension von Stelkens STREIT 3/2021, 135. ↩