STREIT 4/2022

S. 155-157

Geschlechtergerechtigkeit in globalen Lieferketten

Ein von Unternehmen und Politik bislang missachteter Aspekt

Der Einsturz der Textilfabrik Rana-Plaza in Bangla­desch, der Staudammbruch des Bergbaukonzerns Vale in Brasilien oder die Ermordung der Umweltaktivistin Berta Cáceres in Honduras sind nur einige der zahlreichen Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung durch Unternehmen. Bis heute sind nur wenige Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen worden und viele Betroffene warten noch immer auf Wiedergutmachung. Mehr als 80 Prozent des globalen Welthandels basiert auf weit verzweigten Lieferketten mit zahlreichen Zulieferbetrieben, was die Zuordnung von Verantwortung in solchen Fällen erschwert.
Rund 190 Millionen Frauen arbeiten in globalen Lieferketten. Sie sind besonders und in anderer Weise als Männer von den negativen Auswirkungen globalen Wirtschaftens betroffen und strukturell benachteiligt.
Frauen arbeiten vielfach in Bereichen, die von prekären unterbezahlten Beschäftigungsverhältnissen gekennzeichnet sind, ohne soziale Sicherungssysteme und unter gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen. In der weltweiten Textilindustrie sind beispielsweise mehr als 80 Prozent der Beschäftigten Frauen. Frauen nehmen seltener Führungspositionen ein als Männer und müssen neben der Lohnarbeit häufig unbezahlte Arbeiten wie Haushalt, Pflege von Kindern, Kranken und Älteren bewältigen.
Darüber hinaus werden Frauen besonders häufig Opfer von sexueller Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz. Studien der Nichtregierungsorganisation FEMNET ergaben beispielsweise, dass von 420 befragten Textilarbeiter*innen in Bangladesch 76 Prozent bereits mit geschlechtsspezifischer Gewalt am Arbeitsplatz konfrontiert waren.1
Den Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen im Wirtschaftskontext gelingt es nur selten, Zugang zu Recht und Wiedergutmachung zu erhalten. Gerade Frauen stehen zahlreichen Hürden gegenüber. Häufig wissen die Betroffenen noch nicht einmal über ihre Rechte Bescheid. Beschwerdemechanismen sind, so sie denn bestehen, ggf. nicht in ihrer Sprache zugänglich, bzw. Frauen trauen sich aufgrund wirtschaftlicher Abhängigkeit von den Verursachenden nicht, sie zu nutzen. Bei Entscheidungen über die Erschließung von Rohstoffvorkommen oder über Landnutzungsfragen werden Frauen aufgrund patriarchaler Strukturen häufig nicht einbezogen.

Notwendigkeit gesetzlicher Regulierung von Lieferketten

Jahrelang hatten Regierungen darauf gesetzt, dass sich Unternehmen auf der Grundlage freiwilliger Selbstverpflichtungen an Menschenrechts- und Umweltstandards entlang ihrer Lieferketten halten. Doch die immer wieder auftretenden Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden durch Unternehmen zeigen, dass freiwillige Maßnahmen wirkungslos sind. So haben sich beispielsweise zahlreiche Unternehmen öffentlich zu den 2009 beschlossenen Women Empowerments Principles2 der Frauenrechtsorganisation der Vereinten Nationen (UN Women) und des UN Global Compact öffentlich bekannt, jedoch hat nur ein Bruchteil diese in ihrer Unternehmenspraxis auch tatsächlich umgesetzt.
Eine Studie von 2020, die von der Bundesregierung in Auftrag gegeben wurde, ergab, dass gerade einmal 17 Prozent der befragten Unternehmen in Deutschland freiwillig ihre menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten im Sinne der UN-Leitprinzipien zu Wirtschaft und Menschenrechten einhalten.3 Eine Studie der Europäischen Kommission von 2020 kam zu einem ähnlich ernüchternden Ergebnis. Nur jedes dritte europäische Unternehmen führte menschenrechtliche Sorgfaltsprozesse entlang seiner Lieferkette durch.4
Die UN-Leitprinzipien zu Wirtschaft und Menschenrechten wurden 2011 veröffentlicht und beschreiben fünf Schritte der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht von Unternehmen. So sind Unternehmen dazu angehalten, (1) sich in einer Grundsatzerklärung zu den Menschenrechten und Umweltstandards zu bekennen, (2) potentielle Risiken für Mensch und Umwelt entlang ihrer gesamten Lieferkette zu identifizieren, (3) Maßnahmen durchzuführen, um die potentiell negativen Auswirkungen abzuwenden und die Wirksamkeit der Maßnahmen zu überprüfen, (4) darüber Bericht zu erstatten, und (5) einen Beschwerdemechanismus zu schaffen. Die UN-Leitprinzipien fordern außerdem, dass sie auf nicht-diskriminierende Weise umgesetzt werden, „mit besonderem Augenmerk auf die Rechte und Bedürfnisse, wie auch Herausforderungen von Individuen, die Gruppen oder Bevölkerungsteilen angehören, die einem besonderem Risiko der Vulnerabilität und Marginalisierung ausgesetzt sind sowie unter gebührender Berücksichtigung der unterschiedlichen Risiken, denen Frauen und Männer ausgesetzt sein können.“5

Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz und EU-Richtlinie zu Nachhaltiger Unternehmensführung blind in Sachen Geschlechtergerechtigkeit

Seit ihrer Veröffentlichung wurden die UN-Leitprinzipien von mehreren Ländern in nationalen Aktionsplänen umgesetzt. In der Erkenntnis, dass nur verbindliche Regeln wirksam sind, damit Unternehmen Menschenrechte und Umweltschutz achten, haben einige Länder Sorgfaltspflichtengesetzte verabschiedet. Jedoch geht keiner der Pläne und keines der Gesetze auf die strukturelle Benachteiligung von Frauen in globalen Wertschöpfungsketten ein.
Auch das im Juni 2021 vom Bundestag verabschiedete Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LKSG) ist in Sachen Geschlechtergerechtigkeit blind. Obwohl sich Deutschland zur Umsetzung der UN-Frauenrechtskonvention verpflichtet hat, wurde sie nicht in den Katalog der zu beachtenden Schutzgüter im Gesetz aufgenommen. Auch andere relevante internationale Übereinkommen, wie das ILO-Übereinkommen Nr. 190 über Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt, werden nicht aufgeführt. Eine geschlechtsspezifische Sorgfaltspflicht fehlt ebenso.
Dabei wurde von der zuständigen UN-Arbeitsgruppe 2019 mit dem Bericht „Gender Dimension of the UN Guiding Principles“ 6 ein eigener Leitfaden veröffentlicht, der aufzeigt, wie Geschlechtergerechtigkeit in allen Schritten der unternehmerischen Sorgfalt berücksichtigt werden sollte. So ist es wichtig, das Prinzip der Intersektionalität zu berücksichtigen, bei dem Geschlecht und andere persönliche Merkmale oder Identitäten gemeinsam betrachtet werden und untersucht wird, wie diese Überschneidungen zu eindeutigen Diskriminierungserfahrungen beitragen. Um die Auswirkungen ihrer Tätigkeiten und Maßnahmen auf Frauen und Mädchen überprüfen zu können, sollten Unternehmen nach Geschlecht disaggregierte Daten erheben und geschlechtsspezifische Indikatoren (z.B. Gender Pay Gap, Gender Pension Gap, etc.) überprüfen. Zudem sollten in allen Schritten der Sorgfaltspflicht sichere und sinnvolle Konsultationen mit Frauen und Frauengruppen durchgeführt werden.
Auch an anderen Stellen greift das LKSG zu kurz, was den Schutz aller Betroffenen mindert.7 Es gilt für zu wenige Unternehmen und enthält bei den Sorgfaltspflichten zu viele Ausnahmen. Es schafft keinen eigenen Anspruch auf Schadenersatz für Betroffene von Menschenrechtsverletzungen. Außerdem werden Umweltverschmutzungen in Lieferketten nur vereinzelt erfasst.

Die EU-Kommission hat ebenfalls die Chance verpasst, mit ihrem Vorschlag für eine EU-Richtlinie zu Nachhaltiger Unternehmensführung hinsichtlich geschlechtsspezifischer Sorgfaltspflichten zumindest für in Europa tätige Unternehmen nachzubessern. Zwar benennt der am 23. Februar 2022 veröffentlichte Entwurf die UN-Frauenrechtskonvention in der Liste der zu schützenden Menschenrechtsabkommen. Nicht enthalten ist jedoch ein eigener Tatbestand zum Beispiel zu Formen geschlechtsspezifischer Gewalt und Diskriminierung in Wertschöpfungsketten, die sich nicht unmittelbar am geregelten Arbeitsplatz abspielen. Anders als noch in einem kurz vor offizieller Veröffentlichung geleakten Entwurf fehlt in der Fassung vom 23. Februar 2022 die Forderung nach einer geschlechtsspezifischen Sorgfaltspflicht. Verbesserte Prozessregeln und eine faire Verteilung der Beweislast fehlen ebenfalls. Sie würden es den Betroffenen aber wesentlich erleichtern, Zugang zu Recht zu erlangen. Zudem sieht der Richtlinienentwurf vor, dass sich Unternehmen aus Hochrisikosektoren bei ihrer Sorgfaltspflicht auf schwerwiegende Risiken konzentrieren können. Eine solche eingeschränkte Sorgfaltspflicht ist nicht gerechtfertigt und kann gerade auch auf Frauen negative Auswirkungen haben, da Frauen in diesen Branchen, bspw. in der Textilbranche, häufig überrepräsentiert sind. Auch sieht der Entwurf vor, die Sorgfaltspflicht von Unternehmen auf „etablierte“ Geschäftsbeziehungen entlang der Lieferkette zu beschränken. Das würde dazu führen, dass der Anwendungsbereich der Richtlinie auf einen geringen Teil der Wertschöpfungsketten reduziert wird. Alle Produkte, die wie Kaffee, Edelmetalle und andere Rohstoffe zum großen Teil über die Börse bezogen werden, würden von vorneherein aus dem Sorgfaltspflichtenbereich herausfallen. Informelle Beschäftigungsverhältnisse und Heimarbeit müssten dadurch nicht berücksichtigt werden – Arbeitsverhältnisse, in denen erneut Frauen überrepräsentiert sind und in denen es besonders häufig zu Menschenrechtsverletzungen kommt.8

In Artikel 8 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU verpflichtet sich die EU, bei allen ihren Tätigkeiten darauf hinzuwirken, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern. Mit ihrer 2020 verabschiedeten Strategie für die Geleichstellung der Geschlechter hat sich die EU-Kommission außerdem klar zu einem Gender Mainstreaming Ansatz bekannt. Um dem eigenen Anspruch gerecht zu werden und der Verpflichtung zum Gender Mainstreaming tatsächlich nachzukommen, müssen die EU-Mitgliedsstaaten und das Parlament den EU-Richtlinienentwurf im weiteren Erarbeitungsprozess unter Gender-Aspekten nachbessern.
Das deutsche LKSG und die kommende EU-­Richtlinie sind erste Schritte in die richtige Richtung. Allerdings werden davon nur in der EU tätige Unternehmen erfasst. Damit aber alle Unternehmen weltweit sich an diese Standards halten, bedarf es eines internationalen Abkommens auf Ebene der Vereinten Nationen.

Vom Lieferkettengesetz über die EU-Richt­linie bis hin zu internationalem Abkommen

Im UN-Menschenrechtsrat verhandelt seit 2014 eine zwischenstaatliche Arbeitsgruppe über ein solches verbindliches Abkommen.9 Es würde die Vertragsstaaten dazu verpflichten, die bei ihnen ansässigen Unternehmen zu menschenrechtlichen-, Umwelt- und Klima-bezogenen Sorgfaltsprozessen im Sinne der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte zu verpflichten, sowie verwaltungs-, zivil- und strafrechtliche Haftung bei Nichtbeachtung der Sorgfaltspflicht und für den Schadensfall sicherzustellen. Sie müssten Hürden zum Rechtszugang für Betroffene abbauen, juristische Zuständigkeiten sowie das anzuwendende Recht klären und bei der Ermittlung und Verfolgung von grenzüberschreitenden Fällen sowie bei der Vollstreckung und Anerkennung von Gerichtsurteilen zusammenarbeiten. Der vorliegende Entwurf berücksichtigt, anders als das LKSG und der EU-Richtlinienentwurf, Geschlechtergerechtigkeit umfassend.
In Ermangelung eines Verhandlungsmandats beteiligen sich die EU und die deutsche Bundesregierung jedoch noch nicht an den Verhandlungen über das Abkommen. Sollte es der EU und der Deutschen Bundesregierung jedoch ernst sein mit sozial-ökologisch nachhaltigen Wertschöpfungsketten und der Bekämpfung von Geschlechterungleichheiten weltweit, so sollten sie sich um ein ambitioniertes Abkommen bemühen.

  1. https://femnet.de/images/downloads/gbv/GBV_Stop-Violence_Report_BCWS-FEMNET-2020-DE-kurzfassung.pdf. Zugriff auf alle hier zitierten Seiten zuletzt am 05.05.2022.
  2. www.bsr.org/reports/WEP-AnnualReport2020.pdf.
  3. www.auswaertiges-amt.de/blob/2405080/23e76da338f1a1c06 b1306c8f5f74615/201013-nap-monitoring-abschlussbericht- data.pdf.
  4. https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/8ba0a 8fd-4c83-11ea-b8b7-01aa75ed71a1/language-en.
  5. www.auswaertiges-amt.de/blob/266624/b51c16faf1b3424d7efa060e8aaa8130/un-leitprinzipien-de-data.pdf.
  6. www.ohchr.org/sites/default/files/Documents/Issues/Business/BookletGenderDimensionsGuidingPrinciples.pdf.
  7. Vgl. ausführliche Stellungnahme der Initiative Lieferkettengesetz zum LKSG: https://lieferkettengesetz.de/wp-content/uploads/ 2021/06/Initiative-LieferkettengesetzAnalyseWas-das-neue-Gesetz-liefert.pdf.
  8. Vgl. ausführliche Stellungnahme der Initiative Lieferkettengesetz zum EU-Kommissionsvorschlag: https://lieferkettengesetz.de/wp-content/uploads/2022/04/Initiative-Lieferkettengesetz_Stellungnahme-zum-Kommissionsentwurf-1.pdf.
  9. www.ohchr.org/en/hr-bodies/hrc/wg-trans-corp/igwg-on-tnc.