STREIT 4/2022
S. 166-168
BVerfG, §§ 1896 ff. BGB, Art. 2, 6 GG
Bevorzugte Berücksichtigung der Mutter als Betreuerin für ihre psychisch erkrankte volljährige Tochter
Der erklärte Wille der Betreuten und die Bedeutung und Tragweite der persönlichen Beziehung und familiären Bindung der Betreuerin als Mutter zu ihrer Tochter sind für die Entscheidung über die Entlassung der Betreuerin zu beachten, auch wenn besser geeignete Betreuungspersonen zur Verfügung gestanden hätten.
(Leitsätze der Redaktion)
Beschluss des BVerfG vom 31.03.2021 – 1 BvR 413/20
Sachverhalt:
Der Verfassungsbeschwerde liegt ein betreuungsrechtliches Verfahren zugrunde. Die Beschwerdeführerin (im Folgenden: Bf.) und Mutter der Betreuten setzte sich gegen ihre Entlassung als Betreuerin zur Wehr. Die 1992 geborene Tochter der Bf. (im Folgenden: die Betroffene) leidet an einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie. Für sie wurde 2014 ein Berufsbetreuer für den Aufgabenkreis „Vertretung vor Ämtern, Behörden und Einrichtungen“ bestellt. 2018 wurde die Betreuung verlängert, um den Aufgabenkreis „Gesundheitsfürsorge einschließlich hiermit verbundener Aufenthaltsbestimmung“ erweitert und für diesen Aufgabenkreis die Bf. als Betreuerin bestellt. In den Jahren 2018 und 2019 wurde die Betroffene mehrmals auf Antrag der Bf. jeweils kurzzeitig in der geschlossenen Abteilung des örtlichen psychiatrischen Krankenhauses untergebracht. Ein vom AG eingeholtes Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass eine weitere Unterbringung zur Heilbehandlung und zur Abwendung einer akuten Eigengefährdung dringend erforderlich sei. Der Gutachter empfahl eine geschlossene Unterbringung für mindestens sechs Monate, wobei ein Orts- und Betreuerwechsel der Betroffenen möglichst nicht zugemutet werden solle. Dagegen empfahl die Betreuungsbehörde einen Betreuerwechsel hin zu einem unvorbelasteten, familienfremden Berufsbetreuer. Die behandelnden Ärzte sprachen sich in zwei schriftlichen Stellungnahmen ebenfalls für einen Betreuerwechsel aus. Es bestehe eine innerfamiliäre Dynamik, die für die Betroffene ausschließlich kontraproduktiv wirke.
Das AG entließ daraufhin entgegen dem ausdrücklichen Wunsch der Betroffenen die Bf. als Betreuerin und bestellte eine Berufsbetreuerin. Auf deren Antrag hin genehmigte das AG die Unterbringung der Betroffenen in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses sowie nachfolgend in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Heimes. Aufgrund dieses Beschlusses befand sich die Betroffene von September 2019 bis April 2020 in einer von dem Wohnort der Bf. circa 120 km entfernten psychiatrischen Einrichtung. Die gegen ihre Entlassung als Betreuerin gerichtete Beschwerde der Bf. wies das LG Neubrandenburg (Beschl. v. 5.12.2019 – 2 T 134/19) zurück. Die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.
Aus den Gründen:
I. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gem. § 93a Abs. 2 Buchst. b, § 93b S. 1, § 93c Abs. 1 S. 1 BVerfGG zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts der Bf. aus Art. 6 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Entscheidung durch die Kammer liegen vor (§ 93c Abs. 1 S. 1 BVerfGG). […]
b) Die Verfassungsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Das LG hat die Bedeutung und Tragweite der persönlichen Beziehung und familiären Bindung der Bf. als Mutter zu ihrer Tochter für die Entscheidung über die Entlassung der Bf. als Betreuerin ihrer Tochter verkannt und damit die Bf. in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG verletzt. […]
Der Schutz des Familiengrundrechts reicht indessen über den Zweck hinaus, einen besonderen personellen Raum kindlicher Entfaltungsmöglichkeiten zu sichern. Er zielt generell auf den Schutz spezifisch familiärer Bindungen (vgl. BVerfGE 133, 59, 82f. = NJW 2013, 847 Rn. 62 m.w.N.) und erfasst auch das Verhältnis zwischen Eltern und ihren volljährigen Kindern (vgl. BVerfGE 57, 170, 178 = NJW 1981, 1943; BVerfGE 80, 81, 91 = NJW 1989, 2195). […]
cc) Dem Schutz der Familie ist auch bei der Bestellung einer Betreuerin Rechnung zu tragen. Aus dem Vorstehenden folgt, dass Art. 6 Abs. 1 GG eine bevorzugte Berücksichtigung der (nahen) Familienangehörigen jedenfalls dann gebietet, wenn eine tatsächlich von familiärer Verbundenheit geprägte engere Bindung besteht (vgl. BVerfGE 136, 382, 389 = NJW 2014, 2853).
dd) Der angegriffene Beschluss des LG genügt den an ihn zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. […]
(a) Das LG hat die Zurückweisung der Beschwerde gegen die Entlassung der Bf. als Betreuerin ihrer Tochter mit der fehlenden Eignung der Bf. und dem entgegenstehenden Wohl der Betroffenen begründet. Das Gericht macht dabei den auch von der Bf. nicht bestrittenen Umstand zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen, dass eine fördernde krankheitsgerechte Behandlung der Betroffenen in der Vergangenheit nicht erkennbar, sondern vielmehr eine zunehmende Chronifizierung und Retardierung der Krankheit eingetreten war. Den Grund hierfür sieht das LG in erster Linie in dem Rollenkonflikt, in dem sich die Bf. befinde. Trotz des großen Einsatzes der Bf. für ihre Tochter sei mit zunehmender Manifestation der Erkrankung der Betroffenen deutlich geworden, dass sich dieser Konflikt nicht lösen lasse. Aus diesem Grund könne die Bf. die Betreuung „aus ihrer emotionalen Grundsituation heraus“ nicht zum Wohl der Betroffenen führen und sei daher als Betreuerin ihrer Tochter nicht geeignet.
(b) Die Entscheidung lässt in diesem Zusammenhang jedoch nicht erkennen, dass das Gericht dem in § 1897 Abs. 5 BGB zum Ausdruck kommenden Schutz der Familie hinreichend Rechnung getragen hat.
Zwar stellt das LG die Mutter-Tochter-Beziehung der Bf. und der Betroffenen in den Mittelpunkt seiner Entscheidungsgründe. Die Betrachtung dieser Beziehung erfolgt jedoch einseitig im Hinblick auf den bisherigen Verlauf der Behandlung der Betroffenen. Die familiäre Bindung zwischen der Bf. und ihrer Tochter wird ausschließlich unter diesem Aspekt beleuchtet, ohne dass deutlich würde, dass dem Wert der familiären Beziehungen, dem innerfamiliären Zusammenhalt und der Familie als Schutzraum der Betroffenen darüber hinaus Bedeutung beigemessen würde. Zwar ist aufgrund der Volljährigkeit der Betroffenen das durch Art. 6 Abs. 2 GG geschützte elterliche Erziehungsrecht nicht betroffen (vgl. BVerfGE 59, 360, 382 = NJW 1982, 1375; BVerfGE 72, 122, 137 = NJW 1986, 3129). Die Betroffene lebte zum Zeitpunkt der Entscheidung jedoch im Haushalt der Bf., sodass jedenfalls eine familiäre Hausgemeinschaft bestand. Es spricht zudem viel dafür, dass die familiäre Verbundenheit und Einstandsbereitschaft hier sogar deutlich über das bei einer Hausgemeinschaft zwischen Eltern und ihren volljährigen Kindern übliche Maß hinausging.
Die Entlassung der Bf. und die Bestellung einer Berufsbetreuerin erfolgten zudem offensichtlich auch im Hinblick auf die Entscheidung über eine dauerhafte Unterbringung der Betroffenen außerhalb ihrer Familie. Dies folgt zum einen aus dem engen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Entscheidung über den Betreuerwechsel und der Einholung eines Gutachtens zur Frage einer längerfristigen Unterbringung sowie der gerichtlichen Entscheidung über die geschlossene Unterbringung der Betroffenen. Zum anderen hat das AG die Entscheidung über die Unterbringung der Betroffenen gerade damit begründet, dass die empfohlene medizinische und soziale Therapie in der häuslichen Umgebung der Betroffenen nicht konsequent umgesetzt worden sei und daher die Bestellung einer Berufsbetreuerin allein nicht zur konsequenten Durchsetzung einer Therapie genüge.
In diesem Zusammenhang durfte das LG insbesondere das Gutachten des gerichtlich bestellten Gutachters nicht unberücksichtigt lassen, der sich ausdrücklich gegen einen Betreuer- und Ortswechsel ausgesprochen hatte, da diese zu einer Verschlechterung der Symptomatik und erheblichen Widerständen gegen die Behandlung und Unterbringung führen könnten. Der Gutachter hatte zwar ausdrücklich eine geschlossene Unterbringung der Betroffenen vorgeschlagen, dabei jedoch eine Unterbringung in unmittelbarer Nähe zum Wohnort der Bf. empfohlen, da somit die sowohl von der Bf. als auch von der Betroffenen gewünschte Nähe gewährleistet werden könne. Eine Behinderung der Genesung der Betroffenen durch die Betreuung seitens der Bf. konnte der Gutachter hingegen nicht erkennen.
(c) Darüber hinaus hat das LG dem Umstand nicht hinreichend Rechnung getragen, dass die Betroffene mehrfach ausdrücklich den Wunsch geäußert hatte, ihre Mutter, in deren Haushalt sie lebte und zu der sie eine enge Beziehung pflegte, als Betreuerin zu behalten. Der Vorrang des Willens der Betreuten bei der Auswahl der Betreuerin gem. § 1897 Abs. 4 S. 1 BGB ist „Ausdruck des grundrechtlich verbürgten und umfassenden Selbstbestimmungsrechts (auch) betreuungsbedürftiger Personen“ (BeckOGK/Schmidt-Recla, Juli 2020, § 1897 BGB Rn. 52). Die Regelung steht damit in unmittelbarem Zusammenhang zu § 1901 Abs. 2 S. 2 BGB, wonach die betreute Person ihr Leben nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen gestalten können muss. Dieser Grundsatz wird in § 1897 Abs. 4 S. 1 BGB auf die Auswahl der Betreuerin erstreckt (vgl. BeckOGK/Schmidt-Recla, § 1897 BGB Rn. 52).
Das grundrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht erfasst auch Entscheidungen, die aus der Sicht eines objektiven Betrachters unvernünftig erscheinen mögen. Die Freiheitsgrundrechte schließen das Recht ein, von der Freiheit einen Gebrauch zu machen, der in den Augen Dritter den wohlverstandenen Interessen des Grundrechtsträgers zuwiderläuft (vgl. BVerfGE 142, 313, 339 = NJW 2017, 53 Rn. 74). Die Betreuungsbedürftigkeit der Einzelnen erlaubt es staatlichen Organen nicht, deren Wille allein deshalb beiseite zu schieben, weil er aus der Außenansicht unvernünftig erscheint. Bezogen auf die Auswahl der Betreuerin bedeutet dies auch, dass allein die Tatsache, dass geeignetere Personen in Betracht kommen, nicht ausreichen, um den Willen der Betroffenen zu entkräften (vgl. BayObLGZ 1996, 136, 138 = NJW-RR 1997, 71).
Allerdings ist es nicht in jedem Fall geboten, den Wunsch der Betreuten hinsichtlich der betreuenden Person umzusetzen. Dem verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrecht der Betreuten steht die Pflicht des Staates gegenüber, dem aufgrund einer Behinderung oder einer psychischen Erkrankung hilfsbedürftigen Menschen die Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen, die er benötigt. § 1897 Abs. 4 S. 1 BGB ermöglicht daher in Ausnahmefällen die Bestellung einer anderen als von der Betreuten gewünschten Person, wenn die Befolgung des Wunsches der Betreuten deren Wohl zuwiderläuft. […]
Die mangelnde Eignung darf jedoch nicht vorschnell angenommen werden, um anstelle der von der Betreuten gewünschten Person eine andere, aus Sicht des Gerichts besser geeignete Person zur Betreuerin zu bestellen. Insbesondere, wenn die Gründe für die fehlende Eignung in der familiären und möglicherweise über einen langen Zeitraum gewachsenen Beziehung der Betroffenen zu der als Betreuerin gewünschten Person wurzeln, ist unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG eine sorgfältige Abwägung erforderlich. Es muss der Betroffenen grundsätzlich möglich sein, sich für eine Familienangehörige als Betreuerin zu entscheiden und diesen Entschluss durchzusetzen, auch wenn besser geeignete Betreuerinnen zur Verfügung gestanden hätten. Daher muss die fehlende Eignung anhand der Umstände des Einzelfalls im Hinblick auf den konkret in Rede stehenden Aufgabenkreis dargelegt und mit dem Wunsch der Betroffenen abgewogen werden. Dabei ist auch zu berücksichtigen, inwieweit die Zweifel an der Eignung durch andere Maßnahmen wie einem konkreten Hilfsangebot für die von der Betroffenen gewünschte Person abgemildert und dem Wunsch der Betroffenen dadurch zur Umsetzung verholfen werden kann. Gegebenenfalls ist für einzelne Aufgabenkreise auch eine andere Person als die von der Betreuten gewünschte Person als Mitbetreuerin zu bestellen (vgl. BGH NJW 2015, 1876, 1877). […]