STREIT 2/2019
S. 80-84
LSG Berlin-Brandenburg, § 2 Abs. 1 OEG
Beziehungstat kein Versagungsgrund nach OEG
1. Eine die Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz ausschließende Mitverursachung kann nur angenommen werden, wenn das Verhalten des Opfers eine wesentliche, d.h. annähernd gleichwertige Bedingung neben dem Beitrag des rechtswidrig handelnden Angreifers darstellt.
2. Es stellt keine leichtfertige Selbstgefährdung dar, wenn die Geschädigte eine Beziehung, die sie aufgrund von Gewalttaten beendet hatte, wieder aufnahm. Unter Berücksichtigung der insoweit maßgeblichen subjektiven Erkenntnisfähigkeit stellt es kein grob fahrlässiges Verhalten der Geschädigten dar, dass sie den Beteuerungen des Partners, es werde nicht wieder zu Gewalttaten kommen, Glauben schenkte.
(Leitsätze der Redaktion)
Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 10.01.2019, L 13 VG 3/18
Aus dem Sachverhalt:
Die Beteiligten streiten über die Versorgung der Klägerin nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Die 1985 geborene Klägerin führte mit CB (im Folgenden B) seit 2005 eine Beziehung.
Das Amtsgericht T verurteilte B. mit Urteil vom 22. Mai 2009 wegen Körperverletzung der Klägerin in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dem legte das Gericht folgenden Sachverhalt zugrunde:
Anlässlich einer Auseinandersetzung am 4. Juli 2006 schlug B. in einer Parkanlage in B-W der Klägerin mit der flachen Hand auf die rechte Gesichtshälfte. Die Klägerin wurde durch den Schlag kurzfristig bewusstlos. Sie erlitt Schmerzen und Hörstörungen sowie Taubheitsgefühle.
In der Nacht vom 13. zum 14. September 2006 verfolgte B. die Klägerin, die – nach einem Streit – gerade dessen Zimmer in der WG Br in B-M verlassen wollte, und stieß ihr die schon leicht geöffnete Tür gegen den Kopf, wodurch die Klägerin eine Gehirnerschütterung erlitt und dabei das Bewusstsein verlor.
Anlässlich einer Auseinandersetzung in der Nacht vom 19. zum 20. März 2007 schlug B. in der Wohnung B der Klägerin in die linke Seite der Rippen. Die Klägerin erlitt eine Thoraxprellung.
Am 30. März 2011 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten Versorgung nach dem OEG. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 22. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 2011 mit der Begründung ab, zwar sei eine Gewalttat im Sinne des § 1 OEG nicht auszuschließen, jedoch sei die Versorgung unbillig und deshalb nach § 2 OEG zu versagen. Denn die Klägerin habe sich vernunftwidrig verhalten, da sie die Gefahr einer Körperverletzung hätte erkennen und vermeiden können. [...]
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 22. November 2017 den Beklagten verurteilt, bei der Klägerin wegen der Taten vom 4. Juli 2006, 13. September 2006 und 19. März 2007 eine posttraumatische Belastungsstörung, eine rezidivierende depressive Störung und eine Anpassungsstörung als Schädigungsfolge im Sinne des OEG festzustellen und ihr eine Beschädigtenrente nach einem GdS von 70 ab dem 28. März 2011 zu gewähren. [...]
Gegen diese Entscheidung hat der Beklagte Berufung eingelegt. Er ist insbesondere der Auffassung, dass nach § 2 Abs. 1 OEG der Klägerin Leistungen zu versagen seien. Obwohl die Klägerin gewusst habe, dass B., wenn er wütend werde, sehr aggressiv werden könne, habe sich die Klägerin derartigen Situationen immer wieder ausgesetzt, anstatt sich ihnen zu entziehen. Unabhängig davon sei die Höhe des GdS nicht nachvollziehbar. [...]
Aus den Gründen:
Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet, da die Klägerin Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach einem GdS von 70 hat.
Die Klägerin erlitt, was zwischen den Beteiligten außer Streit steht, jeweils am 4. Juli 2006, 13. September 2006 und 19. März 2007 eine Schädigung infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen ihre Person im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Nach den Traumen in Form der drei Körperverletzungen bestehen bei der Klägerin psychische Störungen, die von der Sachverständigen W im Gutachten vom 31. März 2014 als posttraumatische Belastungsstörung, rezidivierende depressive Störung und soziale Anpassungsstörung diagnostiziert worden sind. Diese Folgen psychischer Traumen stellen sich als Schädigungsfolgen dar. Während das Vorliegen des Angriffs, des Primärschadens und der Schädigungsfolgen grundsätzlich des Vollbeweises bedürfen, genügt nach der entsprechend heranzuziehenden Vorschrift des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG für den Nachweis der haftungsbegründenden und der haftungsausfüllenden Kausalität die Wahrscheinlichkeit. Diese ist vorliegend zu bejahen. Der Senat folgt der Einschätzung der Sachverständigen, die überzeugend dargelegt hat, dass die psychischen Schäden der Klägerin sogar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kausale Folge der Primärschädigung sind. Zu Recht hat das Sozialgericht die Folgeschäden mit einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 70 bewertet.
Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 und 2 BVG ist der GdS nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen nach Zehnergraden abgestuft zu beurteilen. Hierbei sind seit 1. Januar 2009 die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ (VMG) heranzuziehen.
Die Bewertung der genannten Schädigungsfolge bei der Klägerin als „Folgen psychischer Traumen“ richtet sich nach B Nr. 3.7 VMG. Diesen Vorgaben entsprechend hat das Sozialgericht unter Auswertung des Akteninhalts, insbesondere des Befundberichts der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie B-E vom 26. März 2013 und der Feststellungen der Sachverständigen W im Gutachten vom 31. März 2014, der mündlichen Erläuterung dieses Gutachtens durch die Sachverständige sowie der Vernehmung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung detailliert und überzeugend dargelegt, dass die bei der Klägerin vorliegenden Schädigungsfolgen als schwere Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten zu qualifizieren sind und mit einem GdS am oberen Rand des in B Nr. 3.7 VMG vorgesehenen Bewertungsrahmens von 50 bis 70 zu bewerten sind. Hierbei hat es zulässigerweise auch auf die in der Niederschrift über die Tagung der Sektion Versorgungsmedizin des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung vom 18. bis 19. März 1998 enthaltenen Abgrenzungskriterien zwischen leichten, mittelgradigen und schweren sozialen Anpassungsstörungen abgestellt (vgl. hierzu das Urteil des Senats vom 16. Januar 2014 – L 13 SB 131/12 – juris Rn. 15). Der Senat folgt insoweit den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils vom 22. November 2017 und sieht nach § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
Eine Opferentschädigung der Klägerin ist auch nicht nach § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG ausgeschlossen. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen, unbillig wäre, eine Entschädigung zu gewähren.
Bei dem Tatbestand der 1. Alternative der Vorschrift – Mitverursachung – handelt es sich um einen Sonderfall der Unbilligkeit – 2. Alternative. Er regelt abschließend, wann die unmittelbare Tatbeteiligung des Geschädigten Leistungen ausschließt (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts [BSG], vgl z.B. BSG, Urteile vom 6. Dezember 1989 – 9 RVg 2/89 -, BSGE 66, 115-120, juris Rn. 11, und vom 21. Oktober 1998 – B 9 VG 6/97 R –, BSGE 83, 62-68, juris Rn. 18). Zum Bereich der unmittelbaren Tatbeteiligung gehören alle unmittelbaren, mit dem Tatgeschehen auch zeitlich eng verbundenen Umstände; dagegen sind die sonstigen, nicht unmittelbaren, sondern lediglich erfolgsfördernden Umstände – wie die Vorgeschichte der Tat – im Rahmen der 2. Alternative zu prüfen (so Rademacker, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Auflage 2012, § 2 OEG Rn. 2). Die 1. Alternative ist stets zuerst zu prüfen (vgl. BSG, Urteil vom 18. April 2001 – B 9 VG 3/00 R -, BSGE 88, 96-103, juris Rn. 17).
Eine Mitverursachung kann nur angenommen werden, wenn das Verhalten des Opfers nach der auch im Opferentschädigungsrecht anwendbaren versorgungsrechtlichen Kausalitätsnorm nicht nur einen nicht hinwegzudenkenden Teil der Ursachenkette, sondern eine wesentliche, d.h. annähernd gleichwertige Bedingung neben dem Beitrag des rechtswidrig handelnden Angreifers darstellt (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 21. Oktober 1998 a.a.O., juris Rn. 18). Ein Leistungsausschluss ist insbesondere dann gerechtfertigt, wenn das Opfer in der konkreten Situation in ähnlich schwerer Weise wie der Täter gegen die Rechtsordnung verstoßen hat (vgl. BSG, Urteil vom 25. März 1999 – B 9 VG 1/98 R -, BSGE 84, 54-61, juris Rn. 26). Aber auch wenn das Opfer zwar keinen Straftatbestand erfüllt hat, sich aber leichtfertig durch eine unmittelbare, mit dem eigentlichen Tatgeschehen insbesondere zeitlich eng zusammenhängende Förderung der Tat, z.B. durch eine Provokation des Täters, der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt und dadurch selbst gefährdet hat, kann eine Mitverursachung vorliegen. Gleiches gilt, wenn sich das Opfer einer konkret erkannten Gefahr leichtfertig nicht entzogen hat, obwohl es ihm zumutbar und möglich gewesen wäre (vgl. BSG, Urteile vom 15. August 1996 – 9 RVg 6/94 -, BSGE 79, 87-91, juris Rn. 15, vom 21. Oktober 1998 a.a.O., juris Rn. 21).
Die leichtfertige Selbstgefährdung setzt nach der Rechtsprechung des BSG einen erhöhten Grad von Fahrlässigkeit, der etwa der groben Fahrlässigkeit im Sinne des bürgerlichen Rechts entspricht, voraus. Allerdings gilt im Gegensatz zum bürgerlichen Recht nicht der objektive Sorgfaltsmaßstab des § 276 BGB, sondern ein individueller, der auf die persönlichen Fähigkeiten des Opfers abstellt (vgl. BSG, vom 21. Oktober 1998 a.a.O., juris Rn. 23). Zu prüfen ist danach, ob sich das Opfer auch anders hätte verhalten können oder müssen, weiter, ob es sich der erkannten oder grob fahrlässig nicht erkannten Gefahr nicht entzogen hat, obwohl ihm dies zumutbar gewesen wäre. Dafür ist die gesamte tatnahe Situation, wie sie sich nach natürlicher Betrachtungsweise darstellt, zu würdigen. Ergänzend sind die individuellen Beziehungen zwischen Täter und Opfer zu berücksichtigen, etwa ob sie seit langem miteinander Umgang hatten und welcher Art der Umgang war, ferner das frühere Verhalten von Täter und Opfer in vergleichbaren Situationen (so BSG, Urteil vom 18. April 2001 – B 9 VG 3/00 R –, BSGE 88, 96-103, juris Rn. 18).
Gemessen an diesen Maßstäben kann der Klägerin eine leichtfertige Selbstgefährdung nicht vorgeworfen werden. Als sie am 4. Juli 2006 nach einem Streit dem davoneilenden B. in einen nahe gelegenen Park in B-W folgte und die verbale Auseinandersetzung fortsetzte, war für sie in keiner Weise absehbar, dass B. sie vor Wut plötzlich in das Gesicht schlagen würde. Leichtfertigt im Sinne einer groben Fahrlässigkeit handelte die Klägerin auch nicht bei dem Vorfall am 13. September 2006, da sie, als das Streitgespräch mit B. eskalierte, die Wohnung verlassen wollte. Sie hat sich – unabhängig von ihren Motiven – jedenfalls tatsächlich einer drohenden Gefahr entzogen. Dass B. ihr nacheilen und ihr die schon leicht geöffnete Tür gegen den Kopf stoßen würde, war für die Klägerin nicht erkennbar gewesen.
Auch am 19. März 2007 hat sich die Klägerin nicht leichtfertig durch eine unmittelbare Förderung der Tat der Gefahr einer gegen sie gerichteten Körperverletzung durch B. ausgesetzt. Der Umstand, dass sie im Laufe des Streits aus Verzweiflung einen Teller mit Nudelbrühe über ihr Gesicht goss, stellt keine Provokation des Täters im Sinne einer leichtfertigen, die Gewährung einer Opferentschädigung entgegenstehenden Selbstgefährdung dar. Denn das Verhalten der Klägerin hatte, da es sich nicht gegen B. richtete, nicht annähernd das Gewicht wie die anschließende Körperverletzung durch B. Die Gefühlswallung, in der sich die Klägerin in der konkreten Situation erkennbar befand, lässt das Maß eines grob fahrlässigen Verhaltens der Klägerin nicht erreichen.
Die Gewährung einer Opferentschädigung an die Klägerin ist auch nicht aus sonstigen Gründen im Sinne der 2. Alternative des § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG unbillig.
Leistungen sind wegen Unbilligkeit u.a. dann zu versagen sind, wenn es aus sonstigen, insbesondere im eigenen Verhalten des Opfers liegenden Gründen unbillig wäre, ihm Leistungen zu gewähren. Die dafür maßgeblichen Umstände des Einzelfalles müssen eine Entschädigung allerdings mit einem solchen Gewicht als unbillig erscheinen lassen, dass dies der in der 1. Alternative genannten Mitverursachung an Bedeutung annähernd gleichkäme (vgl. BSG, Urteile vom 7. November 1979 – 9 RVg 2/78 -, BSGE 49, 104-114, juris Rn. 18, und vom 21. Oktober 1998 a.a.O., juris Rn. 20). Eine der von dem BSG zu der 2. Alternative der Ausschlussnorm entwickelten Fallgruppen liegt vor, wenn sich das Opfer, ohne sozial nützlich oder von der Rechtsordnung erwünscht zu handeln, der Gefahr einer Gewalttat bewusst oder leichtfertig aussetzt oder sich einer von ihm erkannten oder leichtfertig verkannten Gefahr nicht entzieht, obwohl ihm dies zumutbar möglich wäre (vgl. BSG, Urteil vom 18. April 2001 a.a.O., juris Rn. 23).
Diese Voraussetzungen treffen auf die Klägerin nicht zu. Sie hat sich nicht dadurch leichtfertig selbst gefährdet, dass sie ihre Beziehung zu B., die sie nach den Gewalttaten vom 4. Juli 2006 und 13. September 2007 beendet hatte, wieder aufnahm. Unter Berücksichtigung der insoweit maßgeblichen Erkenntnisfähigkeit der Klägerin stellt es kein grob fahrlässiges Verhalten der Klägerin dar, dass sie den Beteuerungen des B., es werde nicht wieder zu Gewalttaten kommen, Glauben schenkte, da B. sich intensiv um sie bemühte, Reue zeigte und – nach dem zweiten Vorfall – ankündigte, sich einer Therapie zu unterziehen. [...]
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Mitgeteilt von RAin Theda Giencke, Berlin
Anmerkung
Das vorstehende Urteil ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.
Zunächst ist leider – wie in den allermeisten Fällen beim Sozialgericht – die extrem lange Verfahrensdauer zu beklagen. Seit Antragstellung beim Landesamt für Gesundheit und Soziales bis zum rechtskräftigen Urteil sind über siebeneinhalb Jahre vergangen. Die Betroffene stand mehrmals kurz vor der Resignation, war am Ende ihrer psychischen und finanziellen Kräfte und wollte selbst nach dem positiven erstinstanzlichen Urteil den Antrag zurücknehmen, nachdem im Berufungsverfahren ein weiteres Jahr ohne Leistungen der Behörde ins Land gegangen war.
Die Durchsicht von Urteilen ergibt, dass in den allermeisten Fällen mit einer Verfahrensdauer nicht unter fünf Jahren zu rechnen ist. Möglicherweise ist auch damit der signifikante Rückgang der Anträge nach dem OEG zu erklären. Zwischen 2008 und 2017 sank die absolute Zahl von Anträgen um ca. 5500. Im Jahr 2008 wurde noch in 10,57 % der in der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik erfassten Gewalttaten ein Antrag nach dem OEG gestellt, in 2017 nur noch in 8,81 % bei gleichzeitig deutlichem Rückgang der erfassten Gewalttaten. Der Anteil an Anerkennungen der Anträge sank in dieser Zeit von 37,46 % auf 27,39 % (zitiert nach https://weisser-ring.de/media-news/publikationen/statistiken-zur-staatlichen-opferentschaedigung, abgerufen am 03.07.2019).
Antragsteller*innen sind also gut darauf vorzubereiten, welch zermürbende, langwierige Angelegenheit ein Antrag nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) bedeutet.
Sodann ist an dem Urteil bemerkenswert, dass die zuständigen Behörden offenbar immer wieder Ansprüche der Betroffenen von häuslicher Gewalt unter Berufung auf § 2 Abs. 1 S. 1 OEG ablehnen.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat bereits vor einigen Jahren seine bisherige Rechtsprechung aufgegeben und stellt heraus: „Der Aufenthalt in einem offenbar von erhöhter Gewaltbereitschaft geprägten Gefängnismilieu ist zwar Folge der eigenen Straftat des Gewaltopfers. Dieser Umstand ist aber nicht so gewichtig wie eine – annähernd – gleichwertige Mitverursachung der eigenen Schädigung.“ (BSG, Urteil vom 29. März 2007 – B 9a VG 2/05 R –, BSGE 98, 178-183, SozR 4-3800 § 2 Nr 2, Rn. 18) Diese Feststellung sollte eigentlich unschwer auf eine von erhöhter Gewaltbereitschaft geprägte partnerschaftliche Beziehung übertragen werden können.
Leider sind trotz der recht eindeutigen aktuellen Rechtsprechung des BSG in den einschlägigen Datenbanken zahlreiche Urteile zu finden, mit denen ablehnende Bescheide aufgehoben und die Behörden erst von den Gerichten verpflichtet werden müssen, Betroffenen die ihnen zustehenden Leistungen zu gewähren.
Auch in diesem Fall meinte die Behörde, die Klägerin habe in hohem Maße vernunftwidrig gehandelt und es in grobfahrlässiger Weise unterlassen, eine höchstwahrscheinlich zu erwartende Gefahr von sich abzuwenden. Der Verbleib in einer Beziehung selbst nach nur einmaligem gewalttätigen Übergriff wird demnach als Beitrag zur eigenen Verletzung angesehen, der von seinem Gewicht her mit dem rechtswidrigen Verhalten des Angreifens vergleichbar ist.
Antragsteller*innen sind daher auch darauf vorzubereiten, dass ihnen die Verantwortung für eine harmonische Beziehung auferlegt wird.
In dem Fall, der dem obigen Urteil zugrunde liegt, hatte die Behörde vorgetragen, es sei für die Versagung von Leistungen ausreichend, dass die Antragstellerin die Gefahr einer Körperverletzung hätte erkennen und vermeiden können. Die Beziehung zu ihrem Partner sei konfliktbeladen gewesen (ohne aber dass es je zuvor körperliche Übergriffe gegeben hat!). Sie hätte einen Streit nicht fortsetzen, sondern sich entfernen sollen.
Daraus kann für die Zukunft nur geschlossen werden, dass eine Frau stets mit gewalttätigen Angriffen zu rechnen hat, wenn sie es wagt, sich mit ihrem Partner zu streiten. Zugleich liegt darin offenbar immanent der Verzicht auf Leistungen wegen nachfolgender Gewalttaten.
Das Bundessozialgericht führte aus: „Aufgabe des Staates ist es unter anderem, den Bürger vor Gewalttaten zu schützen. Kann er dieser Aufgabe nicht gerecht werden, so besteht ein Bedürfnis für eine allgemeine Entschädigung (vgl BT-Drucks 7/2506 S 7). Stellt sich jemand jedoch bewusst außerhalb der staatlichen Gemeinschaft, so kann er – wenn sich die damit verbundene Gefahr verwirklicht – keine staatlichen Leistungen verlangen.“ (BSG, vom 6.7.2006, B 9a VG 1/05 R). Dieser Entscheidung lag ein Fall im Drogenmilieu zugrunde, in dem einem Drogendealer nach vorheriger Provokation von einem Kunden in den Rücken geschossen worden war.
Analog wird also Betroffenen von häuslicher Gewalt unterstellt, sie hätten sich bewusst außerhalb der staatlichen Gemeinschaft gestellt und damit die eigene Schädigung mitverursacht oder ihre Entschädigung wäre aus sonstigen Gründen unbillig.
Dagegen verlangt das Familienrecht jedoch bis heute selbst bei häuslicher Gewalt vor einer Scheidung die Einhaltung eines Trennungsjahres, häufig ohne dabei eine Zuweisung der Ehewohnung zugunsten der Betroffenen vorzunehmen.
Um Leistungen nach dem OEG erhalten zu können, müsste sich die betroffene Person trennen und jeden Kontakt mit dem Schädiger vermeiden, zugleich wird sie jedoch vom Familiengericht oft auch wegen gemeinsamer Kinder zur Aufrechterhaltung von Kontakten und dem Eingehen der Gefahr von weiteren Körperverletzungen gezwungen. Diese Diskrepanz wird auf dem Rücken von Gewalt betroffener Frauen ausgetragen. Jeweils zu Lasten der Frau. Hieran wird sich leider auch durch die beabsichtigte Reform des sozialen Entschädigungsrechts nichts ändern, da an der Formulierung der bestehenden Leistungsausschlüsse festgehalten werden soll (vgl. Daniela Schweigler, STREIT 1/2018, S.9).
Schließlich ist anzumerken, dass das Urteil im Internet zu finden ist unter dem Schlagwort „Versagung“ und in der „juris“-Datenbank die „Orientierungssätze“ wie folgt formuliert wurden:
„1. Die Gewährung von Opferentschädigung ist nach § 2 Abs. 1 OEG ausgeschlossen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, eine Entschädigung zu gewähren. (Rn.23)
2. Eine rechtserhebliche Mitverursachung ist nur dann anzunehmen, wenn das eigene Verhalten des Opfers eine annähernd gleichwertige Bedingung neben dem Beitrag des rechtswidrig handelnden Angreifers darstellt. Eine zum Leistungsausschluss führende leichtfertige Selbstgefährdung setzt einen erhöhten Grad von Fahrlässigkeit voraus, welcher der groben Fahrlässigkeit i. S. des BGB entspricht. (Rn.24)
3. Leistungen des OEG sind wegen Unbilligkeit auch dann zu versagen, wenn sich das Opfer der Gefahr einer Gewalttat bewusst oder leichtfertig aussetzt oder sich einer von ihm erkannten oder leichtfertig verkannten Gefahr nicht entzieht, obwohl ihm dies zumutbar möglich wäre (BSG Urteil vom 18. 4. 2001, B 9 VG 3/00 R).(Rn.28)“
(Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10. Januar 2019 – L 13 VG 3/18 –, juris)
Mit dieser Zuordnung zu dem Schlagwort und Formulierung der Orientierungssätze wird das Auffinden dieses positiven Urteils unnötig erschwert. Statt hervorzuheben, dass der Geschädigten von häuslicher Gewalt in diesem Fall Leistungen – sogar in beträchtlicher Höhe – gewährt wurden und ihr eine rechtserhebliche Mitverursachung gerade nicht entgegengehalten wurde, werden die hier nicht zum Tragen kommenden Ausführungen des LSG zur Versagung von Leistungen zitiert. Es ist offenbar dringend zu empfehlen, in den Datenbanken immer auch das Gegenteil von dem zu suchen, was man braucht.
Rain Theda Giencke, Berlin