STREIT 2/2019
S. 85-89
Buchbesprechung: Ute Gerhard: Für eine andere Gerechtigkeit. Dimensionen feministischer Rechtskritik
Frankfurt a.M.: Campus, 2018.
„Es erben sich Gesetz und Recht wie eine ew‘ge Krankheit fort“. Dieses Zitat aus Goethes Faust, das Fragen nach dem Verhältnis von Recht und Rechtswirklichkeit im Zeitverlauf thematisiert, wählte Ute Gerhard 1983 als Titel eines Aufsatzes über die Gleichberechtigung der Geschlechter.1 Damit sind zugleich zentrale Aspekte angesprochen, die sich auf vielfältige Weise wie rote Fäden durch Ute Gerhards Arbeiten als Soziologin und Juristin ziehen, die zudem umfangreiche und sehr wertvolle (zeit-)historische Forschung geleistet hat.2
Ute Gerhard wurde 1939 geboren und studierte Rechtswissenschaften, Soziologie und Neuere Geschichte. Nach dem ersten juristischen Staatsexamen schloss sie noch ein Studium der Sozialwissenschaften an. 1977 wurde sie durch die Universität Bremen promoviert (Dr. phil.)3
, wo sie anschließend wissenschaftliche Mitarbeiterin war. Nach einer Professurvertretung in der Rechtswissenschaft in Hamburg (Familienrecht) zog es sie zurück in die Soziologie, in der sie an verschiedenen Universitäten forschte und sich 1987 in Hannover habilitierte.4
Seit 1987 hatte Ute Gerhard nach Überwindung erheblicher Widerstände die deutschlandweit erste „Gender-Professur“ inne, die freilich damals noch nicht so hieß: Bis 2004 lehrte und forschte Gerhard im Rahmen ihrer Professur für Soziologie mit dem Schwerpunkt Frauen-und Geschlechterforschung an der Frankfurter Goethe-Universität. 1997 war sie Initiatorin und Mitbegründerin und bis 2004 geschäftsführende Direktorin des Cornelia Goethe-Centrums für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse an der Universität Frankfurt.
Umfang und Breite von Ute Gerhards Forschung sind immens; ihre Publikationsliste kann neben Hochachtung auch gemischte Gefühle auslösen. So entdeckte ich, dass Ute Gerhard sich bereits 1983 – damals war ich ein Baby – mit der rechtlichen und finanziellen Situation der Frauenhäuser beschäftigte.5
Weil diese Situation noch immer prekär und inadäquat ist, beschäftige ich mich mit diesen Fragen noch heute. An schlechten Tagen kann eine*n angesichts eines solchen (gefühlten) Stillstands Verzweiflung ergreifen. An besseren Tagen überwiegt das Gefühl einer engen Verbundenheit mit den feministischen Vor-Generationen.
Der Topos der Generationen überwölbt auch das Werk Ute Gerhards, die selbst drei Töchter hat.6
Das gilt auch für ihr 2018 erschienenes Buch Für eine andere Gerechtigkeit. Dimensionen feministischer Rechtskritik. Mit diesem Band hat Ute Gerhard eine Auswahl aus ihrer jahrzehntelangen Forschung zur sozialwissenschaftlich-feministischen Analyse des Rechts vorgelegt. Leser*innen, die mit Ute Gerhards Arbeiten vertraut sind, bietet das Buch eine kompakte Zusammenführung ihrer wichtigsten Forschungsgegenstände und Überlegungen. Für Neueinsteigerinnen ist es eine wahre Fundgrube an Ideen, Fragestellungen und Denkansätzen, in die es sich unbedingt einzutauchen lohnt. Die vielen weiterführenden Hinweise und Literaturangaben laden zudem zur Vertiefung in frühere Arbeiten Ute Gerhards oder auch anderer Autorinnen ein.
Die Autorin kündigt in der Einleitung „Resultate [ihrer] interdisziplinären Arbeiten“ an, wobei sie deren Unabgeschlossenheit und die methodischen Probleme interdisziplinärer Forschung offenlegt. Ute Gerhard positioniert sich in diesem Buch deutlich – das ist keine Überraschung – als Frau der Zweiten oder Neuen Frauenbewegung, scheut aber die Auseinandersetzung mit den Fragen und Konzepten der Nachfolgegenerationen nicht. Im Gegenteil: Sie stellt sich der Diskussion sehr überlegt, sachlich und zugewandt, stets im Bestreben, das Verbindende zu suchen und zu finden, die „langen Wellen“ im Blick zu behalten.7 Zugleich macht sie aber ihren Standpunkt klar und erläutert auch, weshalb sie manche Schritte der jüngeren Generationen nicht mitgehen kann. Bereits in der Einleitung bekennt sich Ute Gerhard zu den Analysekategorien Frau und Geschlecht, die sie angesichts gemeinsamer Unrechtserfahrungen und (Fremd-) Zuschreibungen für weiterhin aktuell erachtet. Sie kritisiert die um sich greifende Praxis, Frau nur noch mit (Frau) oder in Anführungszeichen („Frau“) zu schreiben. In diesem Buch hat sich Ute Gerhard für den Gender Gap (z.B.: Jurist_innen) entschieden. Im weiteren Verlauf des Kapitels zur Frauenbewegung in der Bundesrepublik deutet sie angesichts der fortgeschrittenen Verschmelzung von Feminismus und poststrukturalistischen Identitäts- und Anerkennungspolitiken ein gewisses Unbehagen an. Sie plädiert für Solidarität über die eigene „Identitätsgrenze“ hinweg und dafür, den Kampf für eine insgesamt freiere Gesellschaft angesichts disparater gruppenbezogener Ziele nicht aus den Augen zu verlieren.8
Mehrere Kapitel des Buches sind – jeweils mit unterschiedlichem Fokus – den Frauenbewegungen und der Entwicklung feministischer Konzepte und Diskurse gewidmet. Der Abschnitt zur Entwicklung der Frauenbewegung in der Bundesrepublik Deutschland (S. 19 ff.) beginnt mit der das erste Nachkriegsjahrzehnt prägenden „Krise der Männlichkeit“ und der in Reaktion hierauf einsetzenden Restaurierung und Re-Familialisierung. Entwicklungen, denen wir uns heute – wenn auch in anderem Gewand – wieder gegenübersehen. Hervorzuheben ist, dass Ute Gerhard als „West-Frau“ sich immer wieder intensiv mit der ostdeutschen Frauenbewegung beschäftigt hat9
, was auch in dieses Buch eingeflossen ist. Die Autorin zeichnet die Gegenläufigkeit und die systempolitische Aufladung der Frauen- und Familienpolitiken in DDR und BRD nach und macht deutlich, dass mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten verschiedene Grundverständnisse von Feminismus aufeinandertrafen, mit Folgen bis heute. Sehr anschaulich wurde dieser Befund in Angela Merkels Weigerung auf dem W20-Gipfel 2017, sich selbst als Feministin zu bezeichnen. Für die Zeit seit 1990 sieht Ute Gerhard eine verstärkte Neoliberalisierung des Feminismus sowie eine Relativierung und einen Bedeutungsverlust der Kategorie Geschlecht durch den zunehmenden Anspruch auf Intersektionalität.
Hier ist ein Unbehagen der Autorin gegenüber der jüngeren Entwicklung zu spüren. Auch wenn sie die theoretischen Grundlagen des Intersektionalitäts-Ansatzes durchaus für berechtigt hält, kritisiert sie, dass dessen genauere Implikationen im Dunkeln bleiben. Den Analysen Judith Butlers attestiert Gerhard, sich radikal zu geben, dabei aber ahistorisch zu sein und die Vorläuferinnen zu ignorieren. Ute Gerhard plädiert dafür, Feminismus wieder mehr als politisch-praktische Bewegung aufzufassen und die Möglichkeiten der Wissenschaft nicht zu überschätzen. Das ist für eine derart renommierte Wissenschaftlerin bemerkenswert; es zeugt von der sympathischen und wichtigen Fähigkeit, Distanz zum eigenen Tun einnehmen zu können. Insbesondere die Gender Studies sieht Gerhard in eine zunehmende (Selbst-)Isolation abgleiten.
Interessant ist der Vergleich der Privatrechtsentwicklung im 19. Jahrhundert in verschiedenen europäischen und z.T. auch außereuropäischen Rechtskreisen (S. 133 ff.). Mit dem Vergleich soll nach der Autorin das Recht in seiner Bedeutung und Wirkungsweise für die Geschlechterverhältnisse analysiert werden. Auch wenn das Kapitel für diese hohe Zielsetzung meines Erachtens nicht tief genug geht – was im gegebenen Rahmen auch kaum möglich ist –, ist der Vergleich für sich genommen allemal sehr erhellend. So zeigt Ute Gerhard etwa auf, dass das Preußische Allgemeine Landrecht bis zur Restauration eines konservativen Ehekonzepts Mitte des 19. Jahrhunderts unter Friedrich Carl von Savigny vergleichsweise frauenfreundlich war mit einem relativ liberalen Scheidungsrecht und der Absicherung nicht-ehelicher Kinder. Demgegenüber bewertet die Autorin den französischen Code civil von 1804 als rigide und misogyn mit seiner absoluten Vorrangstellung des Ehemanns und Vaters und der Rechtlosigkeit nicht-ehelicher Kinder und deren Mütter. Eine ebenfalls besonders unwürdige Rechtsstellung bis ins 19. Jahrhundert konstatiert Gerhard für verheiratete Frauen im Englischen Common Law, wo die Eheschließung den „bürgerlichen Tod“ der Frau, ihre Annulierung als Rechtsperson, bedeutete.
Für „klassische“ Juristinnen dürfte diese Darstellung besonders interessant sein, weil sie sowohl in zeitlicher als auch in räumlicher Hinsicht den Blick weitet. Interessierte finden hier Anregungen und zum Teil auch weiterführende Hinweise zur Vertiefung, denn Vieles kann im Rahmen dieses Kapitels nur angerissen werden. So deutet die Autorin bei der Darstellung des Familienrechts im zaristischen Russland nur an, dass die Rechtsposition von Frauen – das überrascht nicht – mit der Oktoberrevolution 1917 umfassende Änderungen erfuhr, die aber im gegebenen Rahmen dann nicht näher erläutert werden.
Einen wichtigen Topos für Ute Gerhards Arbeit bildet die Anknüpfung an – vor allem – weibliche Unrechtserfahrungen.10
Auch hier zeigt sich ihre Verwurzelung in der Neuen Frauenbewegung, zu der sie sich auch in diesem Zusammenhang bekennt. Denn es waren die consciousness raising groups, die Selbsterfahrungsgruppen in den Frauenzentren der 1970er-Jahre, die eine zentrale Rolle für die Entwicklung eines Sprech-, Erkenntnis- und damit auch Veränderungspotenzials spielten, für die Erkenntnis, dass das Private politisch ist, dass es nicht nur um individuelle, sondern um strukturelle Fragen geht. Wie aktuell das Bedürfnis ist, Worte für Erlebtes zu finden, haben in der jüngeren Vergangenheit unter anderem #Aufschrei und #metoo gezeigt. Es überzeugt daher, wenn Ute Gerhard dezidiert am Konzept der Unrechtserfahrung festhält. Gegenüber poststrukturalistischer Kritik, die auf die diskursive Herstellung von Erfahrung verweist, betont sie zu Recht die nicht- bzw. vorsprachlichen Dimensionen von Erfahrung, insbesondere deren körperliche und emotionale Aspekte.
Für Ute Gerhard bilden Erfahrungen strukturellen Unrechts insbesondere den Ausgangspunkt für menschenrechtliche Forderungen und Gewährleistungen. Davon ausgehend zeichnet sie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als Geburtsstunde moderner Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg nach und spart auch Heikles in diesem Zusammenhang nicht aus wie wiederkehrende Eurozentrismus-Vorwürfe und das Thema Frauenrechte im Islam.11
Sie lehnt den Scharia-Vorrang der Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam ab und betont die alternativen Ansätze feministischer Islamwissenschaftler*innen. Am Beispiel der Entstehungsgeschichte der UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) und der ersten Weltfrauenkonferenz der UN in Mexiko 1975 ermutigt Ute Gerhard zu pragmatischen Vorgehensweisen, die trotz unterschiedlicher Erfahrungshorizonte und feministischer Konzepte zu gemeinsamen Positionen führen können, wenn der Fokus auf die geteilten Unrechtserfahrungen gelegt wird.
Überhaupt hält Ute Gerhard große Stücke auf die Gestaltungskraft der Menschenrechte.12
Im Kapitel zu Frauenrechten als Menschenrechte (S. 97 ff.) ist der Enthusiasmus der Autorin angesichts des Erreichten beim Lesen deutlich zu spüren. Einen Meilenstein sieht Gerhard hier neben der Verabschiedung von CEDAW 1979 in der Weltfrauenkonferenz über Menschenrechte in Wien 1993, die sie als Durchbruch bei der Implementation der Frauenrechte im allgemeinen Menschenrechtsdiskurs beschreibt, mit der Fortsetzung in Peking 1995. Doch auch bei aller Freude über die menschenrechtlichen Fortschritte verschweigt die Autorin die gleichzeitige Ernüchterung angesichts vieler weiterhin uneingelöster Forderungen nicht. Die unverminderte Aktualität etwa der epidemischen Gewalt gegen Frauen lässt sich ja auch schwer leugnen, wie etwa die Resolution des UN-Sicherheitsrats vom April 2019 gegen sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten zeigt.
Insgesamt ähnlich hoffnungsvoll liest sich auch das der anderen überstaatlichen Rechtsebene gewidmete Kapitel zur Europäischen Union (S. 219 ff.). Zwar eröffnet Ute Gerhard das Kapitel mit dem Befund einer Krise der Union, die sie insbesondere an der diskursiven Zuspitzung des Konzepts vom Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. 67 ff. AEUV) auf die Migrationsabwehr und den Rückbau von Freiheit und Solidarität festmacht. Umso nachdrücklicher schließt sich aber sodann ihr Plädoyer an, die Dimensionen von Freiheit und Recht wieder stärker zu machen. Ute Gerhard sieht in der europäischen Stärkung der Frauenrechte ein Beispiel für die Entwicklung eines „Mehr an Rechten“ aus der anfänglich dominierenden Marktorientierung des Gemeinschaftsrechts. Auch wenn Gerhard einräumt, dass die zweifellos gestärkten Gleichheitsrechte ebenfalls stark marktorientiert sind, überwiegt hier der ergebnisorientierte Pragmatismus der Autorin. So begrüßt sie unumwunden, dass das vielfach beklagte Demokratiedefizit der Union der Verbesserung der Rechtsstellung von Frauen im Ergebnis mehr genützt als geschadet habe. Große Bedeutung für diese Entwicklung sieht die Autorin in der kasuistischen Entwicklung der rechtlichen und tatsächlichen Gleichstellung der Geschlechter durch den EuGH (Stichwort: mittelbare Diskriminierung) sowie im Beitritt Schwedens und Finnlands und deren Übernahme sozial- und gleichstellungspolitischer Vorreiterrollen. Ute Gerhard entfaltet zum Ende des Europa-Kapitels ihre Hoffnungen auf die europäische feministische Zivilgesellschaft jenseits von Institutionen und Rechtsnormen.13 Angesichts des aktuellen europaweiten Rechtsrucks, mit dem starke Bestrebungen zur Restauration klassischer Geschlechter- und Familienbilder einhergehen, erscheint dies dringlicher denn je.
Für mich als soziologisch interessierte Juristin war das interessanteste Kapitel der Text zur Rolle von Frauen in der Entwicklung der Soziologie als wissenschaftliche Disziplin, der auf einem Vortrag der Autorin auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) 2010 basiert.14
Ute Gerhards Kernthese ist hier, dass das Verschweigen und Ausblenden der Beiträge von Frauen aus dem soziologischen Diskurs zu defizitären und falschen Gesellschaftsanalysen geführt hat. Gerhard bezeichnete diese These in ihrem Vortrag als „kühn“ – mir erscheint dieser Schluss hingegen geradezu zwingend. Vielleicht haben wir es hier mit einem guten Beispiel für das erfolgreiche Mainstreaming vormals randständiger feministischer Positionen zu tun. Das wäre die optimistische Lesart. Eventuell handelt es sich aber auch um einen erschreckenden Hinweis auf das noch 2010 herrschende Selbstverständnis in der DGS.
Ute Gerhard zeichnet die ursprüngliche Misogynie seit den Anfängen der Soziologie ebenso nach wie die frühen Kämpfe gegen diese abwertenden und apologetischen Grundhaltungen, etwa am Beispiel von Jenny P. d‘Héricourt (1809 – 1875). Überhaupt widmet sich Gerhard intensiv der Bedeutung verschiedener Frauen als Pionierinnen der empirischen Sozialforschung um 1900, die mangels Zulassung zu den Universitäten häufig Autodidaktinnen und beim Publizieren auf männliche Unterstützung angewiesen waren. Beeindruckend skizziert Gerhard etwa die Arbeit von Rosa Kempf (1874 – 1948), einer Vorreiterin bei der Entwicklung der Methodik teilnehmender Beobachtung. Interessant wäre es hier, den derzeit wieder sehr aktuellen Methoden-Graben in der Soziologie zwischen dem quantitativen und dem qualitativen Lager einmal näher in seiner Gender-Dimension zu analysieren.15
Auch die in Wien geborene jüdische Soziologin Viola Klein (1908 – 1973) würdigt Ute Gerhard in diesem Kapitel. Ihre wissenssoziologische Arbeit über „The Feminine Character. History of an Ideology“ (1946) wurde lange Zeit zu wenig bis gar nicht rezipiert. Gerhard zeigt, wie es Viola Klein trotz ihrer Rolle als außeruniversitäre Außenseiterin in beeindruckender Weise gelang, über Jahrzehnte hinweg wichtige Studien zur Soziologie der Geschlechter durchzuführen und zu publizieren.
Eine bedeutende Stellung in Ute Gerhards Forschung nehmen Arbeiten zum Verhältnis von Familie und Sozialstaat für die Verwirklichung einer (geschlechter-)gerechten Gesellschaft ein.16
Mehrere Kapitel des Buches widmen sich unter verschiedenen Gesichtspunkten diesem Themenkreis.
Zu Beginn des Kapitels zur Vielfalt von Familienformen17
(S. 277 ff.) konstatiert die Autorin, dass diese Vielfalt gar nicht so neu ist wie häufig behauptet wird. Diese Darstellung nennt Gerhard historisch kurzschlüssig, denn erst nach dem zweiten Weltkrieg seien die Familiennormen enger geworden. Ute Gerhard meint, dass im familienpolitischen Diskurs in Deutschland bevölkerungspolitische Argumentationsmuster historisch diskreditiert seien. Diesen Befund kann ich – leider – nicht teilen. Mag es ein entsprechendes Tabu in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch gegeben haben, wurde dieses spätestens in den letzten 15 bis 20 Jahren rigoros geschleift. Spätestens seit der Demografie-Hysterie in der Sozialstaatsdebatte seit Anfang der Nuller-Jahre ist eine deutliche Hinwendung zu offen bevölkerungspolitischen Diskursen zu verzeichnen, die zudem deutlich rassistische (z.B. Sarazzin) und auch klassistische Züge tragen, wie sie etwa in den Diskursen zum Elterngeld deutlich zutage getreten sind. Inzwischen wird kaum noch verschleiert, wer gemeint ist, wenn der Wert der Familie ostentativ beschworen wird, und wer nicht.
Überraschenderweise entfaltet Ute Gerhard ausgerechnet unter der Überschrift der „neuen Vielfalt der Familienformen“ einen wenig inklusiven Familienbegriff, aus dem Menschen ohne eigene Kinder faktisch ausscheiden. Wenn sie feststellt, „dass ein scharfer Riss durch die Gesellschaften geht und zwar zwischen denen, die für Kinder und andere Familienangehörige sorgen, und denen, die keine Kinder haben und damit „dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen‘“ (S. 286), impliziert dies, dass Menschen ohne eigene Kinder für niemanden sorgen (können/wollen). Wird nicht der Riss, den die Autorin konstatiert, auch durch das beliebte Bild von den hedonistischen Kinderlosen vertieft, das auch Ute Gerhard hier – vielleicht unbeabsichtigt – reproduziert?
Diese Engführung des Familienbegriffs erstaunt umso mehr, als Ute Gerhard sich seit vielen Jahren dafür einsetzt, das Konzept von Care im umfassenden Sinne fürsorglicher Praxis in der Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und wohlfahrtsstaatlicher Politiken zu verankern.18
Auch im vorliegenden Buch widmet sie dem Care-Diskurs und seinen analytischen Potenzialen ein Kapitel (S. 321 ff.). Nach dem Versuch einer Klärung des oft schwer greifbaren Care-Begriffs wirbt Gerhard dafür, Care als Schlüsselkonzept sozialpolitischer Debatten zu denken und zu thematisieren. Mit Nancy Fraser plädiert sie für die „universelle Betreuungsarbeit“, also für die gleiche Einbeziehung aller Geschlechter in Sorgeverpflichtungen, was neue Männerrollen und eine völlig andere Arbeitsorganisation voraussetzt. Interessant, wenn auch in diesem Rahmen nur angedeutet, sind auch Gerhards Überlegungen zu Care als subjektivem (Bürger*innen-/Menschen-)Recht.
Das Care-Kapitel mündet in Ute Gerhards Schlusswort, in dem sie auf den Titel des Bandes zurückkommt und ihre Utopie einer „anderen Gerechtigkeit“ zusammenfassend skizziert. Sie möchte festhalten an den Ideen von Freiheit und Gleichheit, auch wenn ihr bewusst ist, dass diese Konzepte andro- und eurozentrisch kontaminiert sind. Sie ermutigt dazu, die Fortentwicklung des Gleichheitskonzepts weiter voranzutreiben – von der formalen Gleichberechtigung zur materialen Gleichheit im Sinne einer Ergebnisgleichheit und eines Dominierungs- und Hierarchisierungsverbots. Dabei sollten Gleichheit und Freiheit nach Gerhard nicht als Gegensatz, sondern als einander bedingende und ergänzende Voraussetzungen einer demokratischen Gesellschaft gedacht werden.
Es werden wohl noch viele weitere Generationen an dieser „anderen Gerechtigkeit“ arbeiten, sich bisweilen abarbeiten. Ute Gerhards Arbeit führt eindrücklich vor Augen, dass wir dafür einen langen Atem brauchen. Wir sollten in Ute Gerhards Sinne in den „langen Wellen“ denken, damit uns nicht die Puste ausgeht. Und – noch wichtiger – wo immer es geht, das Verbindende suchen.
- Ute Gerhard, „Es erben sich Gesetz und Recht wie eine ew‘ge Krankheit fort...“ Über die Probleme der Gleichberechtigung von Frauen, in: Widersprüche 6/1983, S. 33-41. ↩
- Vgl. etwa Ute Gerhard, Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit, Familie und Rechte der Frauen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1978; Ute Gerhard, Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung, Reinbek 1990; Ute Gerhard (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997; Ute Gerhard, Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789, München 2012. ↩
- Ute Gerhard, Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit, Familie und Rechte der Frauen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1978. ↩
- Ute Gerhard, Gleichheit ohne Angleichung. Frauen im Recht, München 1990. ↩
- Ute Gerhard, „Droht das Aus fürs Frauenhaus?“ – Bestandsaufnahme zur Situation der autonomen Frauenhäuser. Rechtliche und finanzielle Forderungen, in: Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V. (Hrsg.), Sensbachtal 1983, S. 3-18. ↩
- Vgl. etwa Ute Gerhard, Die Töchter der Emanzipation. Das Generationenproblem in der Frauenbewegung, in: Sybille Becker u.a. (Hrsg.), Das Geschlecht der Zukunft. Frauenemanzipation und Geschlechtervielfalt, Stuttgart/Berlin/Köln 2000, S. 15-28; Ute Gerhard, Nachfolge in der Frauenbewegung – Generationen und sozialer Wandel, in: Journal Neue soziale Bewegungen, 2006, S. 24-37. ↩
- Vgl. Ute Gerhard, Die „langen Wellen“ der Frauenbewegung – Traditionslinien und unerledigte Anliegen, in: Regina Becker-Schmidt/ Gudrun-Axeli Knapp (Hrsg.), Das Geschlechterverhältnis als Gegenstand der Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 1995, S. 247-278. ↩
- Siehe dazu näher: Ute Gerhard, Gleichheit ohne Angleichung. Frauen im Recht, München 1990. ↩
- Vgl. etwa Ute Gerhard, Die staatlich institutionalisierte „Lösung“ der Frauenfrage. Zur Geschichte der Geschlechterverhältnisse in der DDR, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/ Helmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 383-403; Ute Gerhard/Ingrid Miethe, Debatten und Missverständnisse unter Feministinnen aus Ost- und Westdeutschland in der Nachwendezeit – ein nachholender Dialog, in: Ingrid Miethe/Claudia Kajathin/Jana Pohl (Hrsg.), Geschlechterkonstruktionen in Ost und West, Münster 2004, S. 325-344. ↩
- Vgl. Ute Gerhard, „Unrechtserfahrungen“ – Über das Aussprechen einer Erfahrung mit Recht, das (bisher) keines ist, in: Susanne Opfermann (Hrsg.): Unrechtserfahrungen. Geschlechtergerechtigkeit in Gesellschaft, Recht und Literatur, Königstein i.T. 2007, S. 11-30. ↩
- Siehe dazu auch: Ute Gerhard/Mechthild Rumpf/Mechtild Jansen (Hrsg.), Facetten islamischer Welten. Geschlechterordnungen, Frauen- und Menschenrechte in der Diskussion, Bielefeld 2003. ↩
- Vgl. auch: Ute Gerhard, Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht, in: Stefan Batzli/Fridolin Kissling/Rudolf Zihlmann (Hrsg.), Menschenbilder – Menschenrechte. Islam und Okzident: Kulturen im Konflikt, Zürich 1994, S. 69-88. ↩
- Vgl. dazu bereits: Ute Gerhard, Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft und politische Gelegenheitsstruktur – Feministische Anfragen und Visionen, in: Ingrid Miethe/Silke Roth (Hrsg.), Europas Töchter. Traditionen, Erwartungen und Strategien von Frauenbewegungen in Europa, Opladen 2003, S. 41-61; Ute Gerhard, „Ein Raum der Freiheit?“ – Ansätze und Perspektiven des Konzepts europäischer Bürgerrechte, in: Feministische Studien 2003, S. 71-82. ↩
- Vgl. Ute Gerhard, Feministische Perspektiven in der Soziologie. Verschüttete Traditionen und kritische Interventionen, in: L‘Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 2013, S. 73-91, sowie: Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Transnationale Vergesellschaftungen. Verhandlungen des 35. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt am Main 2010, Wiesbaden 2013, Band 2, S. 757-773. ↩
- Ansätze dazu bei Stefan Hirschauer, Der Quexit. Das Mannemer Milieu im Abseits der Soziologie. In: Zeitschrift für theoretische Soziologie 2018, S. 153- 167. ↩
- Vgl. dazu insbesondere: Ute Gerhard/Alice Schwarzer/Vera Slupik (Hrsg.), Auf Kosten der Frauen. Frauenrechte im Sozialstaat, Weinheim 1988. ↩
- Vgl. dazu bereits: Ute Gerhard, Die neue Geschlechter(un)ordnung. Eine feministische Perspektive auf die Familie, in: Feministische Studien, 2010, S. 194-213. ↩
- Vgl. dazu insbesondere: Ute Gerhard/Karin Hausen (Hrsg.), Sich Sorgen – Care , L‘Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 1/2008; Ute Gerhard, Care als sozialpolitische Herausforderung moderner Gesellschaften – Das Konzept fürsorglicher Praxis in der europäischen Geschlechterforschung, in: Brigitte Aulenbacher/Birgit Riegraf/Hildegard Theobald (Hrsg.), Sorge: Arbeit, Verhältnisse, Regime – Care: Work, Relations, Regimes. Soziale Welt, Sonderband 20, Baden-Baden 2014, S. 67-88. ↩