STREIT 2/2019
S. 89
Heide Hering, Susanne von Paczensky, Renate Sadrozinski: Frauen in bester Verfassung
Aus: STREIT 4/1990, S. 158 f.
In beiden deutschen Staaten wurde – trotz ausdrücklicher Verfassungsgrundsätze – die Gleichberechtigung der Frauen bisher nicht verwirklicht. Weder in Regierungen und Parlamenten noch in den Entscheidungspositionen von Wirtschaft, Verwaltung, Rechtsprechung, Wissenschaft, Kultur und Medien beider Staaten sind Frauen so vertreten, wie es dem Gleichheitsgrundsatz entspräche. Die Arbeit von Frauen wird in vielen Bereichen geringer bewertet, als ihrer Bedeutung gerecht wird.
Ein Staat, der sich der Demokratie verpflichtet, darf nicht länger bei der Proklamation der Gleichberechtigung stehen bleiben. Er muß vielmehr aktiv die Teilnahme der Frauen am gesellschaftlichen Leben fördern und die Hindernisse abbauen, die dem entgegenstehen.
Eine neue deutsche Verfassung muß die folgenden Frauenrechte enthalten, die aufgrund der Defizite des Grundgesetzes formuliert wurden:
Die Grundrechte
I. Frauen und Männer sind gleichberechtigt.
Sie sollen in allen gesellschaftlichen Bereichen zu gleichen Teilen vertreten sein. Dieses Ziel wird durch Quotierung, Förderpläne oder andere geeignete Maßnahmen verwirklicht.
II. Jede Frau hat das Recht, zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft austrägt oder nicht.
Durch Aufklärung und durch Förderung angemessener Verhütung wirkt der Staat darauf hin, ungewollte Schwangerschaft zu vermeiden.
III. Frauen und Männer, die Kinder aufziehen, haben Anspruch auf staatliche Hilfe und gesellschaftliche Rücksichtnahme.
Kindererziehen darf keine Nachteile bringen, insbesondere nicht bei Ausbildung und Weiterbildung, im Erwerbsleben, bei der Alterssicherung oder bei der Wahrnehmung politischer Aufgaben.
Der Staat hat die Aufgabe, für jedes Kind angemessene Betreuungseinheiten zur Verfügung zu stellen.
IV. Gewalt gegen Frauen zu verhindern ist Aufgabe der Gemeinschaft.
Jede Frau hat das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung.
V. Die Arbeitsleistung der Frauen darf nicht geringer bewertet werden als die der Männer.
Ergänzungen bestehender Grundrechte
Zu Art. 5 (2) – Meinungsfreiheit
Neben der persönlichen Ehre muß auch die Würde von Frauen – als bisher diskriminierte Gruppe – geschützt werden.
Zu Art. 7 – Schulwesen
Abbau der Geschlechtsrollen-Fixierung ist Aufgabe der öffentlichen Erziehung.
Zu Art. 16 – Asylrecht
Frauen, die wegen ihres Geschlechts verfolgt werden, genießen Asylrecht.
Zu Art. 6 – Ehe und Familie
Der Schutz von „Ehe und Familie“ wird ersetzt durch Ziff. III.
Die Verfassung wird in einer Sprache formuliert, die deutlich macht, daß das Volk aus Männern und Frauen besteht.
April 1990
Dieses Manifest war das erste aus einer Reihe von Initiativen, die sich aus Anlass der Verhandlungen über den Einigungsvertrag zwischen BRD und DDR und im Hinblick auf die Forderungen nach einer neuen gemeinsamen Verfassung für die Aufnahme frauenspezifischer Grundrechte in die Verfassung einsetzten. Am 29.09.1990 fand in der Frankfurter Paulskirche ein Forum zum Thema „Frauen für eine neue Verfassung“ statt, veranstaltet von der ersten Frauendezernentin mit dem neu gegründeten Frauenreferat der Stadt Frankfurt und der ersten Professorin für Frauen- und Geschlechterstudien an der Universität Frankfurt, Ute Gerhard.