STREIT 2/2023
S. 93
Buchbesprechung: Christina Clemm: AktenEinsicht – Geschichten von Frauen und Gewalt
Antje Kunstmann Verlag, München 2020
Eine Reise in die Gerichtssäle der Republik, an Orte und zu Geschehen von Gewalt gegen Frauen, hat die Fachanwältin für Strafrecht und Familienrecht, Christina Clemm, mit ihrem Buch „AktenEinsicht“ unternommen und damit einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung geleistet. Mit sieben modifizierten Biografien und Beispielen aus ihrer langjährigen Praxis als Rechtsanwältin und speziell auch als Nebenklagevertreterin von Frauen, die von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind, hat die Juristin ungewöhnliche Einblicke in die alltägliche Praxis an deutschen Gerichten ermöglicht. Sie hat den Opferschutz nachvollziehbar gemacht, gezeigt, wie Gerichtsverfahren funktionieren und wo die Tücken und Fallstricke liegen. Deutlich wird, wie sehr Gewalt mit ungleichen Machtverhältnissen zu tun hat – auch vor Gericht. Wer als Täter einen guten Anwalt hat, der kann leichter das Strafmaß reduzieren und zum Beispiel auf Notwehr plädieren, wenn er übergriffig wurde.
Dabei will „AktenEinsicht“ nicht als juristisches Lehrbuch oder als Handbuch für junge Juristinnen verstanden werden. Es richtet sich an alle Frauen. Aber auch Anwältinnen oder Richterinnen, die in anderen Bereichen des Rechtswesens tätig sind, kann dieses Buch neue Erkenntnisse bringen. Viele Frauen, die sich bisher gut informiert glaubten und sich bereits mit dem Thema Gewalt gegen Frauen beschäftigt haben, schütteln nach der Lektüre des Buches ungläubig den Kopf. Sollte es wirklich immer noch so sein, dass sich unzählige Frauen aus Furcht vor den Verfahren, mit damit verbundenen Ungerechtigkeiten und Retraumatisierungen, erst gar nicht in die juristischen Mühlen begeben, obwohl es inzwischen rechtliche Verbesserungen wie das Gewaltschutzgesetz oder einen verbesserten Opferschutz gibt? Oder dass sie, nachdem sie den Mut zur Anzeige und Nebenklage aufgebracht haben, auf Richter oder Richterinnen mit wenig Verständnis für ihre Situation stoßen?
Clemm belässt es nicht dabei, Fälle zu schildern wie etwa den der aus Tschetschenien nach Deutschland geflüchteten Iryna, die während des Prozesses in ständiger großer Angst vor ihrem Ehemann und dessen Freunden lebt und die auf eine ungeduldige und wenig einfühlsame Richterin stößt. Die Autorin streut immer wieder grundsätzliche Erklärungen über die Hintergründe von juristischen Hürden ein. So erläutert sie, wie leicht es für die Verteidigung gewalttätiger Männer ist, eine Anklage wegen Mordes in eine wegen Totschlages abzumildern. „Das Mordmerkmal der Heimtücke bei Femiziden“, so schreibt sie, „wird oft verneint, da das Opfer aufgrund der vorerlebten Gewalt stets mit einem neuen Angriff rechnen musste und deshalb nicht arglos ist.“
Gewalt hat viele Gesichter und kommt in allen Schichten, sozialen Situationen und an allen Orten vor. Auch das verdeutlichen die unterschiedlichen Beispiele. Da ist die Tochter „aus gutem Hause“, die einem gewalttätigen Drogenhändler hörig wird. Da ist die Mutter eines Dreijährigen, die bei einer Wohnungsdurchsuchung Polizeigewalt erlebt, weil der auf Dienstreise befindliche Ehemann einen Strafzettel nicht bezahlt hat. Und da ist Alina, die als Prostituierte arbeitet und in ihren drei Jahren in Deutschland außer Wörtern wie „ficken, küssen, anal oder mit Kondom“ kein Deutsch gelernt hat und die vom Freund ihres Bruders brutal misshandelt wird.
In ihrem Nachwort schreibt Christina Clemm, dass die Ignoranz und Apathie weiter Teile der Gesellschaft sie im Laufe der Jahre immer wütender gemacht hätten. Obwohl durch Statistiken, Studien und Reportagen bekannt sei, dass jede dritte Frau einmal in ihrem Leben Opfer von Gewalt wird – besonders dann, wenn sie zudem People of Colour, Prostituierte, psychisch Beeinträchtige, Obdachlose oder Geflüchtete in Sammelunterkünften ist –, schauten die meisten weg und hätten sich offenbar mit der Alltäglichkeit von Hass und Gewalt gegen Frauen abgefunden. Viele der Betroffenen schweigen aus Scham, aus Furcht vor familiärer oder sozialer Ächtung oder aus Angst, während des Gerichtsverfahrens unter die Räder zu kommen. Diesen Frauen will Clemm eine Stimme geben, will die Debatte in der Öffentlichkeit weiter vorantreiben, damit endlich strukturelle Veränderungen geschaffen werden. Unter anderem fordert die Autorin, für RichterInnen und StaatsanwältInnen endlich verpflichtende Fortbildungen im Bereich des Opferschutzes einzuführen und Unterstützungsangebote für Betroffene auszubauen.
In Zeiten, in denen rechte Bewegungen weltweit erstarken, in denen Frauenhass, Rassismus, Antisemitismus und Menschenverachtung alltäglich seien, schreibt Clemm abschließend, „gilt es für alle Menschen, diesen mutig entgegen- und für eine gleichberechtigte Gesellschaft einzutreten. Dies wird ohne die Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt nicht möglich sein.“