STREIT 2/2023

S. 90-92

VG Bremen, § 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG

Flüchtlingseigenschaft für Iranerin mit westlich geprägtem Lebensstil

1. Eine Iranerin, die das Tragen eines Kopftuchs ablehnt, ist bei Rückkehr in den Iran schon aufgrund der Kontrollen am Flughafen der Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt.
2. Ein über dreijähriger Aufenthalt in Deutschland, Berufstätigkeit und finanzielle Unabhängigkeit weisen auf einen westlich geprägten Lebensstil hin.
(Leitsätze der Redaktion)

Urteil VG Bremen vom 30.11.2022 – 1 K 1527/20

Zum Sachverhalt:
Die Klägerin begehrt ihre Anerkennung als politischer Flüchtling […].

Zu den Gründen:
Die zulässige Klage ist begründet. Der Klägerin ist die Flüchtlingseigenschaft zuzusprechen, weil bei ihr die Voraussetzungen von § 3 Abs. 4 i. V. m. Abs. 1 AsylG erfüllt sind. […]
Die Situation von Frauen in Iran wurde vom Verwaltungsgericht Hamburg in seinem Urteil vom 20.7.2021 (10 A 5156/18 –, juris) eindrücklich beschrieben. Darauf wird Bezug genommen. Die Einschätzung wird durch die Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 16.2.2022 (S. 13 f.) und im übrigens auch vom 30.11.2022 (Seite 12 f.) bestätigt: „In rechtlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht sind Frauen in Iran vielfältigen weitreichenden Diskriminierungen unterworfen. Im „Global Gender Gap Report“ 2022 des World Economic Forum belegt Iran mit Platz 143 (von 146) einen der untersten Plätze. Seit Amtsantritt der Regierung von Staatspräsident Raisi gab es verschiedene Vorstöße zur Einschränkung von Frauenrechten. Im November 2021 trat ein Gesetz „zur Verjüngung der Bevölkerung“ in Kraft, welches das Recht auf Gesundheit und insb. die sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen und Mädchen massiv einschränkt. Im Sommer 2022 wurde die verstärkte Umsetzung des Verschleierungszwangs diskutiert, u.a. ist ein Verbot von Frauen in Werbespots erfolgt. […] Im September 2022 ist die 22-jährige Mahsa Amini aufgrund von körperlicher Misshandlung im Gewahrsam der Sittenpolizei gestorben. Im Rahmen der anschließenden Proteste, die sich anfangs vor allem gegen den Verschleierungszwang und gegen die rechtliche Diskriminierung von Frauen richteten, kam es nach Angaben von Menschenrechtsgruppen zu massiver Polizeigewalt und einer Festnahmewelle. In der Vergangenheit wurden bei Protesten gegen den Verschleierungszwang regelmäßig Frauen verhaftet, in einigen Fällen wurden auch besonders harte Haftstrafen verhängt; u.a. wurde im August 2019 eine Frauenrechtsaktivistin zunächst zu 24 Jahren Haft verurteilt (im Berufungsverfahren wurde die Haft auf 5 Jahre verkürzt). Bei Verstößen gegen die Bekleidungsvorschriften müssen Frauen mit Strafen rechnen. So kann etwa eine Frau, die ihre Haare oder die Konturen ihres Körpers nicht verhüllt, mit einer Freiheitsstrafe von zehn Tagen bis zwei Monaten und/oder Geldstrafe bestraft werden. Grundsätzlich ist auch die Verhängung von bis zu 74 Peitschenhieben wegen Verstoßes gegen die öffentliche Moral möglich; dazu kommt es nicht, wenn die Familien von der Möglichkeit des Freikaufs Gebrauch machen. Auch wenn es i.d.R. nur zu Verwarnungen kommt, ist die sogenannte Sittenpolizei „Gashte Ershad“ in Iran gefürchtet. Bei Kontrollen soll sie regelmäßig Gewalt anwenden.“ (Zu den aktuellen Protesten gegen diese Situation und der Reaktion des iranischen Staates darauf auch: Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung Oktober 2022 und BaMF, Briefing Notes vom 10.10.2022, S. 7 f. und 21.11.2022 S. 5 f.).
Ausweislich des Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 30.11.2022 stehen „die rechtliche Situation und die Politik der noch stärkeren Einschränkungen für Frauen und Mädchen im Gegensatz zur gesellschaftlichen Entwicklung: Frauenrechte werden insb. in der gebildeten Schicht offen diskutiert, Diskriminierungen in Frage gestellt und von mutigen Frauenrechtsaktivistinnen bekämpft. Junge Frauen sind in der Regel gut ausgebildet, Studierende an den Universitäten sind mehrheitlich weiblich.“
Es gehört jedoch „nur eine Frau dem Kabinett von Staatspräsident Raisi an, die Vizepräsidentin für Frauen- und Familienangelegenheiten Ensieh Khazali. Die ultrakonservative Politikerin gilt als Befürworterin der frühen Heirat von Mädchen. Von einigen staatlichen Funktionen (u. a. Richteramt, Staatspräsident) sind Frauen gesetzlich oder aufgrund entsprechender Ernennungspraxis aus- oder weitgehend ausgeschlossen. Laut offiziellen Angaben liegt die Arbeitslosenrate bei Frauen bei 17,7%, unter Frauen mit höherer Bildung liegt sie noch deutlich darüber. Die ultrakonservative Regierung wird die Integration von gut ausgebildeten Frauen in den Arbeitsmarkt nicht vorantreiben, weil sie die traditionelle Rolle der Frau in der islamischen Familie stärken und die Geburtenrate erhöhen will. Vor allem für alleinerziehende Mütter hat die Regierung erste Programme gestartet, um ihnen eine wirtschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Das iranische Recht ist vom Bild einer dem (Ehe-)Mann untergeordneten (Ehe-)Frau geprägt, was sowohl in Fragen der Selbstbestimmung, des Sorgerechtes, der Ehescheidung als auch des Erbrechts zu erkennen ist. Im Straf- bzw. Strafprozessrecht sind Frauen bereits mit neun Jahren vollumfänglich strafmündig (Männer mit 15 Jahren), ihre Zeugenaussagen werden hingegen nur zur Hälfte gewichtet. Verschiedene gesetzliche Verbote machen es Frauen unmöglich, im gleichen Maße wie Männer am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen: Strenge Kleiderordnung, Verbot des Zugangs zu Sportveranstaltungen, Genehmigungsvorbehalt des Ehemannes oder Vaters bezüglich Arbeitsaufnahme oder Reisen. Obwohl Frauen im August 2022 erstmalig auf Druck der FIFA ein Fußball-Ligaspiel im Stadion verfolgen konnten, hat sich am grundsätzlichen Stadionverbot für Frauen nichts geändert. Fälle von sexueller Ausbeutung oder Zwangsprostitution sind nicht zweifelsfrei dokumentiert. Der Staat ist verpflichtet, Frauen vor sexueller Gewalt zu schützen. Frauen, die ehelicher oder häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, können nach Einschätzung des Auswärtigen Amts nicht uneingeschränkt darauf vertrauen, dass effektiver staatlicher Schutz gewährt wird. Gesetze zur Verhinderung und Bestrafung geschlechtsspezifischer Gewalt existieren nicht. Ein geplantes Gesetz „gegen Gewalt gegen Frauen“ ist noch immer nicht verabschiedet worden“ (ebenda). Insbesondere, wenn sie sich als Nicht-Muslima zu erkennen geben, laufen Iranerinnen Gefahr, strafrechtlich belangt zu werden. Muslim*innen ist es nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes (S. 15) verboten zu konvertieren („Abfall vom Glauben“). Nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 19.8.2022 kann der Abfall vom Islam (Irtidad JUiji) in der Islamischen Republik Iran mit Todesurteil bestraft werden. Nach unverbindlicher Einschätzung des Auswärtigen Amtes ist hierbei dem Wortlaut entsprechend auf den bloßen Abfall vom Islam unabhängig vom Wechsel zu einer anderen Religion abzustellen. Folglich ist auch dann wegen Apostasie mit Repressionen oder strafrechtlicher Verfolgung zu rechnen, wenn keine Konversion erfolgt ist, sondern der Betreffende Atheist ist.

3. Die im Iran geltenden Verhaltens- und Bekleidungsvorschriften bewirken ausweislich dieser Auskunftslage für Frauen stärkere Einschränkungen als für Männer und tragen zu ihrer niedrigen sozialen Stellung und ihren schlechteren Entfaltungsmöglichkeiten bei. Wenn Frauen, die sich dem nicht unterwerfen, deshalb bestraft werden, erhält das diese Bedingungen aufrecht. Solche Strafen haben demnach politischen Charakter. Die Regeln gelten zwar für alle Frauen, Strafen für ihre Durchbrechung treffen jedoch nur Frauen, die sich nicht daran halten. Tun sie das aus politischer Überzeugung oder wird ihnen deshalb eine solche Überzeugung unterstellt, liegt darin Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG. Frauen, die infolge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie bei einer Rückkehr in eine islamische Republik entweder nicht mehr in der Lage wären, ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grades ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann, können eine soziale Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG darstellen (vgl. VG Hamburg, Urteil vom 20. Juli 2021 – 10 A 5156/18 –, Rn. 34 zum Iran; OVG Lüneburg, Urteil vom 21. September 2015 – 9 LB 20/14 –, Rn. 26, zu Afghanistan; zur Bedeutung einer nachhaltigen westlichen Prägung auch Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 29. November 2019 – A 11 5 2376/19 –, Rn. 35, alle juris). Ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist eine Frage des Einzelfalls (OVG Lüneburg, Beschluss vom 12. Dezember 2019 – 9 LA 452/19 –, Rn. 13, juris, m.w.N.). Die beschriebene politische Situation im Iran ist dazu angetan, westlich geprägte Frauen zu einer ihnen in diesem Sinne unzumutbaren Anpassung an religiöse Vorschriften zu zwingen.

4. Das Gericht ist unter Beachtung der aus der Akte ersichtlichen Erklärungen der Klägerin gegenüber dem Bundesamt aufgrund ihrer Darlegungen und ihres Auftretens in der mündlichen Verhandlung überzeugt, dass ihre Persönlichkeit im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in einem Maße nachhaltig vom westlichen Lebensstil geprägt ist, dass es ihr nicht mehr zugemutet werden kann, sich erneut den vom iranischen Regime für Frauen statuierten Verhaltensvorschriften zu unterwerfen. Diese Prägung ist Ausdruck ihrer heutigen Persönlichkeit und nicht asyltaktisch motiviert. Es kommt nicht darauf an, aus welchen Gründen die Klägerin den Iran verlassen hat, weil sie allein aufgrund ihres so geformten Verhaltens und ihrer Erscheinung im Iran absehbar einer realen Verfolgungsgefahr ausgesetzt wäre. Die Klägerin lebt bereits seit mehr als drei Jahren in Deutschland, ist hier berufstätig und finanziell unabhängig. Sie hat in der Verhandlung die Fragen des Gerichts zu ihrer Identität klar beantwortet und sich dabei offen und authentisch verhalten. Dabei hat die Klägerin überzeugend dargelegt, dass sie sich dem Islam nicht zugehörig fühlt und nicht mehr bereit ist, sich den im Iran geltenden Bekleidungsvorschriften für Frauen zu unterwerfen, insbesondere ihre Haare zu verschleiern. Bereits bei einer Ankunft im Iran erwüchsen daraus ersichtlich Probleme. Als Iranerin, die mehrere Jahre im westlichen Ausland gelebt hat, wäre die Klägerin für die iranischen Sicherheitskräfte absehbar verdächtig, sich nicht an die islamischen Verhaltensregeln gehalten zu haben, wie sie vom iranischen Regime konstatiert werden. Zeigte sie sich in dieser Situation nicht bereit, sich den im Iran für Frauen geltenden Bekleidungsvorschriften zu unterwerfen, wäre sie absehbar, wahrscheinlich bereits am Flughafen, Ziel staatlicher Repression. Das Gericht ist überzeugt, dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr in den Iran von staatlichen Organen als vom Islam abgefallene Provokateurin wahrgenommen und behandelt würde. Angesichts der aktuellen Auseinandersetzungen und staatlichen Repression im Iran wäre sie dadurch einer realen Gefahr asylrelevanter Maßnahmen ausgesetzt.

5. § 28 Abs. 1a AsylG steht ihrer Anerkennung nicht entgegen. Die Klägerin hat überzeugend ausgeführt, dass sie die Pflicht zur Verschleierung bereits im Iran als Zwang empfunden hat. Ihre Haltung ist also Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung im Sinne dieser Vorschrift. Zudem verletzte eine Verfolgung, die an ein während des Asylverfahrens westlich geprägtes Selbstbild als Frau anknüpft, die Menschenwürde und das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen in besonders schwerer Weise und muss bereits nach dem Sinn und Zweck des Flüchtlingsschutzes auch dann rechtlich relevant sein, wenn die entsprechende Frauenrolle erst nach der Ausreise aus dem Heimatstaat eingenommen wurde und aufgrund des glaubhaften Vorbringens der Ausländerin davon auszugehen ist, dass dem im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine innere Überzeugung und nicht allein asyltaktische Motive zugrunde liegen (vgl. Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen- Anhalt, Urteil vom 14. Juli 2022 – 3 L 9/20 –, Rn. 41, juris m.w.N. zur vergleichbaren Situation nach einem Glaubenswechsel). […]