STREIT 2/2023
S. 84-89
VG Berlin, § 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG
Flüchtlingseigenschaft für Betroffene von Zwangsprostitution und sexueller Ausbeutung in Guinea
1. Frauen in Guinea bilden eine bestimmte soziale Gruppe i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. An die Prüfung des in Buchstabe b von § 3 Abs. 1 Nr. 4 AsylG verankerten sog. externen Elements dürfen in Fällen geschlechtsspezifischer Verfolgungsmaßnahmen besonders im Hinblick auf die Istanbul-Konvention keine übersteigerten Anforderungen gestellt werden.
2. Für junge alleinstehende Frauen ohne erkennbare (Aus-)Bildung und beruflicher Erfahrung und ohne Möglichkeit auf ein soziales Netzwerk zurückzugreifen besteht in Guinea die Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Verelendung.
(Leitsätze der Redaktion)
Urteil VG Berlin vom 17. August 2022 – 31 K 305/20 A
Zum Sachverhalt:
Die subsidiär schutzberechtigte Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die im Dezember 2002 geborene Klägerin ist guineische Staatsangehörige und der Volksgruppe der Fulla zugehörig. Nach im Januar 2019 erfolgter Einreise in das Bundesgebiet stellte sie am 21. September 2020 […] einen Asylantrag […].
Mit Bescheid vom 3. November 2020 […] erkannte das Bundesamt der Klägerin den subsidiären Schutzstatus zu (Ziffer 1). Im Übrigen lehnte es den Asylantrag ab (Ziffer 2). Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass der Klägerin in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden drohe. Sie sei jedoch kein Flüchtling. Zwar habe sie glaubhaft geschildert, in Guinea Verfolgungshandlungen erlitten zu haben, als sie als Minderjährige gegen ihren Willen festgehalten worden und fortdauernder sexueller Gewalt ausgesetzt gewesen sei. Ebenfalls sei sie Opfer von Menschenhandel geworden. Zudem habe sie glaubhaft vorgetragen, durch ihre Stiefmutter regelmäßig geschlagen worden zu sein. Hinsichtlich der Entführung, der erlittenen sexuellen Gewalt und des erfolgten Menschenhandels sei aber kein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal und auch keine Zuschreibung eines Verfolgungsgrundes ersichtlich. Die vage Vermutung, ihr Vater habe mit Politik zu tun gehabt, lasse keine Rückschlüsse darauf zu, ob ihr diesbezüglich eine politische Überzeugung – abgeleitet vom Vater – zugeschrieben worden sei. Auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe liege nicht vor, da es an einem externen Ansatz zur Bildung der Gruppe mangele. Bezogen auf die häusliche Gewalt, die die Klägerin durch ihre Stiefmutter erlitten habe, seien ebenfalls keine Tatbestände ersichtlich, die einen Verfolgungsgrund darstellten. Schließlich erfülle auch eine drohende Zwangsverheiratung nicht die Voraussetzungen für die Gewährung von Flüchtlingsschutz, da es auch insoweit am externen Ansatz zur Bildung einer möglichen Gruppe mangele.
Mit ihrer am 20. November 2020 bei dem Verwaltungsgericht erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft weiter. […]
Aus den Gründen:
[…] Die Klage hat Erfolg. […] Die Klägerin hat in Guinea eine Vorverfolgung erlitten.
a. Eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a AsylG liegt vor. Die Klägerin ist in Guinea jedenfalls Opfer von geschlechtsbezogenen Verfolgungsmaßnahmen geworden.
[…] [D]ie Klägerin [ist] in Guinea von Angehörigen des Militärs entführt, mehrfach vergewaltigt und schließlich in die Zwangsprostitution bzw. zur sexuellen Ausbeutung ins Ausland verkauft worden (Menschen- / Frauenhandel). Die Klägerin selbst hat diesen Sachverhalt – und etwa auch nicht die (mutmaßlich) erlittenen Misshandlungen durch ihre Stiefmutter – im Klagebegründungsschriftsatz vom 16. Februar 2021 als „fluchtauslösend“ bezeichnet. Der Sachverhalt steht zur Überzeugung des Gerichts auch hinlänglich fest […].Der Vortrag der Klägerin steht auch im Einklang mit gerichtlichen Erkenntnissen. Sexuelle Gewalt gegen Frauen einschließlich Vergewaltigung ist in Guinea weit verbreitet und deutlich häufiger als sexuelle Gewalt gegen Männer. Statistisch sind 92 % der Frauen im Alter von 15 bis 64 Jahren wenigstens einmal davon betroffen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Guinea <Stand: Januar 2021>, 7. April 2021, S. 11; BAMF, Länderreport 26: Guinea – Weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratung und häusliche Gewalt, Stand: 06/2020, S. 11; Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl <BFA>, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation: Guinea – Allgemeine Informationen zum Rechtsschutz bei geschlechtsspezifischer Gewalt <GBV> an Frauen, 8. Mai 2019, S. 2; s. auch Amnesty International, Report: 2021/22: The State of the World’s Human Rights – Guinea 2021, 29. März 2022, S. 9; Freedom House, Freedom in the World 2022 – Guinea, 28. Februar 2022, S. 6; United States Department of State <USDOS>, Guinea 2021 Human Rights Report, 12. April 2022, S. 24). Gerade auch die steigende Anzahl von Vergewaltigungen minderjähriger Mädchen wird in den Quellen als „alarmierend“ (Auswärtiges Amt, a.a.O.) und „sehr beunruhigende<s> Problem“ (BAMF, a.a.O.) beschrieben. Ebenso stellt der Menschenhandel in Guinea ein bekanntes Problem dar, wobei Frauen (neben Kindern) besonders gefährdet sind und der Handel nicht selten der sexuellen Ausbeutung bzw. Zwangsprostitution dient (vgl. nur USDOS, 2020 Trafficking in Persons Report: Guinea, 25. Juni 2020).
Die Maßnahmen, die die Klägerin in Guinea erlitten hat, stellen unzweifelhaft Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG dar. Vergewaltigungen sind Verfolgungshandlungen in Form der Anwendung sexueller Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG; […]) Als Eingriffe, die an der Geschlechtlichkeit ansetzen und die sexuelle Selbstbestimmung des Opfers treffen, sind Vergewaltigungen außerdem Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen (§ 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG […]). Ähnlich wie und gravierender noch als bei einer Zwangsverheiratung […] wird für eine Frau infolge von Menschen-/Frauenhandel und Zwangsprostitution die individuelle und selbstbestimmte Lebensführung aufgehoben und ihre sexuelle Identität als Frau grundlegend in Frage gestellt; die Frau wird als reines Wirtschaftsobjekt be- und gehandelt. Unzweifelhaft handelt es sich bei den in Rede stehenden Maßnahmen auch um schwerwiegende Verletzungen von Menschenrechten, die die Erheblichkeitsschwelle des § 3a Abs. 1 AsylG erreichen (vgl. für dieses Erfordernis im Zusammenhang mit geschlechtsbezogenen Handlungen im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG nur Hailbronner [Ausländerrecht, Loseblatt, Stand: 123. Akt. März 2022], § 3a AsylG Rn. 34).
Die Verfolgungshandlungen gingen den Schilderungen der Klägerin zufolge von Angehörigen des guineischen Militärs aus. Ob sie deshalb dem guineischen Staat als Verfolgungssubjekt zuzurechnen sind (vgl. § 3c Nr. 1 AsylG) oder eine solche Zurechnung wegen des naheliegenden Exzess-Charakters der Maßnahmen zu verneinen ist, kann offen bleiben. Denn auch wenn von einer Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure auszugehen sein sollte, handelte es sich dabei jedenfalls um taugliche Akteure im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG, weil effektiver Schutz durch den guineischen Staat oder andere Stellen im Sinne des § 3c Nr. 1 und 2 AsylG für die Klägerin nicht in hinlänglicher Weise verfügbar gewesen ist. Das ergibt sich aus der allgemeinen Auskunftslage für Guinea, wonach es in dem Land trotz einer zumindest teilweise vorhandenen Strafgesetzgebung im Bereich sexueller Gewalt – insbesondere zur Kriminalisierung von Vergewaltigung – keine ausreichend wirksame Strafverfolgung und Bestrafung der Handlungen gibt, die die Verfolgung darstellen.
Sexuell motivierte Taten von Belästigungstatbeständen bis hin zur Vergewaltigung werden von den guineischen Strafverfolgungsbehörden nur in Einzelfällen verfolgt (BAMF, a.a.O., S. 12; ähnlich Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 11; BFA, a.a.O.). Den rechtlichen Regeln – etwa auch zur Gleichberechtigung von Frauen (vgl. unten I. 2.1 b. cc.) – stehen anhaltende diskriminierende Praktiken sowie erhebliche kulturelle und gesellschaftliche Widerstände gegenüber (vgl. nur BFA, a.a.O.). Das hat unter anderem zur Konsequenz, dass sexuell motivierte Taten den guineischen Strafverfolgungsbehörden schon kaum angezeigt werden (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O.); weniger als 1 % der Verbrechen an Frauen wurde von den Opfern der Polizei gemeldet (BAMF, a.a.O.; BFA, a.a.O.). Als eine der näheren Ursachen hierfür wird in den Quellen die Angst vor Stigmatisierung genannt (vgl. BAMF, a.a.O.; BAF, a.a.O.; Freedom House, a.a.O.; USDOS, Guinea 2021 Human Rights Report, 12. April 2022, S. 24). Darüber hinaus wird auf mangelnde Zusammenarbeit von Polizei und Gendarmen, Gepflogenheiten und Angst vor Vergeltung hingewiesen (vgl. BAMF, a.a.O.; USDOS, a.a.O.). Berichtet wird auch, dass die Betroffenen zögern, Verbrechen zu melden, weil sie befürchten, dass die Polizei für die Untersuchung des Falls entschädigt werden will (vgl. BAMF, a.a.O.; BFA, a.a.O.; USDOS, a.a.O.). Wenn Vergewaltigungsvorwürfe vor Gericht gebracht werden, sind die potenziellen Täter nie in der nahen Verwandtschaft des Opfers oder einer höheren sozialen Schicht zu suchen, was sowohl auf Werte und Traditionen der Gesellschaft und Gemeinschaften zurückgeführt wird als auch auf das allgemeine Misstrauen gegenüber der Justiz (vgl. BAMF, a.a.O.). Es gibt auch keine Entschädigung für die Opfer, die weitgehend dazu aufgefordert werden, die Entschuldigung des Täters anzunehmen (vgl. BAMF, a.a.O., S. 13; BFA, a.a.O., S. 3). Im Fall einer Schwangerschaft ist es nicht ungewöhnlich, dass die Ehe die Lösung für eine „Wiedergutmachung“ ist (BAMF, a.a.O.). Ferner geht es aus den Quellen hervor, dass die Opfer wenig Unterstützung von ihren Familien erhalten, und dass insbesondere die psychischen Folgen nicht berücksichtigt werden (vgl. BAMF, a.a.O.; BFA, a.a.O.). Zivilgesellschaftliche Akteure, die ein Opfer zur Klageerhebung ermutigen, geben an, dass sie von den Familien als „Unruhestifter“ wahrgenommen werden (BAMF, a.a.O.). Fälle von Vergewaltigung werden im Allgemeinen nicht veröffentlicht, um die „Ehre“ des Opfers in der Gemeinschaft zu wahren (vgl. BAMF, a.a.O.; s. für den Aspekt des „Ehrschutzes“ auch BFA, a.a.O.). Es kommt hinzu, dass es unter Umständen schwierig sein kann, einen Ehemann für eine junge vergewaltigte Frau zu finden (vgl. BAMF, a.a.O.; BFA, a.a.O.). Wie weiter berichtet wird, sind diese sozialen Auswirkungen auch im Justizsystem zu finden, wo trotz gesetzlicher Bestimmungen weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigung in der Ehe oder sexueller Ausbeutung nur selten Gerechtigkeit erlangen (BFA, a.a.O.). Zudem sind Frauen auch generell sowohl im formalen als auch im traditionellen Justizsystem mit erheblichen Diskriminierungen und Nachteilen konfrontiert (vgl. BAMF, a.a.O., S. 1; Freedom House, a.a.O., S. 5: „pervasive societal discrimination and disadvantages in both the formal and traditional justice systems“). Nicht zuletzt wird ihren Aussagen vor Gericht weniger Gewicht beigemessen als denen von Männern (vgl. USDOS, a.a.O., S. 27).
b. Ein Verfolgungsgrund ist ebenfalls gegeben. Die Klägerin gehört in Guinea einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG an, nämlich der sozialen Gruppe der Frauen.
Nicht hinlänglich geklärt erscheint dem Gericht demgegenüber die genaue Bedeutung, die der Regelung in § 3b Abs. 1 Nr. 4, letzter Hs. AsylG in diesem Zusammenhang zukommt. […]
Einerseits darf die Regelung in § 3b Abs. 1 Nr. 4, letzter Hs. AsylG in ihrer Bedeutung und Tragweite – nicht zuletzt aus rechtssystematischen Erwägungen – nicht überstrapaziert werden. So kann die Vorschrift jedenfalls keinen „Automatismus“ dergestalt bewirken, dass insbesondere bei an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfenden Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG stets und ohne weitere Prüfung auch vom Vorliegen einer sozialen Gruppe auszugehen ist […]. Andererseits darf § 3b Abs. 1 Nr. 4, letzter Hs. AsylG indes auch nicht durch eine allzu restriktive Handhabung marginalisiert und seiner vom Gesetzgeber intendierten Wirkung beraubt werden. Im Gegenteil muss die Norm bei geschlechtsbezogenen Handlungen, insbesondere zum wirksamen Schutz der Rechte von Frauen, effektiv zur Geltung gebracht werden. In der Konsequenz dürfen zur Überzeugung des Gerichts namentlich an die Prüfung des in Buchstabe b von § 3 Abs. 1 Nr. 4 AsylG verankerten sog. externen Elements („social perception-Ansatz“; vgl. Hruschka, in: Huber/Mantel, a.a.O., § 3b AsylG Rn. 24) in Fällen geschlechtsspezifischer Verfolgungsmaßnahmen keine übersteigerten Anforderungen gestellt werden. Dafür dürften auch völkerrechtliche Erwägungen sprechen (vgl. die Nachweise oben I. 2.1 b. aa.), wobei in diesem Zusammenhang besonders auch auf das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11. Mai 2011 (BGBl. 2017 II S. 1026; sog. Istanbul-Konvention) hinzuweisen ist, das unter anderen Regelungen zu sexueller Gewalt einschließlich Vergewaltigung trifft (Art. 36), und in dessen Art. 60 Abs. 1 es hierzu – wenn auch seinerseits nicht gänzlich frei von Ambiguität – weiter heißt (vgl. auch Giesler/Hoffmeister, a.a.O., S. 408; Keßler, in: Hofmann, a.a.O., § 3a AsylG Rn. 1): „Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts als eine Form der Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A Ziffer 2 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 und als eine Form schweren Schadens anerkannt wird, die einen ergänzenden/subsidiären Schutz begründet.“
Zu Recht wird in der Literatur ferner darauf hingewiesen, dass es in der Bestimmung des Begriffs der „sozialen Gruppe“ in § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG – in Übereinstimmung mit Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU – heißt „insbesondere“ (vgl. Hruschka, in: Huber/Mantel, a.a.O.); die Begriffsbestimmung muss also nicht zwingend als ab- und ausschließend aufgefasst werden. Zudem wird die Entwicklungsoffenheit des Konzepts betont (vgl. Hailbronner, a.a.O., § 3b AsylG Rn. 23; Hruschka, in: Huber/Mantel, a.a.O., § 3b AsylG Rn. 25).
Im Ergebnis dieser Überlegungen nimmt das Gericht an, dass bei geschlechtsspezifischen Verfolgungsmaßnahmen schon im Tatbestand der Verfolgungshandlung die Zielgruppe als soziale Gruppe im Sinne von § 3b AsylG indiziert wird (so, allerdings ohne nähere Begründung und Nachweise, unlängst bereits VG Berlin, Urteil vom 16. Mai 2022, a.a.O., S. 12; identisch zuvor auch schon VG Freiburg, Urteil vom 11. Oktober 2021 – A 15 K 4778/17 -, juris Rn. 31; VG Würzburg, Urteil vom 14. März 2019 – W 9 K 17.31742 -, juris Rn. 31). Zumindest in diese Richtung geht es auch, wenn in der Literatur etwa Hailbronner (a.a.O., § 3b AsylG Rn. 35b) mit Blick auf die Frage, ob bestimmte sich gegen die Selbstbestimmung der Frau richtende Maßnahmen wie Zwangsehen oder häusliche Gewalt eine abgegrenzte Gruppenidentität „quasi implizit voraussetzen“, davon ausgeht, es erscheine „nicht ausgeschlossen, ungeachtet des zusätzlichen Erfordernisses einer Gruppenidentität aus der Art und den Umständen bestimmter Verfolgungsmaßnahmen auf eine gruppenbezogene Verfolgungsmotivation zu schließen“ (vgl. für die Diskussion z.B. auch Treiber, in: Fritz/Vormeier, a.a.O., § 3a AsylG Rn. 336 f., der einen deutlichen Zusammenhang derart, dass die an das Geschlecht anknüpfende Handlung zugleich Indiz ist für den geschlechtsspezifischen, das weibliche Geschlecht diskriminierenden flüchtlingsrechtlichen Verfolgungsgrund, zumindest im Fall der Genitalverstümmelung sieht, den Schluss im Übrigen aber nicht in jedem Fall für zwingend hält). Und, so Hailbronner weiter (a.a.O.; allerdings zumindest ausdrücklich nur bezogen auf die Prüfung einer Gruppenverfolgung): „Typischerweise oder ausschließlich gegen Frauen gerichtete Maßnahmen wie z.B. die Zwangsehe, soweit sie die erforderliche Verfolgungsdichte bei einer Gruppenverfolgung erreichen, indizieren insoweit den Verfolgungsgrund.“
Und an anderer Stelle (a.a.O., § 3b AsylG Rn. 36a): „Eine Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe kann (…) auch dann erfolgen, wenn zwar Frauen nicht generell Gewaltmaßnahmen unterworfen werden, jedoch Frauen Gewalt angetan wird, die einer bestimmten Personenkategorie angehören, sofern sexuelle Gewalt spezifisch in Ausnutzung der besonderen Schutzlosigkeit von Frauen angewendet wird. Die spezifisch gegen Frauen gerichtete sexuelle Gewaltausübung indiziert insoweit den Verfolgungsgrund (…).“
Anders gewendet, wird die Prüfung der tatsächlichen Voraussetzungen des Flüchtlingsschutzes in Fällen wie dem vorliegenden nach der hier vertreten Ansicht in Bezug auf den Verfolgungsgrund durch § 3b Abs. 1 Nr. 4, letzter Hs. AsylG bis zu einem gewissen Grad normativ vorgeprägt. Klarstellend weist das Gericht jedoch nochmals ausdrücklich darauf hin, dass die Existenz einer bestimmten sozialen Gruppe mit diesem Verständnis von § 3b Abs. 1 Nr. 4, letzter Hs. AsylG nicht etwa unwiderleglich vermutet oder fingiert wird. Vielmehr geht das Gericht von einer zweistufigen Prüfung aus: Wenn der Verfolgungsgrund in einem ersten Prüfungsschritt als indiziert angesehen werden kann, so ist nach den vorhandenen Erkenntnissen für den jeweiligen Herkunftsstaat in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob sich die Indikation nach den dortigen Verhältnissen bekräftigen lässt (oder sie gegebenenfalls als entkräftet betrachtet werden muss).
Wenn nach dieser Lesart von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG im Übrigen gerade auch Frauen als solche, also die Gesamtheit der weiblichen Bevölkerung im jeweiligen Staat, als eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG in Betracht kommen, so lässt sich dem nach der Auffassung des Gerichts nicht entgegenhalten, dass diese Gruppe regelmäßig „schon wegen ihrer Größe keine deutlich abgegrenzte Identität“ habe, „wegen der sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“ (so aber OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 6. Mai 2021, a.a.O. <zur Gruppe der Frauen in der Ukraine>; vgl. für die Kritik an dem, auch andernorts vorgebrachten, Argument z.B. auch Giesler/Hoffmeister, a.a.O., S. 405). Vielmehr entspricht es gerade der spezifischen, die prekäre Situation insbesondere von Frauen in vielen Ländern in den Blick nehmenden, schutzorientierten Ausrichtung des § 3b Abs. 1 Nr. 4, letzter Hs. AsylG, dass – zumindest auch – Frauen als solche die internen und externen Merkmale für die Bejahung einer bestimmten sozialen Gruppe erfüllen können, also gerade nicht in jedem Fall eine Bildung von Untergruppen erforderlich ist (generell kritisch zur Bildung von Untergruppen etwa Giesler/Hoffmeister, a.a.O., S. 405 u. 406; Möller, in: Hofmann, a.a.O., § 3b AsylG Rn. 15; vgl. aber auch Hailbronner, a.a.O., § 3b AsylG Rn. 35a f.). Nicht zuletzt legt auch schon der Wortlaut von § 3b Abs. 1 Nr. 4, letzter Hs. AsylG („allein an das Geschlecht“) es nahe, dass eine bestimmte soziale Gruppe auch die Gruppe der Frauen als solche im jeweiligen Herkunftsland sein kann (wenn auch nicht in jedem Fall sein muss). Weil das Konzept der bestimmten sozialen Gruppe von dem der Gruppenverfolgung zu unterscheiden ist, müssen im Übrigen auch nicht notwendigerweise alle Gruppenmitglieder einem nach §§ 3 ff. AsylG beachtlichen Verfolgungsrisiko ausgesetzt sein (vgl. Giesler/Hoffmeister, a.a.O., S. 405; Hruschka, in: Huber/Mantel, a.a.O., § 3b AsylG Rn. 26; s. dazu, dass der spezifische Rechtsbegriff der Gruppenverfolgung nicht mit dem der „sozialen Gruppe“ im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG zu verwechseln ist, auch BVerwG, Urteil vom 22. Mai 2019 – BVerwG 1 C 11/18 -, juris Rn. 24).
cc. Bei Zugrundelegung dessen ist der Verfolgungsgrund der bestimmten sozialen Gruppe der Frauen in Guinea hier gegeben. Insbesondere kann auch die erforderliche Gruppenidentität (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AsylG) nach dem zuvor Gesagten bejaht werden (vgl. im Fall einer Vorverfolgung wegen erlittener Zwangsverheiratung im Ergebnis auch schon VG Berlin, Urteil vom 16. Mai 2022, a.a.O.; s. ferner ohne eingehendere Diskussion der Voraussetzungen des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AsylG etwa auch VG Münster, Urteil vom 24. Januar 2020 – 4 K 534/18.A -, juris Rn. 24 ff. <Vorverfolgung wegen erlittener Genitalverstümmelung und drohender Zwangsverheiratung sowie drohende erneute Verfolgung wegen weitergehender Genitalverstümmelung unter Anwendung von familiärer Gewalt und Zwangsverheiratung>; VG Hamburg, Urteil vom 27. Juni 2018 – 6 A 6695/16 -, juris <Vorverfolgung wegen erlittener Genitalverstümmelung und erlittener Zwangsverheiratung>; anders aber z.B. VG Karlsruhe, Urteil vom 16. Juni 2021 – A 12 K 3331/10 -, juris, und VG Stuttgart, Urteil vom 11. Februar 2020 – A 2 K 10116/18 -, juris Rn. 19 ff. <zu erlittener bzw. drohender Zwangsverheiratung und jeweils mit dem Argument, dass schon fraglich erscheine, ob in Guinea nur Frauen zwangsverheiratet würden>). Der Verfolgungsgrund wird durch die von der Klägerin erlittenen Verfolgungshandlungen indiziert. Vergewaltigung, Menschenhandel und Zwangsprostitution richten sich, wenn auch nicht ausschließlich, so doch typischerweise gegen Frauen (vgl. z.B. auch Treiber, in: Fritz/Vormeier, a.a.O., § 3a AsylG Rn. 226a). Das gilt nach den verfügbaren Erkenntnissen gerade auch für Guinea, wo sich vor allem sexuelle Gewalt gegen Frauen einschließlich Vergewaltigung – wie gesehen – als ein besonders drängendes Problem darstellt, aber auch Frauenhandel mit dem Ziel der sexuellen Ausbeutung bzw. Zwangsprostitution immer wieder vorkommt (vgl. oben I. 2.1 a.).
Darüber hinaus finden sich in den Quellen hinlänglich Anhaltspunkte, die die Indikation der Gruppenidentität positiv stützen. So ist die Verfolgung der Klägerin nach Ansicht des Gerichts letztlich zumindest mitursächlich darauf zurückzuführen, dass Frauen in der traditionell-patriarchalischen Gesellschaftsordnung Guineas als minderwertig gelten und vielfältig diskriminiert werden. Mit dieser Stellung und dem Urteil der Minderwertigkeit ist zwangsläufig eine abgegrenzte Identität und eine gesellschaftliche Wahrnehmung als andersartig verbunden (so überzeugend für die vergleichbare Lage von Frauen in Gambia VG Stuttgart, Urteil vom 21. Oktober 2021 – A 19 1998/21 -, juris Rn. 37). Es ist nach Ansicht des Gerichts also kein „Zufall“, sondern durch strukturelle Gründe der guineischen Gesellschaftsordnung und Wertvorstellungen bedingt, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen im Herkunftsland der Klägerin ein so eklatantes Ausmaß erlangt haben. Im Einzelnen lässt sich hinsichtlich der Situation von Frauen in Guinea nach den Erkenntnissen über das bereits oben I. 2.1 a. Gesagte hinaus Folgendes festhalten:
Zwar hatte die – im Zuge des Militärputsches vom 5. September 2021 mittlerweile außer Kraft gesetzte (vgl. nur Amnesty International, a.a.O., S. 1) – guineische Verfassung von 2010 in Art. 8 die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau gewährleistet (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 10; BAMF, a.a.O.). Mehr noch, ist es auch einfachrechtlich durch die 2019 erfolgte Novellierung des Zivilgesetzbuchs zu einer Beseitigung zumindest der gravierendsten Benachteiligungen von Frauen gekommen, z.B. im Erbrecht und in der elterlichen Sorge (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 11; s. aber weiterhin auch Freedom House, a.a.O., S. 6: „Women face gender-based disadvantages in laws and practices governing inheritance and property rights“.; USDOS, a.a.O., S. 26 u. 27: „The law does not provide for the same legal status and rights for woman as for man, including in inheritance, property, employment, credit, and divorce. <…> Divorce laws generally favor men in awarding custody and dividing communal assets.“). Erfolgen im Bereich rechtlicher Gleichstellung stehen jedoch anhaltende diskriminatorische Praktiken und erhebliche kulturelle und gesellschaftliche Widerstände gegenüber (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 10; BAMF, a.a.O.; vgl. ferner z.B. USDOS, a.a.O., S. 26: „Traditional practices historically discriminate against women and sometimes took precedence over the law, particularly in rural areas.“; s. im Übrigen auch schon oben I. 2.1 a.). Eine faktische Benachteiligung der Frauen ergibt sich unter anderem aus der mangelnden Ausbildung (weit überproportionale Analphabetenquote von über 70 %) und einer auf die Rolle als Hausfrau beschränkten Erziehung (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 10 f.; BAMF, a.a.O., wo ergänzt wird, dass rechtlich gesehen der Ehemann der Haushaltsvorstand sei). Während Jungen und Mädchen rechtlich den gleichen Zugang zu Primar- und Sekundarschulbildung haben, besuchten im Jahr 2021 nur 39 % der Mädchen die Grundschule (verglichen mit 52 % der Jungen); lediglich 12 % der Mädchen erhielten eine Sekundarschulbildung (verglichen mit 22 % der Jungen; vgl. USDOS, a.a.O., S. 27; zu früheren Zahlen s. z.B. BAMF, a.a.O.). Es gibt zudem kulturelle Beschränkungen für die politische Beteiligung von Frauen, was durch die niedrige Quote von Frauen in einflussreichen politischen oder Regierungspositionen belegt wird (BAMF, a.a.O.; USDOS, a.a.O., S. 21). Auch generell erscheinen Frauen in Entscheidungsprozessen als weithin marginalisiert (vgl. BAMF, a.a.O.). Im Rahmen der Novellierung des Zivilgesetzbuchs wurde zudem die Polygamie des Mannes als zulässige, optionale Form der Ehe wieder eingeführt, wobei Bedingung eine ausdrückliche Erklärung des Mannes und der Frau vor dem Standesbeamten beim Eingehen der Ehe ist (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 11; Freedom House, a.a.O.; USDOS, a.a.O., S. 27). Tatsächlich ist männliche Polygamie im Rahmen von religiösen (muslimischen) und traditionellen Eheschließungen in Guinea und bis in die höchsten Kreise der Gesellschaft sowie vor allem im ländlichen Milieu weit verbreitet. Die nunmehrige bedingte Zulassung der Polygamie erfolgte auf Druck breiter politischer und gesellschaftlicher Kreise. Im Bestreben, die Rechtslage an die gesellschaftlichen Forderungen anzupassen, war das Verbot der Polygamie durch Einführung zahlreicher Ausnahmetatbestände in den letzten Jahren immer weiter aufgeweicht worden (Auswärtiges Amt, a.a.O.). Zu einer erheblichen Herabwürdigung von Frauen trägt faktisch überdies die in der nach wie vor traditionell ausgerichteten und zu über 90 % islamisch geprägten (vgl. nur Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 8) guineischen Gesellschaft die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung bei (vgl. dazu eingehend BAMF, a.a.O., S. 1 ff.; ferner etwa auch Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 11 f.; USDOS, a.a.O., S. 24 f.). Auch das Bundesamt bezeichnet diese Praxis ausdrücklich als „eine extreme Art von Gewalt und Diskriminierung von Mädchen und Frauen“ und schwerwiegende Verletzung von Menschenrechten (vgl. (BAMF, a.a.O., S. 1). Dem Bundesamt zufolge hat Guinea nach Somalia die weltweit zweithöchste Prävalenz von weiblicher Genitalverstümmelung. 2018 hatten 94,5 % der Frauen und Mädchen im Alter von 15 bis 49 Jahren eine weibliche Genitalverstümmelung erlitten, 1999 lag der Anteil bei 99 % (BAMF, a.a.O., S. 2). Die öffentliche Unterstützung für die Praxis ist deutlich höher als in vielen anderen Ländern der Region, was sie zu einer sozialen Norm macht, die nur schwer zu ändern ist. Umfragen ergaben, dass fast 70 % der Bevölkerung der Meinung sind, dass die Praxis weitergeführt werden sollte (BAMF, a.a.O., S. 7). Gleichermaßen Ausdruck einer praktischen Entrechtung – vor allem – von Frauen ist die in Guinea ebenfalls weit verbreitete Zwangsverheiratung (vgl. dazu eingehend nur BAMF, a.a.O., S. 8 ff.). Aus den Quellen ergibt sich, dass 2018 17 % aller Mädchen im Alter von 15 Jahren und 51 % im Alter von 18 Jahren verheiratet worden sein sollen (vgl. USDOS, a.a.O., S. 28; zu früheren Zahlen s. BAMF, a.a.O., S. 9). Insgesamt zählt die Anzahl von Zwangsehen mit ca. 63 % zu den höchsten in Sub-Sahel-Afrika (BAMF, a.a.O.). Ähnlich wie bei der sexuellen Gewalt (vgl. oben I. 2.1 a.), sind Frauen in Guinea schließlich auch weit häufiger Opfer von häuslicher Gewalt als Männer, wobei die Rate häuslicher Gewalt mit 63 % eine der höchsten in der Subregion ist (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 11; BAMF, a.a.O., S. 11). Auch diesbezüglich gilt, dass polizeiliche Ermittlungen und gerichtliche Bestrafungen offenbar die Ausnahmen bleiben (vgl. USDOS, a.a.O., S. 24).
c. Weiterhin sind die Verfolgungshandlungen und der Verfolgungsgrund im Fall der Klägerin auch hinreichend im Sinne des § 3a Abs. 3 AsylG miteinander verknüpft. Die Verfolgungshandlungen sind nach ihrem allein maßgeblichen inhaltlichen Charakter, unabhängig von den (möglichen) subjektiven Gründen oder Motiven, die die Verfolgenden dabei geleitet haben mögen, erkennbar auf die Klägerin gerade in ihrer Eigenschaft als Frau gerichtet gewesen. Vergewaltigung, Frauenhandel und sexuelle Ausbeutung bzw. Zwangsprostitution sind typische Ausdrücke – durch patriarchalische Gesellschaftsstrukturen geförderter – männlicher Dominanz- und Herrschaftsansprüche, mögen solche Maßnahmen im Einzelfall auch vollständig nur durch die individuellen psychischen Verfasstheiten der Verfolgenden zu erklären sein (die ihrerseits wiederum aber ebenfalls durch die Gesellschaftsstrukturen unterstützt und mitgeprägt werden; dies prinzipiell anerkennend z.B. auch VG München, Urteil vom 3. Februar 2021, a.a.O., juris Rn. 38); als solche – d.h. als Ausdrücke männlicher Dominanz- und Herrschaftsansprüche – werden sie von den Opfern regelmäßig auch empfunden. Derartige Maßnahmen treffen Frauen gerade in ihrer unmittelbaren Sexualität und stellen ihre sexuelle Integrität und Selbstbestimmung, als wesentliche Teilaspekte ihrer Personalität und Würde namentlich auch als Frauen, objektiv in Abrede. […]
2.2. Da sich die Klägerin vorverfolgt außerhalb ihres Herkunftslandes befindet, wird nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU vermutet, dass ihre Furcht vor Verfolgung auch gegenwärtig noch begründet ist. Stichhaltige Gründe, die dagegen sprechen, dass sie erneut von solcher Verfolgung bedroht wird, liegen nicht vor. Solche Gründe können für sich genommen insbesondere weder darin gesehen werden, dass die Anfang 2019 in das Bundesgebiet eingereiste Klägerin mittlerweile mehrjährig aus Guinea abwesend ist, noch in dem Umstand, dass die Klägerin inzwischen zumindest nach deutscher Rechtslage nicht mehr minderjährig ist. Auch gibt es keine Anzeichen dafür, dass ihre Verfolger nicht mehr leben oder sie sich etwa außer Landes befinden könnten. Der Nachweis, dass sich die Verfolgung der Klägerin im Fall einer Rückkehr nach Guinea nicht wiederholen könnte, lässt sich schlechterdings nicht erbringen.
2.3 Die Klägerin ist auch nicht auf andere Landesteile Guineas als mögliche Orte internen Schutzes zu verweisen (§ 3e AsylG). […] Das wirtschaftliche Existenzminimum muss am Ort des internen Schutzes auf einem Niveau gewährleistet sein, das eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt. Das Bundesamt trägt die Darlegungs- und materielle Beweislast dafür, dass das wirtschaftliche Existenzminimum bei der gebotenen Prognose gewährleistet ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Februar 2021 – BVerwG 1 C 4/20 -, juris Ls. 1 bis 3 und im Einzelnen Rn. 27 ff.). […] Ausgehend von den humanitären und sozio-ökonomischen Verhältnissen in Guinea, wie sie sich aus den vorhandenen Erkenntnissen ergeben, muss für die Klägerin als alleinstehender junger Frau im Alter von derzeit 19 Jahren sowie ohne erkennbare (Aus-)Bildung und beruflicher Erfahrung nach ihren individuellen Verhältnissen einschließlich ihrer traumatisierenden Erlebnisse in ihrem Herkunftsland andernorts in Guinea vielmehr die beachtliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Verelendung angenommen werden (vgl. aus der Spruchpraxis der Kammer z.B. auch VG Berlin, Urteile vom 4. Mai 2022 – VG 31 K 667.19 A -, und vom 27. Oktober 2021 – VG 31 K 577.18 A -; s. ferner z.B. auch VG Münster, a.a.O., Rn. 47 ff.; VG Köln, Urteil vom 15. Januar 2020 – 1 K 15978/17. A -, juris Rn. 45; VG Aachen, Urteil vom 2. Februar 2016 – 3 K 1138/14.A -, juris).