STREIT 1/2022

S. 44-45

Buchbesprechung: Johannes Feest, Brunilda Pali (Hrsg.): Gerlinda Smaus: „Ich bin ich“ – Beiträge zur feministischen Kriminologie

Springer Verlag, Wiesbaden 2020

Der Band „Ich bin ich“ – Beiträge zur feministischen Kriminologie, herausgegeben von Johannes Feest und Brunilda Pali im Springer-Verlag, ist – im eigentlichen Sinn des Wortes – ein Lebenswerk: Er erschien zum 80. Geburtstag einer ‚jungen Kriminologin‘ und umfasst Artikel von Gerlinda Smaus aus über zwei Jahrzehnten (1986-2010); darunter sind auch einige, die zuerst in STREIT erschienen sind, wie ‚Der feministische Blick auf den Abolitionismus‘ (STREIT 1989, Seite 123-129) oder die ‚Reproduktion der Frauenrolle im Gefängnis‘ (STREIT 1991, 23-33).
Gerlinda Smaus ist sie selbst, weil – und wenn – sie denkt. Sie hat in ihrem Leben klüger über Geschlecht und Kriminalität nachgedacht als irgendeine, die ich kenne. Sie hat Geschlechterrollen schon als Konstruktion von Gesellschaft und Macht analysiert als viele noch an die ‚friedfertige Frau‘ (Mitscherlich 1987) glauben wollten. In ihrer Rezension meiner Doktorarbeit zu Tötungsdelikten zwischen Männern und Frauen (KrimJ 1996, Seite 191-197) schrieb sie (mir ins Stammbuch): „Da es dem Patriarchat beliebte, gewalttätige Männer und nicht-gewalttätige Frauen hervorzubringen, was sollen wir Frauen uns loben? Daß wir uns nicht oder nicht adäquat wehren können?“ So war und ist sie, so dachte sie – und Recht hatte sie!
Heute sitze ich oft vor meinen Studierenden, als Veteranin des Feminismus, und kann mich immer noch begeistern über die klugen Gedanken der 80er und 90er Jahre. Wie alle Veteraninnen denke ich: sie sind unerreicht … aufregend. Wer sich noch einmal an der reinen Vernunft erfreuen möchte, sollte das Buch deshalb unbedingt lesen.

Der Band beginnt – chronologisch, aber auch programmatisch – mit der Frage nach der Abschaffung des Strafrechts (Seite 25 ff.), nicht ohne wenig später den Interessenwiderspruch zwischen Abolitionismus und Feminismus herauszuarbeiten (Seite 69 ff.). Andere sind später in ihrer Kritik des Feminismus als punitiver Bewegung sehr viel deutlicher geworden (Beth E. Richie: Arrested Justice: Black Women, Violence, and America’s Prison Nation, 2012). Gerlinda Smaus blieb dabei selbst-kritisch: „wenn frau sich zum Feminismus bekennt, muß sie vom Abolitionismus Abstriche machen.“
Gerlinda Smaus großes Verdienst ist sicher ihr Beitrag zur interaktionistisch-kriminologischen Theoriebildung, von ihr im Jahr 1986 als ‚Versuch um eine materialistisch-interaktionistische Kriminologie’ bezeichnet (Seite 45 ff.); später um eine explizit feministische Perspektive erweitert, die heute in einschlägigen Lehrbüchern als solche rezipiert wird (vgl. Lamnek u.a. 2017: Theorien abweichenden Verhaltens II). Dem ‚Geschlecht des Strafrechts‘ (Seite 219 ff.) gelten denn auch einige Artikel im Buch.
Im Jahr 1990 konstatiert sie, dass ihres Erachtens „schon alles Wissenswerte über Frauenkriminalität gesagt [wurde]“ (Seite 83), nur um dann – viele Jahre lang – zu zeigen, dass dem keineswegs so war, vielleicht bis heute nicht so ist.

In ihrem Beitrag ‚Das Strafrecht und die Frauenkriminalität‘ (Seite 83 ff.) stellt sie zwei – ihres Erachtens unvereinbare – Paradigmen gegenüber: sog. ätiologische Kriminalitätstheorien, die nach einer Ursache suchen, z.B. für eine unterschiedliche Kriminalitätsbelastung von Männern und Frauen, und Theorieansätze, die Kriminalität – wie letztlich auch Geschlecht – als Prozesse einer Zuschreibung verstehen. Dies bringt sie zu der Frage: „Auf welche Weise wird das Verhalten von Frauen kontrolliert?“ – wenn eben nicht durch das Strafrecht (Seite 94).
Eine Antwort darauf findet sich in ihrem Beitrag ‚Reproduktion der Frauenrolle im Gefängnis‘ (Seite 107 ff.). Gerlinda Smaus schreibt: „In unserem Kontext zeigt sich, daß die ‚Freistellung‘ von der formellen Kontrolle durch den „Staat“, also durch die offizielle Männerherrschaft, mit der Befugnis der privaten Männer, in dieser Sphäre Herrschaft auszuüben, einhergeht. (…) Die normative Unterstützung der privaten Männerherrschaft geht so weit, daß die Gewalt, die Männer gegen ‚ihre‘ Frauen und Kinder anwenden, als ‚Familienstreitigkeiten‘ definiert wird und so die Männer vor dem Zugriff seitens der Organe sozialer Kontrolle weitgehend immunisiert werden“ (Seite 117).
In dem Beitrag ‚Soziale Kontrolle und das Geschlechterverhältnis‘ (Seite 129 ff.) weitet sie ihre Überlegungen über die strafrechtlichen auch auf psychiatrische, somatische und ‚informelle‘ Kontrollen aus, „die Frauen und Männer anders [behandeln], und dies auf je spezifische Weise.“ Das Strafrecht, schreibt sie, „welches ‚voll verantwortliche‘ Gesellschaftsmitglieder voraussetzt, richtet sich vorwiegend an Männer. Bei Frauen scheint dagegen die psycho-somatische Kontrolle, die diesen den vollwertigen Erwachsenenstatus abspricht, angemessen. Der Kontrollaspekt der von Frauen häufiger in Anspruch genommenen medizinischen Behandlung besteht in der Beschwichtigung ihrer Leiden und der Isolierung der Abweichenden.“ Die Tätigkeit medizinischer Institutionen „wird als Hilfe bezeichnet, ist aber im hohen Maße mit der Ausübung von sozialer Kontrolle verbunden“, schreibt Smaus. Interessanterweise, darauf weist sie an anderer Stelle hin, sind dies oft ‚weibliche‘ Dienste „ganz gleich, welcher Sexkategorie die Bediensteten angehören“, während das Wachpersonal sogenannte ‚männliche‘ Dienste leistet (Seite 375).

Hier zeichnet sich ab, was im Beitrag zum ‚Geschlecht des Strafrechts‘ von 1997 (Seite 239 ff.) ausbuchstabiert wird, indem dem Strafrecht selbst ‚männliche‘ Eigenschaften attestiert werden (Seite 256) und – in Anlehnung an Sandra Harding – von einem durchweg geschlechtlich differenzierten Universum ausgegangen wird, „in dem alles entweder dem sogenannten männlichen (gender) oder dem weiblichen (gender) Prinzip zugeordnet wird“ (Seite 265). Auch wenn das Strafrecht als ein gleiches Recht par excellence verfasst sei, habe es doch auf der Ebene primärer Kriminalisierung „in Wirklichkeit je spezifische Adressaten. Das heißt, daß nur Gesellschaftsmitglieder in ganz spezifischen Situationen oder Positionen bestimmte Tatbestände verletzen können“ (Seite 246). Sie konstatiert, dass „der geschlechtsspezifische Charakter des Strafrechts viel zuverlässiger als ätiologische Theorien den geringen Anteil von Frauen an der Kriminalität [erklärt]“ (Seite 248). Auf der Ebene der Rechtsanwendung, auch sekundäre Kriminalisierung, beschreibt sie „die weitgehende Nicht-Anwendung des Strafrechts gegenüber Männern, die Gewalt an Frauen und Kindern anwenden“, die so auffallend sei, dass sie besonders in ‚privaten‘ Bereichen als eine quasi-legale erlaubt werde (Seite 243).

Ganz zum Ende des Sammelbandes und zum Ende ihres Schaffens, das sie auf einer Professur im (tschechischen) ‚Uni-Exil‘ beendete, fragte sie – auf einer von Gaby Temme und Christine Künzel organisierten Tagung – noch einmal grundsätzlich nach dem Sinn der Frage nach dem ‚Geschlecht‘ des Strafrechts (Seite 355). Ihre Reminiszenz an Kant und seine Frage: was wir wissen können (er fragte auch noch: was wir tun sollen), zeigt eindrücklich wie weit (bloßes) Nachdenken, das Streben nach Erkenntnis (auch: Philosophie genannt) tragen kann. In diesem Aufsatz entwirft sie das Bild einer symbolischen Ordnung, die alle gesellschaftlichen Institutionen einschließt und in deren Kern die Vergeschlechtlichung steht, die – logischerweise – auch das Strafrecht erfasst (Seite 363 ff.). Genauso wichtig sei aber die Erkenntnis, dass – hinter scheinbarer Rationalität – Macht- und Herrschaftsbeziehungen verschleiert werden (Seite 362), deren Ungleichverteilung im Zentrum feministischer Kritik stehen sollte (Seite 374). Dabei vergisst sie nicht zu erwähnen, dass im Zentrum der Selektivität und der repressiven Wirkung des Strafrechts „Männer der Unterschicht, zumal solcher mit dunkler Hautfarbe bzw. mit ‚Migrationshintergrund‘“ stehen (Seite 375) – und dass auch dies durch eine feministische Lupe zu sehen sei, die hegemoniale Männlichkeit, und nicht Männlichkeit schlechthin, ins Zentrum stellt (Seite 374).
Gerlinda Smaus wäre nicht Gerlinda Smaus, wenn sie das Ganze nicht auch mit Überlegungen zu einer feministischen Erkenntnistheorie rahmen würde (Seite 197). In ihrem klugen Aufsatz benennt sie als zentrale Kritik einer androzentristischen Wissenschaft „die Vernachlässigung der Vergeschlechtlichung der Gesellschaft“ selbst sowie das Ziel einer Überwindung der „essentielle[n] Auffassung von Geschlecht und von Kriminalität und Kriminellen“ (Seite 197) und stellt fest, dass „es kein geschlechtsneutrales Universum [gibt], alle Begriffe unseres Denkens sowie alle gesellschaftlichen Institutionen haben eine Zuordnung zu der Dichotomie ‚männlich – weiblich‘ erfahren.“ (Seite 200). Sie unterscheidet drei (feministische) Erkenntniszugänge: Einen feministischen Empirismus, der im Kern eine spezifische Frauenforschung propagiert, um scheinbare Wissenslücken zu schließen (Seite 201 ff.); das, was sie ‚feministische Standpunkttheorie‘ nennt, die Unterdrückten eine Art Erkenntnisvorsprung zugesteht (Seite 203 ff.), und schließlich der ‚feministische Postmodernismus‘, der vielfältige hierarchische Unterdrückungsstrukturen – und eben nicht nur die aufgrund des Geschlechts – erklären will (Seite 204 ff.).

Wahrscheinlich gilt ihre Analyse, dass die feministische Kriminologie Forschung „von Frauen und über Frauen“ sei und nur wenige deutsche Kriminologinnen Rechenschaft über ihren epistemiologischen Zugang zu kriminologischen Themen ablegten (Seite 205), noch heute – jedenfalls habe ich mich angesprochen gefühlt! Bleibt zu hoffen, dass es eine nächste Generation feministischer Kriminologinnen gibt, die, auch unter dem Eindruck der Arbeiten von Gerlinda Smaus, vieles besser macht. Das Buch ‚Ich bin ich‘ ist insofern ein ermutigendes Beispiel des ‚lebenslangen Lernens‘. Gerade deshalb seien allen die biographischen Teile des Buches nochmals ausdrücklich ans Herz gelegt: neben den Antworten von Gerlinda Smaus auf Fragen von Brunilda Pali und Johannes Feest (Seite 1 ff.) gehört für mich dazu auch das intellektuelle Zwiegespräch mit ihrem langjährigen Weggefährten Alessandro Baratta in ‚Ich bin ich‘ (Seite 311 ff.), über die Auseinandersetzungen mit dem Abolitionismus (Seite 25 und 69 ff.) oder der kritischen Kriminologie (Seite 151 und 219 ff.) – immer ist man Teil einer Entwicklung! Das ist das große Verdienst von Gerlinda Smaus, aber auch dieses Sammelbandes.