STREIT 1/2018

S. 14-15

Dagmar Oberlies: Finanzierung des Hilfesystems bei Gewalt gegen Frauen und Mädchen als staatliche Pflichtaufgabe?

Aus: STREIT 4/1997, S. 162-170 (Auszug)

Die wichtigste Feststellung gleich zu Anfang: Die Bereitstellung des Hilfesystems bei Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist eine staatlicher Pflichtaufgabe. Die rechtliche Grundlage bildet Artikel 2 GG:
„Jeder hat das Recht auf körperliche Unversehrtheit.“ (Art. 2 Abs. 2 GG).
Daß damit nicht nur ein „Abwehrrecht“ gegen staatliche Eingriffe gemeint ist, hat das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen – glücklicherweise nicht nur denen zum § 2181 – klargestellt. Auch im sog. „Schleyer“-Urteil2 findet sich der Satz, daß die Schutzpflicht des Art. 2 GG
„dem Staat (gebietet), sich schützend und fördernd vor das Leben zu stellen; das heißt vor allem, es vor rechtswidrigen Eingriffen anderer zu bewahren.“
Das gilt selbstverständlich nicht nur für Eingriffe von Müttern und Terroristen, sondern auch für Ehe- und andere Männer.
In diese Schutzpflicht hat das Gericht in seinen Entscheidungen zur Genehmigung kerntechnischer Anlagen3 auch die körperliche Unversehrtheit einbezogen. Allerdings geht es – wie meine Untersuchung über Tötungsdelikte zwischen Männern und Frauen zeigt – bei familiärer Gewalt nicht nur um die körperliche Unversehrtheit, sondern sehr wohl und nicht nur in einem übertragenen Sinn um das Leben von Frauen: Die Hälfte der Frauen, die von ihrem Partner getötet werden, sind mißhandelt worden.4

Gewaltfreie Lebensbedingungen
Unstreitig ist also, daß Art. 2 GG den Staat zum Schutz von Frauen und Kindern vor familiärer Gewalt verpflichtet. Im Hinblick auf den Umweltschutz ist Konsens, daß
„der Staat für Umweltbedingungen zu sorgen (hat), die ein Leben ohne gesundheitliche Gefährdung ermöglichen,“5
nur Art und Weise liegen im Gestaltungsermessen des Gesetzgebers.
Gleiches hat auch im Hinblick auf das Leben von Frauen und Kindern zu gelten: Der Staat hat Bedingungen zu schaffen, die ein Leben ohne körperliche Gefährdungen ermöglichen. Das ist, da verfassungsrechtlich geboten, eine staatliche „Pflichtaufgabe“. Die Frage ist nur, wie der Schutz im einzelnen auszusehen hat.

Wirksamer Schutz
An dieser Stelle könnte sich die unselige § 218-Entscheidung doch noch als segensreich erweisen. Dort heißt es:
„Die Verfassung gibt den Schutz als Ziel vor, nicht aber seine Ausgestaltung. (…) Notwendig ist ein (…) angemessener Schutz, entscheidend ist, daß er als solcher wirksam ist. Die Vorkehrungen, die der Gesetzgeber trifft, müssen für einen angemessenen und wirksamen Schutz ausreichend sein und zudem auf sorgfältigen Tatsachenermittlungen und vertretbaren Einschätzungen beruhen.“6
Weniger, als für einen wirksamen Schutz nötig, darf es nicht sein. Ob das ausreichende Maß sorgfältig ermittelt und vertretbar eingeschätzt wurde, unterliegt verfassungsrechtlicher Prüfung.7 Dabei muß
„(der Staat) auch Gefahren entgegentreten, die für dieses Leben in den gegenwärtigen absehbaren realen Lebensverhältnissen (…) begründet liegen.“8
Mit anderen Worten: Er kann sich nicht darauf beschränken, Rechtsnormen zu erlassen, er muß auch auf die realen Lebensverhältnisse einwirken. All das gilt nicht nur für „ungeborenes Leben“, sondern auch – und erst recht! – für geborenes Leben. An einer so verstandenen Schutzpflicht
„haben sich alle staatlichen Organe, je nach ihren besonderen Aufgaben auszurichten.“9

Konkret heißt das:

  • Der Gesetzgeber hat Gesetze zu erlassen, die nicht nur einen effektiven Schutz vor familiärer Gewalt gewährleisten, sondern – zur Gewaltprävention – auch auf die Herstellung gleicher Lebens-chancen von Männern und Frauen zielen,

  • die Polizei hat Betroffene wirksam vor Übergriffen zu schützen, die Gerichte müssen ihrer – präventiven und repressiven – Schutzaufgabe genügen,

  • Schulen und Jugendämter haben in ihren Zuständigkeitsbereichen für Gewaltprävention und -repression zu sorgen,

  • wo Prävention versagt, muß Zuflucht und Schutz verfügbar sein;

  • das alles selbstverständlich auch unter Einsatz finanzieller Mittel. Sparbemühungen dürfen, so das Bundesverfassungsgericht, kein Grund sein, präventive Hilfen zu vernachlässigen.

Die Antwort auf die Frage, wie der staatliche Schutz vor Gewalt ausgestaltet sein muß, ist also denkbar einfach: er muß wirksam! sein und zwar nachprüfbar wirksam.
(…)

Schlussbetrachtungen
Ich kann zusammenfassen: es gibt keinen einfachen Weg zur Absicherung des Hilfesystems bei familiärer Gewalt: jeder der vorgeschlagenen Wege ist mit „Schwierigkeiten“ verbunden.
Aus meiner Sicht gibt es aber richtigere und falschere Wege.
Falschere Wege sind solche, die sich nicht an dem Ziel: Schutz vor familiärer Gewalt orientieren, sondern andere, nicht an den Bedürfnissen der eigentlich Betroffenen orientierte Ziele verfolgen; falschere Wege sind auch solche, die sich nicht um ein abgestimmtes, effektives Hilfesystem bemühen, sondern einzelne Hilfeformen herausgreifen; falschere Wege sind schließlich all diejenigen, die sich nicht an dem „was, mit welchem Ziel“ getan wird, messen lassen.
Wenn Schutz vor familiärer Gewalt eine staatliche Pflichtaufgabe ist, dann gibt es eine Verantwortlichkeit und die liegt weder bei den Projekten noch bei den Betroffenen, sondern bei Bund, Ländern und Gemeinden. Ziel muß es sein, daß die Verantwortlichkeit effektiv und unter öffentlicher Kontrolle wahrgenommen wird.

  1. BVerfGE 39, 1 ff. und BVerfG KritV 1/93, 9ff.
  2. BVerfG 46, 160, 164.
  3. BVerfG 49, 89 ff. (Kalkar); 53, 30 ff. (Mülheim-Kärlich); 60, 297 ff. (Wyhl); 61, 256 (Stade).
  4. Dagmar Oberlies: Tötungsdelikte zwischen Männern und Frauen. Eine Untersuchung geschlechtsspezifischer Unterschiede aus dem Blickwinkel gerichtlicher Rekonstruktionen, Pfaffenweiler (Centaurus) 1995.
  5. Vgl. Stein: Staatsrecht, § 21 I, vgl. dazu auch BVerwG NJW 1983, 2931.
  6. BVerfG, KritV 1/93, 9, 43.
  7. BVerfG, KritV 1/93, 9, 43.
  8. BVerfG, KritV 1/93, 9, 46.
  9. BVerfGE 46, 160, 164.