STREIT 1/2025
S. 21-23
Die Praxis der Verfolgung sexueller und reproduktiver Gewalt im Völkerstrafrecht in Deutschland
Vortrag beim 48. FJT am 11. Mai 2024 in Berlin im Rahmen des Forums „Sexualisierte und reproduktive Gewalt im Völkerstrafrecht – Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis“.
I
Seit längerer Zeit wird national und auch international immer wieder betont, dass die Verfolgung von sexueller und reproduktiver Gewalt ein Schwerpunkt im Völkerstrafrecht sein sollte und diese Straftaten zu lange zu wenig Beachtung fanden bzw. kaum ermittelt wurden. Viele Nichtregierungsorganisationen, aber auch staatliche Ermittlungsbehörden haben in den letzten Jahren dieses Thema in den Fokus genommen. Dies habe ich zum Anlass genommen, für den Feministischen Juristinnentag 2024 die Gründe dafür zu erforschen. Es gab zu dem Zeitpunkt bereits eine selbstkritische Analyse im Hinblick auf das Tribunal für das ehemalige Jugoslawien, wo ebenfalls diese Straftaten vor allem am Anfang kaum oder gar nicht ermittelt wurden, obwohl sehr viele Aussagen von Zeuginnen vorlagen und diese sogar den Anlass zur Gründung des Tribunals gaben.
Im Rahmen dieses Beitrags möchte ich mich nun mit den Details beschäftigen in den jeweiligen Ermittlungsabschnitten, die dazu führen, dass diese Straftaten immer wieder herausfallen und am Ende Ermittlungen nicht stattfinden.
Insgesamt wurden gegen 85 Personen Strafverfahren wegen Völkerstraftaten in Deutschland durchgeführt. Allerdings in lediglich sechs Fällen – gegen sieben Angeklagte – wurde wegen Sexualstraftaten ermittelt, also gerade mal in 8 % der Fälle.
In einem Fall kam es zur Verurteilung eines Mannes, der die Aufsicht über eine Abteilung eines syrischen Gefängnisses hatte, wegen sexueller Folterungen an Gefangenen. In drei Fällen wurden Frauen als Angehörige des IS verurteilt, weil sie Beihilfe zu Vergewaltigungen an Jezidinnen geleistet hatten, die durch ihre Ehemänner begangen wurden. In einem weiteren Fall wurden die beiden Anführer der FDLR in der Demokratischen Republik Kongo für die von ihren Mitgliedern begangenen Sexualstraftaten zwar angeklagt, aber nicht verurteilt. Da die Zeuginnen anonymisiert waren, wurden die Sexualstraftaten eingestellt.
Abgeschlossene Verfahren wegen reproduktiver Gewalt existieren nicht. Aber immerhin ist ein Verfahren anhängig, in dem ein Arzt in Syrien die Genitalien eines Jungen und eines Mannes derart verletzt haben soll, dass die Bundesanwaltschaft dies als Versuch ansieht, sie der Fortpflanzungsfähigkeit zu berauben.
Dennoch: Diese Bilanz ist nach mehr als 30 Jahren Völkerstrafrecht in Deutschland dürftig, zumal davon auszugehen ist, dass alle Seiten eines bewaffneten Konflikts sexuelle Gewalt ausüben und oft auch reproduktive Gewalt.
II
Ich will nun einige zentrale Gründe dafür benennen, woran es liegt, dass Sexualstraftaten im Völkerstrafrecht bisher kaum ermittelt wurden und was die Bundesanwaltschaft tun müsste, um dies zu ändern und Sexualstraftaten in angemessenem Umfang in die Ermittlungen mit einzubeziehen.
Die Staatsanwaltschaft muss Sexualstraftaten zu den zentralen Verbrechen ihrer Arbeit bestimmen. So hat die Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs 2014 ein Grundsatzpapier zu sexuellen und gender-basierten Verbrechen verabschiedet, um die angemessene Verfolgung dieser Verbrechen zu erreichen.
Die Staatsanwaltschaft muss eine Strategie zur Priorisierung der Ermittlung von Sexualstraftaten entwickeln und diese von der Leitung zu den Ermittler_innen weitergeben. Die Anwendung der Strategie auf die Praxis muss kontinuierlich verfolgt und überprüft werden. Sichtbarer Einsatz der Leitungsebene für die Ermittlung dieser Verbrechen ist äußerst bedeutsam.
Die Hypothese der Staatsanwaltschaft muss sein, dass während des Konflikts begangene Sexualstraftaten in Verbindung mit dem Konflikt stehen, so wie andere Straftaten auch.
Oft findet man die fehlerhafte Annahme, dass Sexualstraftaten systematisch oder massenhaft verübt sein müssen, um sie als Verbrechen gegen die Menschheit zu werten. Richtig ist, dass es genügt, wenn eine einzige Sexualstraftat vorliegt, die als Teil eines weitverbreiteten oder systematischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung begangen wurde.
Kontextuelles Verständnis ist wichtig, um begangene Sexualstraftaten akkurat einzuordnen und zu verstehen.
Die Fehlannahme, dass die Ermittlung von Sexualstraftaten zusätzliche Ressourcen und zusätzliche Zeit benötigt, muss aufgegeben werden. Diese Vermutung ist unrichtig. Sexualstraftaten müssen behandelt werden wie andere Verbrechen auch.
Neben Opferaussagen müssen auch andere Beweismittel herangezogen werden, wie z.B. militärische Berichte, Geheimdienstinformationen, sowie andere Berichte von der Zivilgesellschaft oder Expert_innen, die die Sexualstraftaten in einem Konflikt beleuchten und untermauern.
Die Anzahl weiblicher Ermittlerinnen und Staatsanwältinnen ist zu erhöhen. Selbstverständlich sind sie zu schulen und weiterzubilden in der Ermittlung dieser Verbrechen.
Eine vertiefte Genderanalyse ist unentbehrlich für das richtige Verständnis.
Eine Reihe von Missverständnissen und Vermutungen müssen ausgeräumt werden:
Vergewaltigung und andere Akte sexueller Gewalt sind Ehrverbrechen statt gewalttätiger Akte.
Sexuelle Gewalt ist nicht so schwerwiegend wie andere Verbrechen, wie z.B. Mord.
Sexuelle Gewalt ist persönlich motiviert und aus der Gelegenheit heraus begangen, also opportunistisch.
Gewaltverbrechen, wie Mord oder Zerstörung von Eigentum, begangen in einer ethnischen Säuberungskampagne, sind vorhersehbar für führende Verantwortliche, aber sexuelle Gewalt ist es nicht.
Sexuelle Gewalt kann nur verfolgt werden, wenn sie weitverbreitet, systematisch oder auf Befehl begangen wurde.
Die Bundesanwaltschaft hat ein Ermessen, welche Verbrechen zur Verfolgung ausgewählt werden, da es sich in der Regel um Massenverbrechen in einem bewaffneten Konflikt handelt. Dabei besteht das Risiko, dass Sexualstraftaten eher gerade nicht ausgewählt werden, da ihnen immer noch anhaftet, dass sie schwerer zu ermitteln sind und viel Zeit und Ressourcen benötigt werden.
Ebenso besteht das Risiko, im Falle einer Absprache und einer entsprechenden erheblichen Verkürzung des Verfahrens, dass ausgehandelt wird, dass die Sexualstraftaten herausfallen und ein Geständnis zu den übrigen Anklagepunkten erfolgt.
Die Vorbereitung auf Opferbefragungen und ihre Durchführung erfordert, dass eine Umgebung geschaffen wird, in der das Opfer in der Lage ist, über die Straftaten zu sprechen, wo es sich geschützt und sicher fühlt. Das erfordert auch, in einer Art und Weise zu fragen, die auf die Sprache und den Hintergrund des Opfers eingeht, also technische Begriffe vermeidet.
Dolmetscher_innen müssen vorbereitet werden und Training erhalten, wie sie sich verhalten und welche Worte sie benutzen. So ist es z.B. im Kurdischen so, dass jegliche Erzählung über Sexuelles vulgär ist. Es ist dann die Kunst des Dolmetschers oder der Dolmetscherin, Worte zu finden, die es dem Opfer ermöglichen, zu benennen, was passiert ist. Es muss aber auch gewährleistet sein, die notwendigen rechtlichen Anforderungen zu erfüllen, also z.B. die Penetration bei einer Vergewaltigung.
Ohne konkrete Fragen zu stellen, werden die Opfer über Sexualstraftaten kaum sprechen. Ohne konkrete Fragen werden Sexualstraftaten also nicht zu ermitteln sein.
Zeitlicher Druck, z. B. in Haftsachen, kann dazu führen, dass Straftaten herausfallen. Ein hohes Risiko besteht, dass dies die Sexualstraftaten sind, da sie als kompliziert zu ermitteln gelten.
Eine Genderberater_in sollte innerhalb der Staatsanwaltschaft beschäftigt werden und ausreichend Ressourcen zur Verfügung haben. Die Rolle eines solchen Beraters/einer solchen Beraterin sollte mindestens folgendes umfassen:
Beratung der Mitarbeitenden zu genderbezogenen Straftaten und zu frauenpolitischen Themen, sowie zu Stellenausschreibungen und der Auswahl von Bewerber_innen;
gemeinsame Erarbeitung und Formulierung der (rechtlichen) Strategie und die Verfolgung der Rechtsprechung zu Sexualstraftaten im internationalen Strafrecht;
Unterstützung der Ermittlungsgruppen bei der Entwicklung einer Ermittlungsstrategie zur Verfolgung von Sexualstraftaten.
Zusätzlich dazu sollten „Gender Focal Points“ für die Verfolgung von Sexualstraftaten innerhalb aller Abteilungen eingerichtet werden. Sie sorgen dafür, dass in allen Verfahrensabschnitten darauf geachtet wird, dass Sexualstraftaten adäquat verfolgt werden.
Teamübergreifend sollte eine Genderperspektive auf alle Aspekte des staatsanwaltschaftlichen Mandats gerichtet werden.
Alle Beschäftigten müssen genderkompetent sein, damit die Umsetzung der Gender Policy gewährleistet ist. Alle Mitarbeitenden sollten einbezogen werden in die Entwicklung der Gender Policy, so dass sie sich diese zu eigen machen und auch in der Praxis umsetzen. Information und Schulung darin sind unerlässlich und sollten auch regelmäßig wiederholt werden.
Da die Bundesanwaltschaft nicht schwerpunktmäßig Sexualstraftaten ermittelt, müssen die Mitarbeitenden gesondert darin geschult werden.
Die befragten Opfer und Zeuginnen sollten die Wahl haben, ob sie von weiblichen oder männlichen Ermittlerinnen und Dolmetscher_innen befragt werden.
Psychologische Unterstützung sollte angeboten werden, sowohl für die Opfer als auch für die Mitarbeitenden.
III
Dies ist eine lange Liste von Schritten, die umgesetzt werden müssten, um eine umfassende und angemessene Verfolgung von konfliktbezogenen Sexual- und Reproduktionsstraftaten zu erreichen.
Ein erster Anfang könnte sein, dass die Bundesanwaltschaft zunächst kritisch selbst analysiert, warum die Quote verfolgter Sexualstraftaten bei lediglich 8 % aller nach dem Weltrechtsprinzip verfolgten Völkerstraftaten liegt. Die wiederholte, öffentliche Benennung der Hintergründe und Ursachen in Artikeln und auf Veranstaltungen könnte hilfreich sein und langfristig zu einem Umdenken bei der Bundesanwaltschaft führen.