STREIT 1/2025
S. 15-20
Rechtslage afghanischer Frauen und Mädchen nach der Machtübernahme der Taliban
Dr. Alema Alema ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Frankfurt University of Applied Sciences. Sie war stellvertretende Friedensministerin in Afghanistan und danach Afghanistan-Referentin von PRO ASYL. Der vorliegende Beitrag beruht auf den kontinuierlich publizierten Dokumenten von Pro Asyl. Die Publikationen wurden im Zeitraum von 2022 bis 2024 von den Expertinnen Dr. Alema Alema und Fiene Wolf verfasst.
Während der Herrschaft der Islamischen Republik Afghanistan wurden im Bereich der Frauenrechte sukzessive Fortschritte erzielt. Hierzu zählte die Verabschiedung einer modernen Verfassung, welche im 2. Kapitel alle Aspekte des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte beinhaltete. In Artikel 22 der afghanischen Verfassung von 20041 heißt es, dass „die Bürger Afghanistans – Männer und Frauen – vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten haben“. Zudem wurden Staatsanwaltschaften und Spezialgerichte zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen eingerichtet. Das Engagement der Islamischen Republik Afghanistan für internationale Verträge und den rechtlichen Rahmen ebnete den Weg für eine grundlegende Unterstützung der Frauenrechte. Mit der Umsetzung der Verfassung wurden staatliche, juristische und menschenrechtliche Institutionen wie etwa die „Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC)“ gegründet. Es entstand eine Zivilgesellschaft, die hinter dieser Verfassung und den damit einhergehenden Freiheitsrechten stand, vor allem in den Großstädten. In ländlichen Regionen hingegen erlebte man eine graduelle Implementierung, die durch archaische Strukturen limitiert war. Die Reformen hinterließen nachhaltige Spuren, wenngleich deren Effekte als begrenzt zu betrachten sind. Mit der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 wurde der rechtliche Status der Frauen erheblich eingeschränkt.
Bereits in den Jahren 1996–2001 waren Frauen in Afghanistan von den Taliban massiv unterdrückt worden. Seit August 2021 entrechten die Taliban sie nun erneut in allen erdenklichen Lebensbereichen – und gehen dabei – entgegen ihrer vorherigen Versprechungen – ähnlich brutal wie in ihrer letzten Schreckensherrschaft vor. Die schrittweisen Fortschritte bei der Stärkung der Frauenrechte unter der Regierung der Islamischen Republik Afghanistans in den vorangegangenen 20 Jahren wurden zerstört. Millionen von Mädchen verlieren ihre Lebensperspektive auf ein selbstbestimmtes Leben.
Die Liste der Entrechtungen ist inzwischen sehr lang: Frauen dürfen nicht reisen, keinen Sport treiben, keine Parks oder öffentlichen Bäder besuchen. Ihnen wurden die Möglichkeiten auf Bildung, politische Teilhabe und auf freie Ausübung eines Berufes genommen. Viele sind bedroht von Zwangsehen mit Taliban-Anhängern und von brutalen Strafen für angeblich „unislamisches Verhalten“ wie Inhaftierung, sexuelle Misshandlung in Haft2 und Auspeitschung. In einem Dekret der Taliban Anfang Juli 2023 wurde die Schließung von Schönheitssalons3 angekündigt. Das klingt im westlichen Verständnis womöglich eher harmlos, im afghanischen Kontext bedeutete das, dass damit auch die letzten geschützten Orte für Frauen verschwinden. Zudem haben schätzungsweise 50.000 Frauen4 ihre Einkommensquelle – in einem Land, in dem es für Frauen fast keine legalen Verdienstmöglichkeiten mehr gibt – verloren.
An Frauen gerichtete Verbote seit der Machtübernahme durch die Taliban
7. September 2021: Verkündung des neuen Regierungskabinetts ohne Frauen.5
8. September 2021: Der damalige stellvertretende Minister für Information und Kultur, Ahmadullah Vathiq, erklärt, dass Frauensport eine „unangemessene und unnötige“ Aktivität sei, da die fehlende Bedeckung der Spielerinnen gegen die Scharia verstoße.
17. September 2021: Umbenennung des bisherigen Frauenministeriums in „Ministerium für Gebet und Führung und die Förderung von Tugenden und Verhinderung von Lastern“.
18. September 2021: Einschränkung der Schulbildung für Mädchen nach der sechsten Klasse.
19. September 2021: Verbot der Weiterarbeit für weibliche Angestellte der Stadtverwaltung Kabuls, außer deren Arbeit kann nicht von männlichen Kollegen erledigt werden.
November 2021: Verbot, in Fernsehsendungen aufzutreten. Empfehlung an Journalistinnen und Moderatorinnen, ihr Gesicht vollständig zu bedecken.
26. Dezember 2021: Anweisung an Autofahrer, Frauen bei mehr als 72 km Fahrt nicht ohne „ordentlichen Hijab“ und Maharam (Vater, Bruder, Ehemann oder Sohn) mitzunehmen.
27. Februar 2022: Verbot für Frauen, ohne Vormund ins Ausland zu reisen.
27. März 2022: Einschränkung des Zugangs zu Parks, Verbot ohne Maharam an Bord nationaler (und internationaler) Flüge zu gehen.
Mai 2022: Offenbar Verbot für Fahrschulen, Frauen auszubilden und Einstellung der Vergabe von Führerscheinen an Frauen.
7. Mai 2022: Verpflichtung in der Öffentlichkeit den „korrekten Hijab“ zu tragen, vorzugsweise durch das Tragen einer Burka oder dadurch, dass Frauen das Haus nicht ohne Grund verlassen („die erste und beste Form der Einhaltung des Hijab“). Befehl an Ladenbesitzer, die Köpfe von weiblichen Schaufensterpuppen zu bedecken.
21. Mai 2022: Fernsehmoderatorinnen müssen ihr Gesicht verhüllen.
1. Juni 2022: Alle Mädchen der vierten bis sechsten Klasse müssen auf dem Schulweg ihr Gesicht verhüllen.
Ende Juni 2022: Schließung des Frauenparks „Sharare Bagh“ in Kabul, weil sich die Frauen nicht an den „empfohlenen Hijab gehalten“ hätten.
Juli 2022: Verbot der Weiterarbeit für weibliche Angestellte des Finanzministeriums, die stattdessen ein männliches Familienmitglied zur Arbeit schicken sollen.
23. August 2022: Frauen im öffentlichen Dienst werden gebeten, der Arbeit fernzubleiben.
September 2022: Offenbar Schließung von Sprachbildungszentren, wenn Mädchen nicht getrennt von Jungen und ausschließlich von weiblichen Lehrkräften unterrichtet wurden. Offenbar Verbot an Moscheen, Mädchen Islamunterricht zu geben.
Oktober 2022: Verbot für Studentinnen, Master-Abschlüsse in Bereichen wie Landwirtschaft, Wirtschaft, Informatik und Ingenieurwesen zu erwerben.
10. November 2022: Verbot, in Fitnessstudios zu gehen.
11. November 2022: Zutrittsverbot zu Parks in Kabul; eine später in der Provinz Faryab veröffentlichte Bekanntmachung verbietet Frauen den Zugang zu öffentlichen Bädern, Turnhallen, Sportvereinen und Vergnügungsparks.
Dezember 2022: Verbot für Studentinnen, ihren Uni-Abschluss so wie ihre männlichen Kommilitonen außerhalb des Campus zu feiern. Empfehlung an deren männliche Familienmitglieder und männliches Hochschulpersonal, den Abschlussfeiern nicht beizuwohnen.
21. Dezember 2022: Das Recht von Frauen, Universitäten zu besuchen, wird mit sofortiger Wirkung ausgesetzt.6 (In vielen Regionen Afghanistans konnten Medizinstudentinnen ihr Studium dennoch zunächst fortsetzen.)
22. Dezember 2022: Verbot aller Formen von Bildung für Mädchen nach der 6. Klasse.
24. Dezember 2022: Verbot an nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen weibliche afghanische Angestellte zu beschäftigen.
8. März 2023: Vorhergehende Scheidungen von Frauen in der Islamischen Republik Afghanistans werden annulliert, Frauen werden gezwungen zu ihrem Ex-Mann zurückzugehen.
4. April 2023: Verbot, bei den Vereinten Nationen zu arbeiten.
4. Juli 2023: Ankündigung der landesweiten Schließung von Schönheitssalons.7
19. Juli 2023: Verbot, an Aufnahmeprüfungen für Universitäten und Hochschulen8 teilzunehmen.
Juli 2023: Verbot der Teilnahme an medizinischen Fachprüfungen,9 um ein spezialisiertes Medizinstudium aufzunehmen.
(Quellen, wenn nicht anders angegeben: UN-Menschenrechts-Rat und BBC10 – hier[https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/Einschraenkungen_Frauen_Afgh_BBC-29.01.23_deutsche_Uebersetzung.pdf] in deutscher Übersetzung.)
Das Tugendgesetz von 2024
Das 114-seitige Dokument mit 35 Artikeln, das der Associated Press11 vorliegt, ist das erste Laster- und Tugendgesetzespaket der Taliban, die seit Mitte 2021 in Afghanistan die Macht innehaben. Bisher haben die Taliban ihre Vorschriften für Frauen per Dekret erlassen – mittlerweile über 80 an der Zahl.
Mit dem neuen Gesetz erhält die Sittenpolizei des zuständigen „Ministeriums für Gebet und Orientierung sowie zur Förderung der Tugend und zur Verhinderung von Lastern“ mehr Macht. Sie darf das persönliche Verhalten der Bevölkerung über Verwarnungen bis hin zu Untersuchungshaft regulieren. Das Gesetz wurde am 21.08.2024 vom Obersten Führer Hibatullah Achundsada in Kraft gesetzt.12 Maulvi Abdul Ghafar Farooq, Sprecher des Ministeriums, kommentierte:13 „Inshallah [so Gott will] versichern wir Ihnen, dass dieses islamische Gesetz eine große Hilfe bei der Förderung der Tugend und der Beseitigung des Lasters sein wird“.
Das Gesetz fokussiert sich insbesondere auf Frauen.
In Artikel 13 heißt es, dass eine Frau ihren Körper in der Öffentlichkeit jederzeit bedecken muss und dass eine Gesichtsbedeckung unerlässlich ist, um andere nicht zu „verführen“. Die Kleidung darf nicht dünn, eng oder kurz sein. Es heißt konkret: „Muslimische Frauen sind verpflichtet, ihren Körper und ihr Gesicht vor Nicht-Mahram-Männern zu verbergen“, und: „Muslimische Frauen sind verpflichtet, ihren Körper vor ungläubigen Frauen zu verbergen“.
Selbst die Stimme der Frau wird als intim bezeichnet und darf in der Öffentlichkeit nicht länger zu hören sein – konkret verboten ist ihnen lautes Singen, Reimen und Rezitieren. Außerdem ist es ihnen verboten, Männer anzusehen, mit denen sie nicht blutsverwandt oder verheiratet sind, und umgekehrt. Die Taliban wollen Frauen aus dem öffentlichen Leben ausschließen. Sie werden zu „unsichtbaren Wesen“ gemacht.
Es kann festgestellt werden, dass die Gesetzgebung auch auf die gesamte Bevölkerung eine unterdrückende Wirkung ausübt.
Das Gesetzespaket betrifft vor allem Frauen, aber auch viele Aspekte des täglichen Lebens der ganzen Bevölkerung, wie öffentliche Gebets-Regeln, Männer-Kleidung, Bartlänge, Verkehrsmittel, Musik und das Feiern.
So verbietet das Gesetz zum Beispiel die Veröffentlichung und das Ansehen von Bildern von Menschen und Tieren, was die ohnehin fragile afghanische Medienlandschaft bedroht. Auch das Abspielen von Musik wird verboten. Die Beförderung allein reisender Frauen wird verboten und Fahrer und Fahrgäste werden verpflichtet, zu bestimmten Zeiten Gebete zu verrichten. Männern und Frauen, die nicht miteinander verwandt sind, wird es grundsätzlich verboten sich einander zu nähern. Homosexuelle Beziehungen, Ehebruch und Glücksspiele werden ebenfalls in dem Gesetz (erneut) verboten.
Das Verbot, eine Ausbildung im Gesundheitssektor zu absolvieren, führt zu einer weiteren Katastrophe im Land.
Die von den Taliban verhängten Restriktionen hinsichtlich der Teilhabe von Frauen am öffentlichen Leben bestehen fort. Seit dem August 2021 ist Mädchen und Frauen der Zugang zu höheren Schulen und Universitäten verwehrt. Eine Ausnahme bildete der Gesundheitssektor, in den Frauen sich weiterhin an staatlichen und privaten Instituten vor allem zu Hebammen und Krankenschwestern ausbilden lassen könnten. Seit Anfang Dezember 2024 ist es Frauen jedoch verboten, eine Ausbildung in medizinischen Berufen zu absolvieren, was eine signifikante Einschränkung ihrer Möglichkeiten darstellt, sich im Land weiterzubilden.
Die neuen Beschränkungen werden den Zugang zu einer hochwertigen Gesundheitsversorgung weiter einschränken und deren Verfügbarkeit in Zukunft ernsthaft gefährden. Mickael Le Paih, Landeskoordinator von „Ärzte ohne Grenzen“ in Afghanistan, kritisierte die Entscheidung, Frauen vom Studium an medizinischen Instituten auszuschließen, mit den Worten, dies verwehre ihnen die Ausbildung im Gesundheitsbereich und schließe sie von einer gleichberechtigten Gesundheitsversorgung aus.14
Ausdehnung der Tugendgesetze auf die Bauvorschriften.
Gemäß einem kürzlich erlassenen Dekret des Taliban-Führers Hebatullah Akhundzadeh vom 28.12.2024 wurde die Orientierung der Fenster von Gebäuden in Richtung der Nachbarhäuser untersagt.15 Das Fünf-Punkte-Dekret besagt, dass Frauen beim Kochen, Sitzen und Aufstehen nicht aus dem Fenster des Nachbarhauses gesehen werden dürfen.
Nach Art. 1 des Dekrets ist es einer Person, die ein Gebäude errichten möchte und in dessen fußläufiger Entfernung sich ein anderes Gebäude befindet, untersagt, das Fenster seines Gebäudes in Richtung der Küche, des Brunnens oder eines anderen Ortes zu positionieren, an dem Frauen üblicherweise sitzen und gesehen werden.
Artikel 2 des Dekrets legt fest, dass eine Person, die ihr Fenster vor das Haus des Nachbarn setzt, eine Mauer errichten muss, die so hoch ist wie eine Person davor, oder andere Maßnahmen ergreifen muss, um „Schaden“ durch den Nachbarn zu verhindern. Die Gemeinden und andere von den Taliban kontrollierte Institutionen wurden beauftragt, die Bauarbeiten zu überwachen und zu verhindern, dass Fenster in Nachbarhäuser eingebaut werden.
Die Unterdrückung soll als eine Form der „Gender-Apartheid“ anerkannt werden.
Vom 19. Juni bis 14. Juli 2023 tagte der UN-Menschenrechtsrat zur Situation der Frauen in Afghanistan. Richard Bennett, UN-Sonderberichterstatter zur Lage der Menschenrechte in Afghanistan, und die von Dorothy Estrada-Tanck geleitete UN-Arbeitsgruppe gegen Frauendiskriminierung legten zu diesem Anlass den Expert*innenbericht „Situation of women and girls in Afghanistan“ vor. Darin heißt es, dass es in den vergangenen Jahren „nirgendwo sonst auf der Welt einen so weitreichenden, systematischen und allumfassenden Angriff auf die Rechte von Frauen und Mädchen wie in Afghanistan“ gegeben habe [eigene Übersetzung aus dem Engl.]. „Das diskriminierende und restriktive Umfeld, das Klima der Angst und die fehlende Rechenschaftspflicht für die vielfältigen Verstöße […] machen es Frauen und Mädchen unmöglich, ihre Rechte wahrzunehmen, halten alle Personen und Organisationen davon ab, sie zu verteidigen, und ermutigen zu weiteren Verstößen.“ Daher schlagen die Expert*innen vor, die systematische Unterdrückung von Mädchen und Frauen als „eine geschlechtsspezifische Verfolgung und einen institutionalisierten Rahmen der Gender-Apartheid“ einzustufen.
Der Begriff „Gender-Apartheid“ wurde schon zur ersten Taliban-Herrschaft Mitte der 1990er Jahre von Menschenrechtsaktivist*innen in bewusster Anlehnung an die systematische Unterdrückung von Schwarzen im früheren Südafrika eingeführt. Der Begriff selbst ist im internationalen Recht zwar nicht als Verbrechen definiert, aber gemäß Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe h des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs16 wird die „Verfolgung aus Gründen des Geschlechts“ als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ eingestuft. Würde die Unterdrückung von Frauen in Afghanistan als ebendieses anerkannt werden, würde das die internationale Gemeinschaft zum Handeln verpflichten und rechtliche Instrumente gegen das Regime ermöglichen.
In der Tagung baten die Expert*innen bei der Vorstellung des Berichts die 47 Mitgliedstaaten des UN-Menschenrechtsrates, entsprechende Untersuchungen durchzuführen.17 Viele Staaten begrüßten diesen Ansatz.18 Auch wurde der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) gebeten,19 zu prüfen, ob die geschlechtsspezifische Verfolgung der Taliban als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden und damit vor den IStGH gebracht werden kann.
Die Entscheidung des EuGH, afghanische Frauen zu schützen, stellt einen bedeutenden Fortschritt in der internationalen Rechtsprechung dar.
Frauen in Afghanistan werden unsichtbar gemacht – allein, weil sie Frauen sind. Deshalb brauchen sie Schutz. Keine Frau in Afghanistan kann ein Leben frei von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen führen.
Flüchtlingseigenschaft für afghanische Frauen
Mit seinem Urteil20 vom 4. Oktober 2024 hat der EuGH diese Realität anerkannt und entschieden, dass allen afghanischen Frauen, die in Europa Schutz suchen, dieser Schutz auch gewährt werden muss. Der EuGH entschied nun, dass die Situation der Frauen in Afghanistan so gravierend ist, dass sie die rechtliche Schwelle zur Verfolgung erreicht: eine Handlung, die eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellt. Nach Artikel 9 Abs. 1 Buchstabe b der Qualifikationsrichtlinie21 kann Verfolgung auch in der Kumulierung verschiedener Maßnahmen bestehen. Eine individuelle Prüfung ist dann nicht mehr erforderlich. Die nationalen Behörden dürfen davon ausgehen, dass afghanische Frauen grundsätzlich der Verfolgung ausgesetzt sind. Daher können die Behörden ihnen den Flüchtlingsstatus gewähren, ohne die individuellen Umstände jeder Frau näher zu betrachten.
Rechtliche Möglichkeiten für afghanische Frauen in Deutschland
Die Entscheidung des EuGH ist eine positive Nachricht für alle afghanischen Frauen, die sich noch im Asylverfahren befinden, da das Urteil für deren Entscheidung bindend ist. Es bietet aber auch eine Chance für afghanische Frauen, deren Anträge (teilweise) abgelehnt wurden.22
Das Urteil des EuGH macht deutlich: Alle afghanischen Frauen sind Verfolgung ausgesetzt und sollten daher per se den Flüchtlingsstatus erhalten. Es ist unerheblich, inwieweit sie sich „verwestlicht“ haben oder zu anderen diskriminierten sozialen Gruppen gehören.
Verfahren gegen die Taliban auf internationaler Ebene
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich gegenwärtig zwei Verfahren gegen die Taliban auf internationaler Ebene in Bezug auf die Diskriminierung von Frauen in der afghanischen Gesellschaft befinden:
Einerseits wurde der Fall durch Frankreich und fünf weitere Länder offiziell an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) weitergeleitet, mit dem Ziel, die Situation in Afghanistan23 zu untersuchen. In der Begründung wurde auf die sich verschlechternde Situation von Frauen und Mädchen in Afghanistan verwiesen. Die Überweisung des Falles Afghanistan an dieses Gericht zeigt, dass diese sechs Länder die Schwere der Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan unter der Taliban-Regierung anerkennen und davon ausgehen, dass die Taliban in Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verwickelt sein könnten.
In einer gemeinsamen Erklärung vom 27.09.24 forderten Deutschland, Australien, Kanada und die Niederlande die Taliban dazu auf, den in der UN-Frauenrechtskonvention verankerten Verpflichtungen nachzukommen. In der Erklärung wird betont, dass Afghanistans Frauen und Mädchen uneingeschränkt die Wahrnehmung ihrer Menschenrechte verdienen. 26 weitere Staaten sowie die Generalsekretäre der Vereinten Nationen schlossen sich dieser Erklärung an und beklagten, dass die Taliban die Rechte der Frauen missachten. Mit dieser Handlung wird gegen die UN-Frauenrechtskonvention CEDAW verstoßen, die Afghanistan 2003 unterzeichnet hat. Die Vertragsstaaten der Konvention drohen den Taliban mit Konsequenzen.
Auch das Europäische Parlament wurde aktiv und hat am 19. September 2024 eine Resolution verabschiedet, in der die Diskriminierung von Frauen verurteilt und klar als Genderapartheid benannt wird.24 Laut der Resolution haben die Taliban ihre extreme Auslegung der Scharia durchgesetzt und Frauen aus dem öffentlichen Leben verbannt.
Die de facto-Behörden Afghanistans werden so zur Rechenschaft gezogen, insbesondere durch die Untersuchung des Internationalen Strafgerichtshofs und die Einrichtung eines unabhängigen Untersuchungsmechanismus der Vereinten Nationen. Zudem wird die Vizepräsidentin bzw. Hohe Vertreterin aufgefordert, neue EU-Sanktionen gegen die Taliban zu initiieren.
- https://www.zaoerv.de/64_2004/64_2004_4_a_943_978.pdf ↩
- https://foreignpolicy.com/2023/06/21/taliban-afghanistan-women-violence-united-nations/ ↩
- https://www.dw.com/de/taliban-verbieten-sch%C3%B6nheitssalons-f%C3%BCr-frauen/a-66124318 ↩
- https://www.dw.com/de/taliban-verbieten-sch%C3%B6nheitssalons-f%C3%BCr-frauen/a-66124318 ↩
- https://taz.de/Neues-Kabinett-in-Afghanistan/!5795714/ ↩
- https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-lage-taliban-100.html ↩
- https://www.dw.com/de/taliban-verbieten-sch%C3%B6nheitssalons-f%C3%BCr-frauen/a-66124318 ↩
- https://8am.media/fa/prohibition-of-participation-of-girls-in-entrance-examination-students-we-are-more-disappointed-than-before/ ↩
- https://www.deutschlandfunk.de/weitere-einschraenkungen-fuer-maedchen-und-frauen-in-afghanistan-100.html ↩
- https://www.bbc.com/persian/articles/cy0kld42xexo ↩
- https://apnews.com/article/afghanistan-taliban-vice-virtue-laws-women-9626c24d8d5450d52d36356ebff20c83 ↩
- https://rta.af/fa/article4817/#:~:text= ↩
- https://apnews.com/article/afghanistan-taliban-vice-virtue-laws-women-9626c24d8d5450d52d36356ebff20c83 ↩
- https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/presse/afghanistan-frauen-ausschluss-medizinische-institute ↩
- https://x.com/Zabehulah_M33 ↩
- https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2002/586/de ↩
- https://taz.de/!5938830/ ↩
- https://taz.de/Expertenbericht-ueber-Taliban/!5942280/ ↩
- https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/rights-freedom/gender-persecution-in-afghanistan-could-it-come-under-the-iccs-afghanistan-investigation/ ↩
- Urteil des EuGH vom 4. Oktober 2024 – verbundene Rechtssachen C-608/22 und C-609/22, AH und FN – gegen Österreich, Auszüge in diesem Heft S. 32 ff. mit Anmerkung Gruber. ↩
- https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2011:337:0009:0026:de:PDF ↩
- https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2011:337:0009:0026:de:PDF ↩
- https://www.rfi.fr/fa/ ↩
- https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-10-2024-0008_EN.pdf ↩