STREIT 4/2020
S. 147-155
Ein Leben mit der Frauenbewegung
Unser Dank gilt Evelin Heetpas für ihre Unterstützung bei der Transkription.
Sarah Elsuni: Wir kennen uns fast auf den Monat genau 18 Jahre, eine Zeit, in der ich Teile deines Weges miterleben, viel erleben und lernen konnte. Insofern freut es mich sehr, dass ich aus Anlass deines 70. Geburtstags das Interview für die STREIT mit dir führen und auf diese Weise auch nochmal anders mit dir ins Gespräch kommen kann. Zum Beispiel mit der Frage: Warum bist du Juristin geworden?
Sibylla Flügge: Wahrscheinlich hauptsächlich, weil meine Mutter Juristin war, die schon in den frühen dreißiger Jahren in der Schweiz als Juristin promovierte. Interessanterweise konnte sie aber nie als Juristin arbeiten, was ihr ewiges Lebensunglück war, weil sie geheiratet hat, vier Kinder bekommen hat, Pfarrfrau war und als solche einfach in eine bestimmte Rolle gezwungen war, die sie so gar nicht wünschte für sich. Zum anderen aber – sozusagen bewusster – bin ich Juristin geworden, weil meine Mutter zu einem der Lehrgänge, die sie immer durchgeführt hat, die nannten sich „Staatsbürgerliche Lehrgänge für Frauen“, den Rechtsanwalt Heinrich Hannover aus Bremen eingeladen hat. Er hat davon erzählt, wie er Kommunisten verteidigt hat. Und ich war als Schülerin – wahrscheinlich etwa fünfzehnjährig – mit dabei und zutiefst beeindruckt und dachte: Sowas will ich werden, das will ich auch machen! Die Guten gegen die Bösen verteidigen. In dem Fall war ich zutiefst empört, dass die Kommunisten, die gegen Hitler gekämpft hatten, von den Nazis jetzt wieder verfolgt wurden, von den Nazis, die immer noch in der Justiz waren. Und Heinrich Hannover war einfach ein ganz wunderbares Vorbild. Dann war klar: Ich werde Jura studieren und ich werde Rechtsanwältin. Da gab es überhaupt nichts zu fragen.
S. E.: Das heißt, die Rechtswissenschaft war offensichtlich immer auch mit einem starken politischen Impuls bei dir verbunden. Ich habe herausgehört, auch vielleicht schon sehr früh mit der Frauenfrage?
S. F.: Ganz eindeutig. Meine Mutter war ein lebendes Vorbild, wie es nicht sein darf in der Gesellschaft. Ich habe in dem Sinne persönliches Leben immer schon – auch durch meine Eltern und durch meine Geschwister, die in der Studentenbewegung waren – politisch interpretiert. Ich selbst war in der Schülerbewegung, damals hieß es noch nicht Schüler_innenbewegung. Da war die „sexuelle Revolution“ ein ganz großes Thema, wir waren für freie Sexualität. Ganz revolutionär, weil das Strafrecht ja noch vorsah, dass Menschen, die nicht verheiratet sind, nicht miteinander schlafen dürfen, und wer das ermöglicht, wird bestraft. Dagegen haben wir uns gewehrt und da stellte sich für mich als Mädchen natürlich die Frage: Wie ist das mit dem Kinder kriegen, was ja eine Konsequenz des sexuellen Abenteuers sein kann? Die Abtreibung war absolut verboten und es waren für mich auch keine Verhütungsmittel verfügbar. In meiner Klasse wurden zwei Mädchen schwanger, die eine hat sich ein obskures Medikament vom SDS in Berlin beschaffen und abtreiben können und eine andere hat ihr Kind behalten und geheiratet. Aber dann haben die Lehrerinnen gesagt, sie dürfe kein Sportabitur machen, weil sie schwanger sei, und deswegen könne sie ihr Abitur nicht machen. Ich war in einer Mädchenschule und wir haben gesagt: „So geht das einfach nicht“. Dann konnten die das 1969 auch nicht mehr durchsetzen. Das war sozusagen die erste Frauenaktion.
Als ich im Herbst 1969 nach Frankfurt gegangen bin, habe ich mir eine politische Gruppe gesucht. Der SDS war gerade aufgelöst, also gab es Nachfolgeorganisationen und meine war der Weiberrat. Was mich in der Schulzeit auch sehr stark geprägt hatte, war die Erfahrung mit dem SDS, den es auch in Hannover gab. Da waren nur Männer. Der Anführer des SDS hatte eine Freundin, die war toll, aber völlig im Hintergrund, alle anderen waren Männer. Es war für mich eine große Irritation, dass ich mich da nicht einbringen konnte. Dann war ich bei der SDS-Delegiertenversammlung in der Stadthalle in Hannover, wo Frauen ein GO-IN machten und von den Tribünen Flugblätter herunter warfen mit der berühmten Parole: „Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen!“. Mit dieser Erfahrung war es für mich klar, dass ich in den Weiberrat gehe und natürlich in unsere „politische Gruppe“ am Fachbereich, später „Rote Zelle Jura“.
S. E.: Wie wichtig war es für dich, neben dem Jurastudium solche Anknüpfungspunkte, Verbindungen, Kollektive zu haben?
S. F.: Im Weiberrat war ich die einzige Juristin. Das ist eine Erfahrung, die man öfter macht als Juristin, jedenfalls bis in letzter Zeit, dass die feministischen Forderungen und Analysen nicht in juristischen Kreisen diskutiert werden, sondern außerhalb. Insofern war die prägende Organisation für mich der Weiberrat, wo ich gelernt habe, welche Probleme es für Frauen gibt, die dann rechtlich gelöst werden können. Im Jurastudium gab es nur wenige andere Juristinnen, wir haben uns später als Juristinnengruppe im Frauenzentrum getroffen. Aber bei meiner inhaltlichen Arbeit im Jurastudium selbst, bei der ich mich früh fokussiert habe auf Fragen des Familienrechts und des Abtreibungsverbots und seiner Geschichte, hatte ich es sehr schwer, weil es dazu praktisch keine Literatur gab. Damit war ich ganz allein.
S. E.: Du hast davon gesprochen, dass für dich klar war, als dir bewusst wurde, was die Rechtswissenschaft kann, was sie auch politisch kann, dass du Rechtsanwältin werden wolltest. Meines Wissens warst du nie Rechtsanwältin, oder?
S. F.: Ganz stimmt das nicht. Ich habe 1977 mein zweites Staatsexamen gemacht, da war ich schwanger. Als ich meine mündliche Prüfung ablegen wollte, musste ich erst einmal darauf bestehen, dass ich einen Mutterschutz habe und nicht zwei Wochen nach der Geburt meiner Tochter mein Examen ablegen muss. Das wurde schließlich auch bewilligt und dann habe ich darauf bestanden, dass ich einen Stillraum kriege, das wurde dann auch bewilligt. Das war alles sehr ungewöhnlich und hat mir natürlich großen Spaß gemacht. Dann beantragte ich die Zulassung als Rechtsanwältin und habe ein paar Mandantinnen gehabt in meinem Arbeits-, Wohn- und Schlafzimmer in der Wohngemeinschaft, in der ich wohnte. Im Sommer 1978, nachdem ich mit anderen aus meiner Müttergruppe eine Krabbelstube für meine Tochter gegründet hatte, fragte ich Margarethe Nimsch und Barbara Schön aus der Juristinnengruppe im Frauenzentrum, die zuvor eines der ersten feministischen Anwältinnenbüros gegründet hatten, ob ich bei ihnen einsteigen könne. Sie erklärten mir: „Wenn du ein Kind hast und nur halbtags arbeiten willst und auch Geld verdienen, dann vergiss es. Das ist unmöglich. Als Anwältin musst du mehr als Vollzeit arbeiten und verdienst weniger als halbtags“. Weil ich auf keinen Fall finanziell abhängig sein wollte, war das für mich keine Option. Hinzu kam, dass ich den Eindruck gewonnen hatte, dass Anwältin eigentlich der falsche Beruf für mich ist, nachdem ich in einem Unterhaltsverfahren die Erfahrung gemacht hatte, dass ich mich gegen einen Richter, der mich belügt, nicht durchsetzen konnte und dass es mir schwerfiel, mich einfach auf die Seite der Mandantin zu stellen, egal was sie will. Gerne hätte ich als Juristin in einem Frauenprojekt gearbeitet, solche Stellen gab es aber noch nicht.
Daraufhin habe ich mich beim Arbeitsamt um Stellen beworben und die Frau im Arbeitsamt sagte: „Sie wollen halbtags arbeiten als Volljuristin? Das gibt es so gut wie nicht. Ja, also ich gehe mal meine Kartei durch.“ Und dann las sie vor: „Keine Frau, keine Frau, keine Frau“. Das war beeindruckend. Ich habe dann eine ABM-Stelle, also eine vom Arbeitsamt geförderte Stelle als Langzeitarbeitslose, bekommen bei einem Verein für Unfallgeschädigte und Behinderte und habe da viel über den Sozialstaat gelernt. Die Stelle war aber von vornherein befristet auf ein Jahr. Dann habe ich nochmal zwei Mal Stellen bei Rechtsanwälten bekommen, ganz furchtbare Stellen. In der Zwischenzeit habe ich mein zweites Kind bekommen, das war ja in Ordnung und ich hatte auch ein Gehalt, das war auch in Ordnung, und zwischendrin immer wieder Arbeitslosengeld, das waren alles ABM-Stellen, eine normale Stelle war nicht zu kriegen.
Dann war ich so kaputt, dass ich mir überlegen musste: Was will ich eigentlich? Zwischendrin hatte ich immer schon mal Lehraufträge an der Fachhochschule gehabt und das hat mir Spaß gemacht. Ein Professor, Uli Stascheit, der Assistent gewesen war, als ich studierte, hat gesagt: „Du musst promovieren und dann kannst du Professorin werden, irgendwann werden hier Stellen frei!“. Das war die Rettung, das war sofort einleuchtend und also habe ich mir ein Thema gesucht. In der Frauenbewegung hatte ich mich vor allem für Gesundheitspolitik interessiert und für die Frage: „Was ist eine natürliche Geburt?“, also medizinkritisch: „Was machen die Ärzte eigentlich mit den Frauen?“ Das hatte mit meiner eigenen Geburtserfahrung zu tun. Dadurch kam ich auf das Thema: „Hebammen und heilkundige Frauen in der Rechtsgeschichte“. Ich wollte das von den Anfängen bis in die Gegenwart verfolgen, das ist nicht geglückt, weil ich erst einmal Geschichte lernen musste. Ich merkte, dass es bezogen auf meine Quellen, die „Hebammen-Ordnungen“, keine aus meiner Sicht taugliche Vorstellung gab, wie man solche Rechtsquellen interpretiert und datiert. Auch gab es medizinhistorisch keine Vorstellung davon, was eigentlich Ärzte gewesen waren im Mittelalter. Es wurde alles von der Gegenwart her in die Vergangenheit projiziert. Die Juristen hatten die Vorstellung: Ich weiß, was ein Gesetz ist, und wenn ich ein Gesetz finde, das 500 Jahre alt ist, dann ist das eben ein Gesetz. Und ein Gesetz ist etwas, was die Realität wiedergibt. Ich wusste aber, ein Gesetz gibt nicht die Realität wieder: denn z.B. der § 218 existierte, aber niemand hielt sich dran. Und ich wusste, im Eherecht waren die Frauen nicht explizit daran gehindert, nach ihren Vorstellungen zu leben. Theoretisch hätte meine Mutter berufstätig werden können, aber tatsächlich waren die Frauen nicht nur aufgrund der Tradition, sondern auch wegen finanzieller Abhängigkeit und aufgrund der Tatsache, dass die Kinder bei einer Scheidung dem „unschuldigen“ Teil zugesprochen wurden, oft in einer ausweglosen Situation und konnten sich nicht scheiden lassen. Das hatte ich durch die Beratungen im Frauenzentrum gelernt. Sie hatten, wenn sie sich gegen den Willen des Mannes scheiden lassen wollten, nur die Wahl, auf den notwendigen Unterhalt zu verzichten und/oder auf die Kinder. Und beides war im Grunde unmöglich. Das stand natürlich nicht so im BGB. Und von dieser kritischen Analyse der aktuellen Gesetze her konnte ich mich dann auch kritisch mit alten Gesetzen auseinandersetzen und musste nicht denken: So war das geregelt und so war das! Ich wusste, ich musste die rechtlichen Zusammenhänge beachten und die Lebensrealitäten. Das war unheimlich viel Hintergrundarbeit, die ich machen musste, aber es war toll.
S. E.: Bei allem, was du erzählt hast, kommen bestimmte Kernthemen heraus. Sowohl praktisch in deiner Biografie aber auch in deinem inhaltlichen, beruflichen Werdegang spielen die Themen Reproduktion, Muttersein, Vereinbarkeit und damit Geschlecht als übergeordnetes Thema eine große Rolle. Ich finde das zeigt sehr schön, wie sehr deine eigenen Erfahrungen deinen beruflichen Werdegang geprägt und mitbestimmt haben.
S. F.: Im Grunde habe ich als Teil der Frauenbewegung immer das, was für mich biografisch aktuell war, politisch thematisiert. Nachdem diese schrecklichen Anwaltserfahrungen hinter mir lagen, konnte ich an meiner Dissertation arbeiten – wobei ich ein Stipendium auch nur bekam, weil Männer im Hintergrund schließlich ihr Netzwerk in Gang gesetzt und mir ein Stipendium verschafft haben. Einfach so, mit meinem Thema und als Frau, hätte ich das nicht bekommen. Aber dann war das Stipendium irgendwann zu Ende und ich suchte eine Arbeit und fand sie beim Frauenreferat der Stadt Frankfurt, das Margarethe Nimsch 1990 als erste Frauendezernentin gegründet hatte, und wo Stellen für verschiedenste Fachreferentinnen ausgeschrieben waren. Für mich war klar: Ich nehme die Gesundheitspolitik und Prostitution. Und dann ging es gleich los mit den Wechseljahren. Wir haben da die Wechseljahre zum politischen Thema gemacht. Es geht immer darum, dass die Mediziner, so wie sie aufgestellt waren mit ihrer in Männertraditionen verwurzelten Sicht auf den Körper, Frauen zu Patientinnen gemacht haben, an denen sie herumdoktern. Der eigene Blick der Frauen auf ihren Körper und ihre Innensicht waren kein Thema. Eine der Parolen in den frühen siebziger Jahren, die ich auf einem Plakat vor mir hertrug, war: „Was in der Vagina versteckt, wird von uns jetzt selbst entdeckt!“. Dieses Objektifizieren, das wir heute eigentlich nur noch im sexuellen Bereich diskutieren, das aber natürlich auch in der Repromedizin ein großes Thema ist, war ganz stark in der damaligen Frauenbewegung präsent. Dazu gehört eben auch, dass die Frau, die altert, als irgendwie defizitär gilt und dass an ihr herumgemacht werden muss, damit sie weiter oder noch halbwegs eine Frau bleibt – was zugleich eine tolle Verdienstmöglichkeit für die Pharmaindustrie darstellt. Alle Frauen, die in Frankfurt gesundheitspolitisch arbeiteten, haben als Team Themenwochen dazu veranstaltet, das hat großen Spaß gemacht.
S. E.: Du hast unterschiedliche Unterstützungsstrukturen oder auch Personen angesprochen, die dich begleitet und unterstützt haben auf deinem Weg. Noch nicht gesprochen haben wir über die explizit feministisch-juristischen Institutionen, die du ganz wesentlich auch mitbegründet hast und über die Jahrzehnte hinweg mehr als begleitet hast. Welche Rolle spielt die STREIT, welche Rolle spielt der Feministische Juristinnentag (FJT) für dich?
S. F.: Das ist kaum zu überschätzen. Wenn ich nicht eine emotionale Heimat gehabt hätte, dann hätte ich mich immer völlig vereinzelt und schwach gefühlt. Und wenn man sich vereinzelt, schwach und hilflos fühlt, dann kann man auch nicht Politik machen. Nur wenn ich das Gefühl habe, da sind viele Andere und wir ziehen an einem Strang, dann – ich habe es schon mehrfach gesagt – macht es Spaß. Dann hat man dieses schöne Gefühl: Ich kann etwas bewegen, es geht voran, es verändert sich tatsächlich etwas in der Gesellschaft.
Für mich war der große Bruch in meiner Biografie, dass ich nicht Rechtsanwältin werden konnte, und das hatte direkt damit zu tun, dass ich ein Kind bekommen hatte. Und das bedeutete, dass ich, als die Anwältinnen begannen ihre Büros zu gründen und sich als Anwältinnen zu treffen, eher nur marginal dabei war, weil ich auch mit dem gerade geborenen, oder einjährigen Kind, als die Juristinnen sich zum ersten Mal so richtig explizit trafen, gar nicht dabei sein konnte. Aber ich war dann doch bei den Jurafrauentreffen – wie sie damals noch hießen – immer mal dabei, nur halt leider nicht als Rechtsanwältin mit eigener Kanzlei, also insofern eher am Rand. Ich habe verfolgt, was die Anwältinnen diskutierten aufgrund ihrer Praxiserfahrungen. Und dann kam das Jahr ´82, wo die Anwältinnen beschlossen haben, sie wollen eine Zeitschrift gründen. Anfang ´83 wurde in Frankfurt im Büro von Margarethe Nimsch und anderen das erste Heft konzipiert. Da war ich dabei, denn eine Zeitschrift war eine in Richtung Wissenschaft und verlegerische Arbeit gehende Arbeit. Ich lebte zusammen mit dem Vater meiner beiden Kinder, KD Wolff, der den Verlag Roter Stern hatte, und in dessen Verlag bzw. mit dessen verlegerischer Unterstützung ich – mit anderen zusammen – bereits zwei Bücher herausgegeben hatte: das erste „Frauenjahrbuch“ 1975 und dann „Mutterlust – Mutterfrust“ 1978. Daher wollte ich bei der Gründung dieser Zeitschrift dabei sein und seitdem ich in dieser Redaktion bin, bin ich dadurch eingebunden in den Austausch über Erfahrungen mit der Rechtspraxis.
Die STREIT war und ist untrennbar verbunden mit dem FJT. Nach 1983 war ja auch mein kleineres Kind schon nicht mehr so ganz klein. Da konnte ich dann relativ regelmäßig an den Jurafrauentreffen, die 1985 in Feministische Juristinnentage umbenannt worden waren, teilnehmen und mich dort unentwegt fortbilden und fortentwickeln in der Wahrnehmung der sich rechtspraktisch stellenden Probleme und der Entwicklung der feministischen Rechtstheorie. Das ist beides unverzichtbar für eine, die fortlaufend und auf einem aktuellen Niveau Rechtspolitik machen will und Rechtswissenschaft betreibt.
S. E.: Wie würdest du die Rolle von STREIT und FJT als kontinuierlichem Treffen und Austauschort rückblickend für die Entwicklung der feministischen Rechtswissenschaft beschreiben?
S. F.: Beides ist voneinander im Grunde gar nicht trennbar. Die STREIT als Zeitschrift lebt davon, dass es Frauen gibt, die in der Rechtspraxis und wissenschaftlich an den Themen arbeiten und diese auch diskutieren wollen. Und ein FJT, an dem sich diese Frauen locker und ohne größeren Organisationsrahmen jährlich treffen, wird natürlich viel einflussreicher, wenn es auch eine Zeitschrift dazu gibt, in der zu den entsprechenden Themen publiziert wird. Die feministische Rechtswissenschaft war ja, wie jede feministische Wissenschaft, lange nicht an Universitäten verankert und hatte publizistisch keinen anderen Ort, das ändert sich nur sehr langsam. Insofern ist die STREIT auch ein Dokument der Entwicklung der Diskussionen, die feministische Juristinnen über die Jahrzehnte bewegt haben und heute diskutieren. Das war dann auch der Hauptkern unseres Forschungsprojekts, das wir beide zusammen gemacht haben, in dem wir analysiert haben: Welche Forderungen wurden nach und nach entwickelt – auch vom Deutschen Juristinnenbund, dessen Bedeutung für die Durchsetzung von Frauenrechten ich erst in diesem Zusammenhang erkannt habe? Welche Forderungen wurden aufgegriffen, von welchen Parteien? Welche Gesetze kamen dabei raus? Das Drama ist, dass das Buch, das daraus eigentlich hätte entstehen sollen, nie entstanden ist, weil ich immer zu viel zu tun hatte und du dann ja auch.
S. E.: Nie entstanden oder noch nicht entstanden?
S. F.: Noch nicht.
S. E.: Genau. Bevor wir nochmal in das Inhaltliche gehen, abschließend zu deinem Werdegang, deiner Geschichte: Was würdest du jungen Juristinnen, feministischen Juristinnen als Rat mit auf den Weg geben?
S. F.: Viele Juristinnen haben Angst, dass sie sich ihre Karriere verbauen, wenn sie an den Themen arbeiten, die sie wirklich interessieren. Ich will nicht sagen, dass Leute nicht karrieristisch ihre Themen wählen sollten, es ist ja schön, wenn Frauen Karriere machen, egal wo. Aber Frauen, die wirklich mit dem Herzen ein Anliegen haben und die Welt verändern wollen, sollten an ihren Themen bleiben, denn sie haben dann trotzdem eine Chance. Wenn du dich wirklich mit deinem Herzen und deinem ganzen Verstand auf ein engagiertes, kritisches Thema stürzt und daran auch qualifiziert arbeitest, dann hast du Chancen, dass es Leute gibt, die genau das wichtig finden. Und mittlerweile haben wir eine ganze Menge Vorbilder von Frauen, die das so gemacht haben und damit auch erfolgreich waren. Ich habe meine Professur bekommen, weil ich an meinen Themen drangeblieben bin. Wenn ich mich inhaltlich verdreht hätte … das wäre für mich einfach gar nicht möglich gewesen. Also habe ich mein Ding gemacht und konnte damit erfolgreich sein, weil Ulrich Stascheit, den ich schon mal erwähnt hatte, der später den FH-Verlag gegründet hat, gesagt hat: Wir haben jetzt drei offene Juristenstellen und sowieso schon ganz viele Juristen am Fachbereich, jetzt müssen wir eine so ausschreiben, dass eine Frau kommen kann. Darum hatten sie die Professur für „Recht der Frau“ ausgeschrieben. Peng – Bingo!
S. E.: Auf eben jener Stelle hast du dann das angesprochene Forschungsprojekt zu feministischen Rechtsforderungen und deren Erfolgen gestartet. Was hat sich praktisch inhaltlich am Feminismus, an Themen im Laufe deines beruflichen, politischen Lebens geändert? Was hat sich am Feminismus, am Erleben, am Leben von Feminismus geändert?
S. F.: Feminismus ist heute aus meiner Perspektive schon nahezu Mainstream. Es ist ungeheuer, wie viele Frauen sich selbst als Feministin definieren und wie viele Frauen, ohne dass sie viel über Feminismus nachdenken, einfach ganz klar fordern, dass Frauen gleichberechtigt sein und Chancengleichheit haben müssen. Es gibt kaum jüngere oder ältere Frauen, die das in Frage stellen. Und das war früher – also in der „Aktion 218“, Anfang der 70er Jahre, als wir gegen den § 218 kämpften – gefühlsmäßig ähnlich. Wir waren zwar in der Bundesrepublik nur ungefähr, ich sage jetzt mal aus der hohlen Hand, 1.000 Frauen, die sich feministisch engagiert haben. Aber wir hatten das Gefühl, ALLE Frauen wollen, dass der § 218 abgeschafft wird; dass Frauen gleichberechtigt in der Ehe sein sollen, auch wenn sie wenig Vorstellung davon hatten, wie das sein könnte. Man konnte sich eine gleichberechtigte Gesellschaft im Grunde nicht wirklich vorstellen. Aber es gab dieses Gefühl: Alle Frauen sind hinter uns. Das war aber alles unausgesprochen und ohne Worte. Carol Gilligan hat gesagt, dass Frauen keine Stimme haben, und dieses „keine Stimme haben“ war sehr fühlbar. Wir hatten keine Analyse, wie Frauenunterdrückung funktioniert, und keine wirkliche Vorstellung, was sich entsprechend verändern müsste, außer: „Es muss alles ganz anders werden“. Das ist natürlich noch nicht sehr viel. Und das hat sich ganz massiv geändert. Heute gibt es so viele junge Frauen, die Genderstudies studiert haben und Theorien herauf und herunter erzählen können, wo ich nur staune, dem ich auch gar nicht mehr folgen kann. Das ist ganz großartig. Und auch Frauen, die sich nicht theoretisch damit auseinandersetzen, haben trotzdem ein Grundverständnis, weil es so viele Theorien gibt, die auch umgangssprachlich umgesetzt werden, in Ratgeberbüchern, in Talk-Shows, Kampagnen im Netz, blogs, Influencerinnen …; es fliegt überall herum und das ist schon sehr anders als früher.
S. E.: Und trotzdem, wenn wir uns gerade die aktuelle Krise der Gesellschaft angucken – Corona, Lockdowns – und feststellen, dass in diesem Herausgeworfenwerden aus dem Alltag sich ganz klar Geschlechterrollen wiedererkennen lassen: Die Mütter waren primär zuhause mit Homeoffice und Homeschooling und Kinderbetreuung befasst. Die Krise hat nochmal traditionelle, patriarchale Geschlechterrollen sehr, sehr sichtbar werden lassen. Was bringt es uns, dass Feminismus Mainstream geworden ist, wenn wir feststellen, irgendwie geht es doch weiter wie bisher?
S. F.: Es ist überhaupt Thema! Das wäre ja früher undenkbar! Es wird kritisiert und du sagst es, „es wird sichtbar gemacht“, das „Sichtbarmachen“ ist der Anfang von einer Veränderung. Dass wir jetzt nicht eine gleichberechtigte Gesellschaft haben – ja allerdings, so schnell geht es offenbar nicht. Wir sagen nicht: „Alles muss sich ändern!“ und plötzlich hat es sich geändert. Geschlechterverhältnisse funktionieren ja auch auf den Beziehungsebenen, wir sind emotional in die Strukturen verwickelt und schon deshalb kannst du das Patriarchat nicht einfach so mal abschaffen. Selbst die Arbeiterbewegung konnte den Kapitalismus nicht einfach beseitigen. Aber trotzdem hat sich etwas verändert. Zum ersten Mal in meiner Lebensgeschichte wird offiziell gesagt: Pflegekräfte sind wirklich wichtig! Erzieherinnen sind wirklich wichtig! Ohne die können wir gar nicht leben! (S. E.: Darum klatschen wir mal.) Darum klatschen wir mal, ja. Aber das ist der Anfang! Und plötzlich wird ernsthaft darüber nachgedacht, dass vielleicht doch Lohnerhöhungen möglich gemacht werden sollten. Das wird sich vielleicht noch Jahrzehnte hinziehen – aber es ist wenigstens schon mal Thema.
S. E.: Mit Blick – und jetzt hole ich dann doch das Forschungsprojekt und die Rechtswissenschaft ein bisschen mit hinein – mit Blick auf die Gleichberechtigung, die Geschlechterverhältnisse im Recht, wo sind wir da?
S. F.: Die Analyse des Problems hat dazu geführt, dass wir – Wissenschaftlerinnen und diejenigen, die die praktischen Probleme der Frauen in den Gesprächen in Kanzleien und Beratungsstellen wahrnehmen und daraus politische Forderungen entwickeln – erreicht haben, dass viele Gesetze geändert wurden, die bisher in ihrer Gesamtheit Frauen auf hintere Plätze verwiesen haben. Dazu gibt es jetzt viel Literatur und sehr viele Bemühungen, überall etwas zu verändern: im Sozialrecht, im Familienrecht, im Strafrecht, im Steuerrecht und so weiter. Dieses Patriarchat ist so tief verwurzelt, dass die Struktur wirklich sehr komplex ist, es gibt sehr viele Stellschrauben. Aber es ist nicht nur eine Frage von Gesetzen, es ist auch eine Frage von Leben und Liebesbeziehungen, von Kultur und Sprache. Überall gibt es Fortschritte, aber natürlich ist das ein langsamer Prozess und es kommt immer darauf an, wo die Macht sitzt; und die Macht sitzt halt nicht nur im Bundestag. Und da, wo die Macht sitzt, sind normalerweise die Männer. Es ist ein langer Prozess, bis da auch Frauen hereinkommen und wenn sie dann in den gleichen Institutionen sind, in denen vorher die Männer waren, ist die Frage, wie viel ändert sich dadurch wirklich? Ich meine, die Gleichberechtigung ist ja nicht nur eine Frage der Geschlechterpolitik, am Ende geht es dann doch viel allgemeiner um die Frage nach einer gerechten Gesellschaft. Aber das finde ich auch toll, dass die Frauenbewegung die Instrumente, die Analysemethoden und Problemzonen deutlich gemacht hat, die dann in der Folge auch anderen Emanzipationsbewegungen geholfen haben.
S. E.: Bei Strukturen, die sehr schwer aufzubrechen sind, stellt sich die Frage nach dem Recht und seiner Rolle oder Relevanz bzw. seiner Fähigkeit, die Strukturen angehen zu können. Vorhin sagtest du den Satz: Gesetze geben nicht unbedingt immer die Realität wieder. Und das zeigt sich ja, finde ich, sehr schön an der Rechtsfigur der mittelbaren Diskriminierung; es zeigt sich im Juristischen, wie schwer es ist, selbst in Anerkennung der Mittelbarkeit von Diskriminierung, diese im Einzelfall tatsächlich auch gut bekämpfen zu können.
S. F.: Es gibt das Instrument. Aber wenn ich das Ziel nicht will, dann werde ich das Instrument so einsetzen, dass es nichts nützt, oder ich werde es einfach liegen lassen. Ich habe, um mal meine Berufsbiografie abzuschließen, nach drei Jahren im Frauenreferat den Ruf erhalten auf die Stelle „Recht der Frau“ an der Fachhochschule Frankfurt, obwohl das auch nur ging, weil Menschen sich für mich eingesetzt haben, auch im Ministerium, weil die Ministeriumsverwaltung mich mit Zähnen und Klauen verhindern wollte. Dann wurde ich sofort Gesamtfrauenbeauftragte der Fachhochschule und habe zwanzig Jahre lang in Berufungsverfahren gesessen und gesehen, dass die rechtlichen Instrumente, die ich in der Hand hatte, praktisch sehr wenig Wirkung hatten. Wenn ich Leuten, die eine Frau berufen wollten, sagte: „Das müssen Sie auch!“, dann waren sie ganz zufrieden, weil sie eine Begründung hatten. Wenn ich Leuten, die keine Frau berufen wollten, sagte: „Sie müssen das aber!“, dann haben sie gesagt: „Hier geht es nur um Qualifikation!“. Ich habe, gerade weil ich Juristin bin, mehr als andere Frauenbeauftragte darauf verzichtet, mich auf Recht zu berufen, weil die Kollegen mich dann als so autoritär, dominant und unterdrückend empfunden haben, dass sie alles getan haben, um zu verhindern, dass ich Recht bekomme.
S. E.: Wenn uns das Recht nicht hilft und nicht weiterhelfen kann, was braucht es denn dann, um Strukturen aufzubrechen?
S. F.: Es braucht einen langen Atem, dass mehr Frauen, und, wenn man allgemeiner spricht, marginalisierte Gruppen, in die Positionen kommen, in denen sie Entscheidungen treffen können. Es gibt immer ein paar Privilegierte, die dafür durchaus offen sind, und die sozusagen die Schlupflöcher öffnen, durch die die anderen dann kommen können, und die werden unterstützt durch Gesetze. Wenn genug drin sind, dann kann man weitere nachholen und wenn weitere nachgeholt sind, ändert sich der gesamte Diskurs und die Kultur und dann können mehr nachkommen. Und plötzlich haben wir eine Mehrheit von Frauen am Bundesverfassungsgericht! Undenkbar vor zwanzig Jahren. Dafür ist es aber wichtig, dass man Strukturen hat, die Frauen den Eintritt in die Macht ermöglichen.
Ein Bild, das ich vor Augen habe, das für mich auch prägend war, ist der Einfluss von Frauen in den Kirchen. Ich komme aus einem protestantischen Pfarrhaus und habe miterlebt, wie die ersten Frauen, die nach dem Krieg Theologie studiert haben, nicht Pfarrerinnen werden konnten, weil Paulus im neuen Testament das Lehren durch Frauen verbietet. Das ist der Bibelspruch, der über Jahrhunderte Frauen auch den Zugang zu Universitäten und Regierungsämtern verhindert hat. In der evangelischen Kirche gibt es aber eine demokratische Grundstruktur, die es Frauen erlaubt hat, in Entscheidungsgremien zu kommen. Natürlich – genauso wie im Bundestag – erst einmal nur ganz wenige, aber immerhin! Sie konnten den Mund aufmachen. Und deswegen konnte sich das Kirchenrecht verändern in Richtung: Frauen dürfen auch lehren, Frauen dürfen auch Pfarrerinnen werden. Und kaum, dass sie in größerer Zahl Pfarrerinnen waren, haben sie die Theologie verändert und das Zitat von Paulus, in dem er sagt: „Frauen müssen ihren Männern untertan sein und Frauen dürfen nicht lehren“, war plötzlich nicht mehr das letzte Wort. In der katholischen Kirche haben wir diese demokratischen Strukturen nicht. Da haben wir einen Papst, der bis heute sagt: „Nein, das wollen wir nicht“. Dann sind die Bischöfe, die es eigentlich auch gern anders hätten, hilflos, da können sie nichts machen. Und insofern sind gesetzliche Strukturen wichtig, damit diejenigen, die etwas ändern wollen, es leichter haben, es zu ändern.
S. E.: Also Änderung durch Präsenz und Repräsentation.
S. F.: Ja natürlich! Das ist die Methode des Gender-Mainstreaming.
S. E.: Ich möchte noch einmal zurückkommen auf die Frage: Wo sind wir feministisch? Wo ist der Feminismus? Was sind die aktuellen Fragen? Was sind die Kernthemen, die sich aus feministischer Perspektive derzeit stellen?
S. F.: Ein Kernthema ist die Frage der Reproduktion. Wer kann welche Technologien in Anspruch nehmen, um Kinder zu bekommen? Was ist überhaupt ein „eigenes“ Kind? Auf was kommt es eigentlich an? Auf die Genetik? Oder auf die Schwangerschaft? Oder auf die soziale Beziehung? Welche Bedeutungen haben diese Faktoren und welche Bedeutungen wird ihnen das Recht geben? Ich kann dabei auch anknüpfen an die alte Medizinkritik, dass die Ärzte dazu neigen, die Frauen zu Objekten zu machen. Und ich kann ausgehen von der Kapitalismuskritik, dass Firmen versuchen, möglichst viel Geld zu verdienen mit irgendwelchen Technologien, ohne darüber nachzudenken, was das wiederum für Menschen bedeutet und für unser Menschenbild und für unsere Kultur. Feministinnen müssen in besonderer Weise darauf aufpassen, dass diese Tendenz, Menschen zum Objekt zu machen, nicht überhandnimmt.
Eine andere Problematik, die sich Feministinnen im Moment stellt, ist die Frage, wie eigentlich die Überwindung des Patriarchats durch Frauenförderung, Art. 3 GG, realisiert werden könnte, wenn auf die Zuschreibung „Frau“ verzichtet würde. Und ob das eigentlich nötig ist, also, ob man nicht alle Gender, jede Diversity berücksichtigen kann im Antidiskriminierungsrecht, ohne auf die Zuschreibung „Mann/Frau“ zu verzichten. Natürlich hat das Patriarchat auch die Seite, dass es andere Geschlechtsidentitäten unterdrückt. Aber der Hauptfokus liegt darin, eine Spaltung zwischen Männern und Frauen aufzuziehen und Frauen auf eine bestimmte Position festzunageln. Dazu gehört auch, dass ein bestimmtes Bild, wie man sich zu verhalten hat und wie man auszusehen hat, mit „Frau“ verbunden ist. Und wenn man sagt: „Es gibt Männer und Frauen und andere Geschlechter“, dann stellt sich schon die Frage: Warum müssen das „andere“ Geschlechter sein? Ist denn eine „Frau“ etwas ganz genau definiertes? Oder ist das nicht vollkommen offen, wie eine Frau körperlich gebaut ist und wie sie sich verhält? Oder umgekehrt: sollte es nicht vollkommen offen sein, wie sich eine Person verhält, die weibliche Genitalien hat? Die Frage ist: Wie können wir eine Gesellschaft überwinden, die einem bestimmten Aussehen Verhaltensweisen zuordnet, die direkt oder subtil erzwungen werden und dann mit mehr oder weniger Möglichkeiten der Beteiligung an Macht verbunden sind und an Geld. Das ist jetzt nicht sehr theoretisch, aber es entspricht dem, was ich aus meiner Erfahrung heraus formuliere und nicht, was ich aus der Lektüre heraus formuliere.
S. E.: Das ist mehr als legitim. Du sprichst damit eine der großen, ich nenne es mal internen Herausforderungen an, denen sich Feminismus stellen muss, nämlich die Infragestellung einer Binarität, die politisch, rechtlich lange Zeit nicht in Frage gestellt wurde, sondern wo es um die Zuschreibungen, um Machtverhältnisse innerhalb dieser Binarität ging. Siehst du das feministische Projekt der neuen Frauenbewegung, der zweiten Frauenbewegung gefährdet durch das Einbringen einer heteronormativen Kritik, durch dieses Infragestellen einer Binarität, einem politischen Kampf, der sich zum Beispiel personenstandsrechtlich hat feststellen lassen, wenn es darum geht zu sagen: Es kann nicht sein, dass Recht nur diese beiden Geschlechter kennt und es muss möglich sein, eben gerade im Rahmen der Selbstbestimmung von Menschen, auch zu sagen: „Da passe ich nicht rein!“. Siehst du das als Konflikt?
S. F.: Ich glaube, keine der Feministinnen, die ich kenne, besteht darauf, dass es nicht weitere Geschlechter geben darf. Die Frage ist: Soll der Begriff „Frau/Mann“ überhaupt getilgt werden? Das ist die eigentliche Kontroverse. Aber nicht, ob es weitere Geschlechter im Personenstandsrecht geben darf. Was ich formulierte, aufgrund meiner Erfahrungen, ist: Wenn ich an meine Jugend zurückdenke und ich wäre so, wie ich damals war, heute eine Jugendliche, dann würde ich heute vielleicht sagen: „Ich bin keine Frau!“ Ich habe mich damals, bildlich dargestellt, als junger, männlicher Kämpfer gefühlt, als St. Georg, weil ich dachte: „So bin ich!“ Und damals dachte ich, ich kann so sein und trotzdem kann ich eine Frau sein, und ich werde auch mal ein Kind haben, das war mir eigentlich ziemlich sicher, aber ich war trotzdem St. Georg. Und heute frage ich mich: Würde ich dann heute sagen: Ich bin keine Frau? Warum eigentlich? Warum kann ich denn nicht Frau sein und trotzdem St. Georg, Drachentöter, mit Speer und völlig phallisch, ich habe mich auch phallisch gefühlt! Die Gefahr, die ich hier sehe ist, dass Mediziner und Industrie ein massives Geschäft machen wollen mit der Anpassung von Körpern an Geschlechtsstereotype – wir kennen das schon aus dem Bereich der „Schönheitsoperationen“ – und das könnte ausgedehnt werden auf medizintechnische „Behandlungen“ zur Vermeidung von Geschlechtsdiskriminierung oder Homophobie durch Herstellung normangepasster Körper.
S. E.: Das zeigt, wie komplex es ist, und dass es eben sehr genau darum geht, sich jeweils anzugucken über welchen Zugang, über welchen Bereich, über welches Instrument, auch politisches Instrument, wir sprechen. Das ist die alte Diskussion um Identitätspolitiken. Und du hast eine meiner aktuellen Kernfragen feministischer Rechtswissenschaft gestellt: Wie gehen wir mit jenem Dilemma um, dass wir, wenn wir auf Zuschreibungen verzichten wollen, wenn wir Kategorien aus dem Recht nehmen wollen – personenstandsrechtlich ließe sich das schön umsetzen, da hat das Parlament leider die Chance vertan – wie gehen wir damit um, dass wir gegebenenfalls auf sehr starke, politische, rechtliche Instrumente, wie Quotenregelungen, verzichten müssen, die gerade darauf abzielen sichtbar zu machen und zu benennen?
S. F.: Deswegen bin ich eher der Meinung, definiere Geschlechter so viele du willst – aber eigentlich denke ich, die Zuschreibung sollte wirklich offen sein. Ich denke, der wesentliche Fortschritt wurde erreicht, als gesagt wurde: „Wer Transgender ist, muss sich nicht umoperieren lassen“. Denn es geht nicht darum, ob du einen Phallus hast oder eine Vagina oder irgendwas, um dein Geschlecht zu definieren, also so kannst du fluide bleiben. Aber auf die Erkenntnis, wir leben in einem Patriarchat, zu verzichten und zu sagen, es geht nicht um Männlichkeit und Frauenunterdrückung – ja, wo leben wir dann eigentlich, wenn wir nicht in einer Gesellschaft leben, die zwischen Männern und Frauen unterscheidet und Frauen in eine untergeordnete Position verweist? Wenn wir das nicht mehr adressieren, wenn wir darüber nicht mehr sprechen, dann haben wir ganz große Probleme, das Patriarchat zu überwinden, wenn wir so tun, als gäbe es das gar nicht, als gäbe es nur Kapitalismus oder so – darüber spricht man bei einer Genderdiskussion ja auch nicht wirklich – worüber sprechen wir dann überhaupt noch?
S. E.: Ein Thema, an dem das aktuell durchaus sehr stark besprochen wird, ist das Thema sexualisierte Gewalt, also die aktuellen Debatten, die global aufkamen – #MeToo. Die haben das Thema nochmal in den Mainstream gehoben, also Feminismus wirklich in den Mainstream gebracht. Wird diese Sichtbarmachung effektiv gewesen sein?
S. F.: Die sexuelle Gewalt bzw. die Gewalt gegen Frauen wird von der Frauenbewegung adressiert seit 1976 und zwar ständig und stark. Wenn ich sage, der Feminismus ist heute eher Mainstream als damals, dann auch deswegen, weil das heute sehr viele Frauen thematisieren, zwischendrin war das viel weniger der Fall. Heute ist das sogar in der Istanbul-Konvention verankert, also durch den Europarat, von Erdogan als Erstem unterzeichnet – und gerade wieder gekündigt. Das zeigt, es ist eben doch noch ein schwieriges Thema. Das heißt, es ist überhaupt nicht bewältigt, es ist überhaupt nicht überwunden, es ist lediglich sichtbar gemacht. So wie du das vorhin von der Corona-Krise gesagt hast. Die Geschlechterteilung, also die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, und die Gewalt gegen Frauen ist nicht überwunden, aber sie ist sichtbarer geworden. Aber die Themen sind die gleichen seit den siebziger Jahren und werden auch ungefähr in der gleichen Weise diskutiert. Sie sind halt sehr schwer zu überwinden.
S. E.: Nimmst du einen Unterschied wahr, was die Herausforderungen von außen betrifft im Vergleich zu den 70er Jahren, wenn wir uns erstarkende politische, antifeministische Strömungen ansehen? Das ist ja etwas, was wir in den letzten Jahren durchaus verstärkt wahrnehmen.
S. F.: Antifeministinnen gab es immer, das heißt der Mainstream war ganz aggressiv antifeministisch und frauenfeindlich, immer. Und jetzt haben wir die Situation, dass sich das eigentlich nicht mehr gehört, dass es nicht mehr politisch korrekt ist, das ist schon mal ein großer Schritt. Umso mehr gibt es natürlich diejenigen, die sich als scheinbare Außenseiter positionieren, als „Wir sind gegen diesen Genderquatsch“. Was ja nicht nur Rechtsradikale sind, aber doch mit Rechtsradikalismus verwoben ist. Hier wird ein Problem deutlich: In der Diskussion über Nationalsozialismus wurde die tiefe Frauenfeindlichkeit des Nationalsozialismus vernachlässigt, die Entrechtung der Frauen in dieser Zeit. Das war nie wirklich Thema und deswegen wird heute auch nicht genug wahrgenommen, dass diejenigen, die sich gegen „Gender-Diktatur“ wehren, rechtsradikale Traditionen pflegen. Sie sind stark und sie sind laut und das hat auch sehr viel mit dem Internet zu tun, mit sozialen Medien, die solche Schreihälse ungeheuer verstärken. Die hätten früher irgendwo was gesagt und jetzt sagen sie es im Internet und jeder hört es bzw. man kann es lesen. Das macht die Sache unangenehmer und auch gefährlicher für die Betroffenen. Das ist eine Veränderung, die gefährlich ist und wo wir noch sehr wenig wissen. Das ist eine der ganz großen schwierigen Herausforderungen: wie wir uns gegen Internet-basierte Gewalt wehren können.
S. E.: Beziehungsweise das Internet als Verstärker von Gewalt.
S. F.: Es ist selbst Gewalt, also das Internet ist selbst Gewalt, in dem es dich verängstigt und belästigt. Aber es provoziert auch Gewalt, also dann auch wirklich wieder reale Gewalt im normalen, also körperlichen Leben.
S. E.: Ich denke auch, es geht verstärkt um das, was du als Political Correctness eingebracht hast, um die Frage des gesellschaftlich Sagbaren, Denkbaren. Da nehme ich massive Verschiebungen wahr. Wenn du die neuere Geschichte anguckst und beim Nationalsozialismus startest, dann gab es, sicherlich ganz klar und ganz stark über Bewegungen – etwa die Frauenbewegung – mitinitiiert, in die Gesellschaftsmitte hinein eine Verrückung dessen, was nicht mehr so einfach sagbar ist; was denkbar bleibt, sei dahingestellt. In den letzten zehn Jahren ist wieder sehr, sehr viel sagbar geworden mit wahrnehmbaren Folgen, die nicht nur bei dem Gesagten bleiben.
S. F.: Das hat, glaube ich, sehr viel mit der Technologie zu tun. Schon in meiner Jugend war das ein großes Thema, die NPD und dann kamen die Republikaner und dann kamen eine nach der anderen die ganzen rechtsradikalen Parteien, die gab es immer. Ich habe als Jugendliche einmal eine Nazi-Organisation besucht, um zu hören, wie sie reden. Klar gab es sie, nur waren sie nicht im Internet und insofern konnten sie auch nicht so laut werden. Und ob es jetzt schon dazu geführt hat, dass auch mehr Prozent der Menschen sich diesen Vorstellungen anschließen, das kann ich nicht beurteilen, ist auch schwer zu zählen. Aber natürlich erreichen sie heute solche Verrückten, wie den Mörder von Hanau, die dann denken: „Ah, jetzt bin ich berechtigt und verpflichtet, Menschen zu erschießen“.
S. E.: Es geht schon um das Darstellen von Mehrheiten. Also dieses Lautsein ist ein ganz wesentlicher Punkt.
S. F.: Man fühlt sich dann berechtigt und verpflichtet und kann sich glorios inszenieren, weltweit. Deswegen filmen die ja ihre Taten oft, weil sie denken: „Dann bin ich der Held, der weltweit wahrgenommen wird, und bin nicht nur so ein Hansel, der nichts kann und keinen Einfluss auf nichts hat.“
S. E.: Was kann Feminismus, beziehungsweise was können feministische Akteur_innen hier entgegensetzen?
S. F.: Das Problem ist, dass die Technologie, die das alles ermöglicht und verstärkt, nicht beherrschbar ist durch unsere normal eingeübten, demokratischen Prozesse. Es sind weltweit agierende Firmen, die nur sehr marginal nationalen Gesetzen unterliegen und diese Firmen sind nicht zufällig alle erfunden von Männern und mehr oder weniger in der Hand von Männern. Das meinte ich vorhin, wenn ich sage: Wo ist die Macht? Also da, wo die Macht ist, sind Männer, und ein Beispiel sind die Börsenspekulanten und ein anderes Beispiel sind diese Tecfirmen. Wie wir uns als Frauen dagegen wehren können, oder als diskriminierte Gruppen, die davon gefährdet sind, das weiß ich nicht. Da braucht man eine riesige und weltweite politische Bewegung, weil die Konzerne weltweit agieren. Aber andererseits ermöglichen diese Konzerne genau diese weltweite Bewegung.
S. E.: Sie ermöglichen es, es gibt ja durchaus auch positive Aspekte, zum Beispiel die #Metoo-Debatte ist eine, die vor allem in den sozialen Medien geführt wurde.
S. F.: Eben, das meine ich! So wie die Bedrohung durch die sozialen Medien kommt, so kann man sich auch wehren über soziale Medien. Aber wie man tatsächlich die Bedrohungen eingrenzen kann, ist natürlich ein zivilrechtlich, strafrechtlich, öffentlichrechtlich, auf vielen Ebenen zu adressierendes Problem, das auch nicht nur national gelöst werden kann, das macht es so schwer.
S. E.: Auf welche feministische Frage suchst du noch eine Antwort?
S. F.: Eine zentrale Frage ist: Welche Bedeutung wird in einer wirklich geschlechtergerechten Gesellschaft der Begriff „Frau/Mann“ haben. Und eine weitere zentrale Frage ist: Wie können Frauenrechte durchgesetzt werden, in einer Gesellschaft, die weltweit organisiert ist, ohne wirklich organisiert zu sein, wo also Akteure weltweit agieren, die aber nicht national steuerbar sind. Wie können Frauen in diese Machtzentren kommen und was würden sie da verändern? Wenn dadurch, dass Frauen herein kommen, einfach alles gleich bliebe, wäre es ja nutzlos.
S. E.: Höre ich da ein nächstes Projekt? Gibt es ein nächstes Projekt?
S. F.: Mein nächstes Projekt, an dem ich im Moment arbeite, ist eine Kiste im historischen Museum der Stadt Frankfurt am Main in dem Projekt „Bibliothek der Generationen“ – ein Kunstprojekt, das über 100 Jahre läuft und bei dem jedes Jahr ein oder zwei Menschen gebeten werden, ihre Lebenserfahrungen und Dokumente, was immer sie wollen, in eine Kiste zu legen, die am Ende mit allen anderen zusammen ein Bild der Stadtgesellschaft Frankfurt ergibt. Ich wurde gebeten, meinen Beitrag zu leisten als Repräsentantin der Frauenbewegung in Frankfurt, was ich sehr, sehr toll finde und wo ich politische und private Dokumente einlegen kann, die historisch wertvolle Quellen sein können in 100 Jahren, wenn sich mal eine_r dafür interessiert.
S. E.: Damit schließt sich unser Gespräch und ich danke Dir.
S. F.: Und ich danke dir.