STREIT 4/2023
S. 148-153
Entgeltgleichheit: Widerlegung der Vermutung geschlechtsbezogener Benachteiligung. Anmerkung zu BAG v. 16.2.2023 – 8 AZR 450/21
Sachverhalt und Entscheidungsgründe – kurz skizziert
Die Beklagte betreibt ein Unternehmen in der Metall- und Elektroindustrie. Zum 1.1.2017 stellte sie einen staatlich geprüften Techniker als „Mitarbeiter Vertrieb/Außendienst“ ein. Auf Verlangen des Bewerbers erhöhte die Beklagte das Grundgehalt von ursprünglich 3500,– € brutto auf 4500,– € brutto. Dieses Gehalt erhielt der Beschäftigte bis Oktober 2017; danach erhielt er 3500,– € brutto. Für den Monat Juli 2018 wurde sein Gehalt auf 4000,– € brutto erhöht. Die Klägerin, Diplom-Kauffrau, wurde zum 1.3.2017 als „Mitarbeiterin Vertrieb/Außendienst“ eingestellt. Ihr individuell ausgehandeltes monatliches Grundgehalt betrug 3500,– € brutto. Weiterhin wurde eine unbezahlte Freistellung im Umfang von 20 Tagen pro Jahr vereinbart.
Ab 1. August 2018 trat bei der Beklagten ein Haustarifvertrag in Kraft. In Anwendung einer Deckelungsregelung i. H. v. 120,– € erhielt die Klägerin ein Monatsgrundgehalt von 3620,– € brutto. Dementsprechend erhielt auch der Mitarbeiter auf der Grundlage des Monatsgrundgehalts von 4000,– € ein um 120.- erhöhtes Grundgehalt.
Die Klägerin hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, die Entgeltdifferenz von März bis Oktober 2017 in Höhe von 1000,– € monatlich, insgesamt 8000,– €, sowie die Entgeltdifferenz für den Monat Juli in Höhe von 500,– € an sie zu zahlen. Weiterhin bestreitet sie die Anwendung der Deckelungsregelung des Haustarifvertrags. Darüber hinaus verlangt sie eine Entschädigung wegen geschlechtsbezogener Diskriminierung in Höhe von mindestens 6000,– € gemäß § 15 Abs. 2 AGG.
Der 8. Senat sprach der Klägerin die begehrte Vergütungsdifferenz von 8500,– € brutto zu. Die Deckelungsregelung wurde für nicht anwendbar erklärt, sodass sie Anspruch auf weitere 6000,– € hat. Die Entschädigung gemäß § 15 Abs. 2 AGG setzte das BAG auf 2000,– € fest. Nach Ansicht des Senats konnte der Arbeitgeber die vermutete Entgeltbenachteiligung wegen des Geschlechts nicht widerlegen. Insbesondere folgte der 8. Senat nicht der Argumentation der Beklagten, dass sie im Rahmen der Vertragsfreiheit dem männlichen Beschäftigten ein höheres Entgelt gezahlt habe, weil dieser besser verhandelt habe.
Mit dieser Entscheidung bekräftigt der 8. Senat seine im Urteil vom 21.1.2021 ausführlich begründete Position zur Beweislastverteilung nach dem Entgelttransparenzgesetz1
und setzt weitere Akzente zum Begriff der „gleichen“ Arbeit, sowie zu den Begründungen des Arbeitgebers für die bessere Bezahlung des Mitarbeiters – hierauf fokussiert sich diese Anmerkung.2
Weiter wird die vom Begehren der Klägerin erheblich nach unten abweichende Höhe der Entschädigung gem. § 15 Abs. 2 AGG thematisiert.
1. Europarechtskonforme Auslegung und Anwendung des Entgelttransparenzgesetzes
Das Urteil setzt die Linie der europarechtskonformen Auslegung und Anwendung des Entgelttransparenzgesetzes aus den Entscheidungen von Juni 20203
und Januar 2021 konsequent fort.
Anspruchsgrundlage für die im Rahmen der Entgeltdiskriminierung vorenthaltene Vergütung4
ist Art. 157 AEUV, der unmittelbare Anwendung findet.5
Seit Inkrafttreten des Entgelttransparenzgesetzes kann die Klägerin ihren Anspruch daneben auf §§ 3 Abs. 1, 7 EntgTranspG stützen. Diese setzen Art. 2 Abs. 1 a), e), Art. 4 der EU-Richtlinie 2006/54/EG (Allgemeine Gleichbehandlungsrichtlinie) in deutsches Recht um und sind daher im Lichte der Rechtsprechung des EuGH auszulegen. Das wegen der unterschiedlichen Höhe betroffene Grundentgelt legt das BAG als „Entgelt“ im Sinne des § 5 Abs. 1 EntgTranspG aus. Der Begriff des „Entgelts“ ist einheitlich europarechtlich geprägt und bezeichnet alle Grund- oder Mindestentgelte, sowie ergänzende oder variable Vergütungen, die unmittelbar oder mittelbar in bar oder in Sachleistungen gewährt werden.6
Die Einhaltung des Grundsatzes der Entgeltgleichheit ist für jeden einzelnen Bestandteil des gezahlten Entgelts zu prüfen; eine Gesamtbewertung ist nicht zulässig.7
Vorliegend kam es nur auf einen Vergleich der Grundentgelte an, denn Provisionen waren (noch) nicht bezahlt worden. In diesem Zusammenhang stellt der Senat klar, dass es sich bei der unbezahlten Freistellung der Klägerin nicht um Entgelt im o. g. Sinn handelt. Dies ist auch folgerichtig, denn erfasst werden nur geldwerte Vorteile, die in einem engen (Austausch) Verhältnis zur Arbeitsleistung stehen.8
2. Gleiches Entgelt für „gleiche“ Arbeit
Der Anspruch auf Zahlung der rückständigen Entgeltdifferenz gemäß § § 3 Abs. 1,7 EntgTranspG setzt – neben einer nicht widerlegten Diskriminierung wegen des Geschlechts – voraus, dass die Klägerin „gleiche“ oder „gleichwertige“ Arbeit verrichtet. Die Beweislast hierfür obliegt der Klägerin.9
Das Landesarbeitsgericht hatte angenommen, dass die Klägerin und der (Vergleichs-)Mitarbeiter gleichwertige Arbeiten verrichtet haben. Der 8. Senat folgt dem nicht und begründet eingehend, warum beide Personen nach seiner Ansicht „gleiche“ Arbeit ausüben. Nach § 4 Abs. 1 EntgTranspG üben weibliche und männliche Beschäftigte gleiche Arbeit aus, wenn an verschiedenen oder nacheinander an denselben Arbeitsplätzen identische oder gleichartige Tätigkeiten ausgeführt werden. Es ist Sache der nationalen Gerichte, im Rahmen einer Tatsachenwürdigung zu prüfen, ob „gleiche“ Arbeit verrichtet wird. Dabei kommt dem Begriff eine rein qualitative Bedeutung zu, da es ausschließlich auf die „konkrete Natur“ der verrichteten Tätigkeiten ankommt.10
Arbeitsvertragliche Vereinbarungen oder eine tarifliche Einstufung in dieselbe Entgeltgruppe sind nicht entscheidend.11
Zur Feststellung, ob „gleiche Arbeit“ vorliegt, stellt der europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung auf dieselben Kriterien ab wie bei der Ermittlung „gleichwertiger Arbeit“: Art der Arbeit, Ausbildungsanforderungen und Arbeitsbedingungen. Die neue EU-Entgelttransparenzrichtlinie 2023/970 bestätigt diese Vorgehensweise.12
Der 8. Senat stellt heraus, dass diese Vorgaben in europarechtskonformer Auslegung auch im Rahmen des Entgelttransparenzgesetzes zu beachten sind. Die in § 4 Abs. 2 Satz 2 EntgTranspG genannten Kriterien für die Ermittlung „gleichwertiger Arbeit“ sind mithin auch für die Feststellung „gleicher Arbeit“ heranzuziehen: Art der Arbeit, Ausbildungsanforderungen und Arbeitsbedingungen sind in einer Gesamtschau zu beurteilen. Es können Unterkategorien gebildet werden, z. B. Qualifikation und Fertigkeiten, Verantwortung, sowie physische und psychische Belastungen.13
In Anwendung dieser Kriterien kommt der 8. Senat zu dem Schluss, dass die Klägerin und die Vergleichsperson an verschiedenen Arbeitsplätzen gleichartige Tätigkeiten ausgeführt haben. Beide waren im maßgeblichen Zeitraum im Vertriebsaußendienst eingesetzt und hatten die gleichen Verantwortlichkeiten und Befugnisse. Die Zuständigkeit für unterschiedliche Kunden und unterschiedliche Produkte ändert nach Auffassung des Senats nichts an dieser Bewertung.
Auch die unterschiedliche Berufsausbildung der Klägerin (Diplomkauffrau) und des Mitarbeiters (staatlich geprüfter Techniker) spricht nach Ansicht des BAG nicht gegen die Bewertung „gleiche Arbeit“, weil für die Tätigkeit im Vertriebsaußendienst keine bestimmte Berufsausbildung gefordert war.14
An dieser Stelle wäre eine eingehendere Begründung wünschenswert. Denn nach ständiger Rechtsprechung des EuGH stellt die Berufsausbildung einen Faktor dar, der für die Bewertung „gleiche Arbeit“ oder „gleichwertige Arbeit“ relevant ist.15
Entscheidend ist jedoch, ob die unterschiedliche Qualifikation für die tatsächliche Tätigkeit ausschlaggebend ist bzw. ob die Vergleichspersonen trotz unterschiedlicher Qualifikation identische Arbeiten verrichten (können). Anzuknüpfen ist demnach an die konkrete Tätigkeit und deren Ausgestaltung in Bezug auf Arbeitsbedingungen, Verantwortlichkeiten, Kompetenzen und Befugnisse.16
Diese waren im vorliegenden Fall nach den Feststellungen des Senats identisch. Auch der Umstand, dass die Klägerin und die Vergleichsperson sich gegenseitig vertreten haben, ohne dass es einer gesonderten Einweisung bedurft hätte, spricht – trotz unterschiedlicher Berufsausbildung – für gleiche Arbeit.17
3. Würdigung der Argumente des Arbeitgebers zur Widerlegung der vermuteten Entgeltdiskriminierung
In Orientierung an seiner Entscheidung von Januar 2021 bekräftigt der 8. Senat seine Rechtsauffassung zur Beweislastverteilung im Rahmen des Entgelttransparenzgesetzes.18 Die Klägerin muss beweisen, dass ihr ein niedrigeres Entgelt gezahlt wird als der Vergleichsperson. Dieser Nachweis kann ggf. auf der Grundlage der Auskunft des Arbeitgebers gemäß §§ 11,12 EntgTranspG erfolgen. Damit wird die Vermutung einer Diskriminierung wegen des Geschlechts begründet; § 22 AGG findet Anwendung. Dann muss der Arbeitgeber beweisen (Vollbeweis) dass kein Verstoß gegen die Entgeltgleichheit vorliegt, weil ausschließlich andere Gründe als das Geschlecht zu einer ungünstigeren Behandlung geführt haben.19 Die Beurteilung, ob eine nach Entgelttransparenzgesetz bzw. AGG verbotene Diskriminierung wegen des Geschlechts vorliegt, erfolgt damit erst im Rahmen der Auseinandersetzung mit den Argumenten des Arbeitgebers zur Widerlegung der vermuteten Benachteiligung.20 Mit den vorgetragenen Begründungen für die ungleiche Bezahlung setzt sich der 8. Senat eingehend auseinander.21
a) Lage auf dem Arbeitsmarkt
Der 8. Senat räumt ein, dass die Vermutung einer Entgeltdiskriminierung im Einzelfall widerlegt sein kann, wenn der Arbeitgeber darlegt und beweist, dass das höhere Entgelt wegen der Lage auf dem Arbeitsmarkt erforderlich war, um die offene Stelle besetzen zu können.22
Damit nimmt der 8. Senat Bezug auf eine frühere Entscheidung des EuGH. Dieser hatte ein höheres Gehalt, das zur Gewinnung von Bewerbern wegen der Lage auf dem Arbeitsmarkt gezahlt wird, im Einzelfall mit dem Grundsatz der Entgeltgleichheit für vereinbar erklärt. Der EuGH betont jedoch, dass das nationale Gericht festzustellen hat, dass die konkrete Höhe des Unterschieds im Entgelt auf die Arbeitsmarktlage zurückzuführen ist.23
Der Senat macht sich diese Anforderungen an die Darlegung der konkreten Begründung für das höhere Entgelt zu eigen. Er verweist darauf, dass die Beklagte diesbezüglich nicht substantiiert vorgetragen hat. Sie hat nicht dargelegt, dass es aufgrund der Lage auf dem Arbeitsmarkt Schwierigkeiten gab, die konkrete Stelle des Mitarbeiters zu besetzen, weil es keine anderen gleich gut geeigneten Bewerber gab.
Es ist zu begrüßen, dass der 8. Senat die Rechtsprechung des EuGH in dieser Weise genau interpretiert.24
Der Arbeitgeber muss darlegen und beweisen, dass die Entgeltlücke zwischen der weiblichen Beschäftigten und der männlichen Vergleichsperson auch in der konkreten Höhe auf die Schwierigkeiten, die Stelle zu besetzen, zurückzuführen ist. Damit muss der Faktor „Arbeitsmarktlage“ im Rahmen der Arbeitsbewertung isoliert werden, um die Differenz zu rechtfertigen. Damit erteilt der 8. Senat pauschalen Behauptungen, die Lage auf dem Arbeitsmarkt rechtfertige ein „höheres Entgelt wegen Bewerbermangel“ eine Absage und legt diesen Faktor eng aus. Denn ansonsten kann die Argumentation dazu führen, dass damit eine unterschiedliche Bewertung weiblicher und männlicher Tätigkeiten aufgrund von Vorurteilen und Stereotypen verschleiert wird.25
Zudem verkennt die Begründung, dass der Arbeitsmarkt für „typische Frauenberufe“ nicht entsprechend den ökonomischen Grundsätzen von Angebot und Nachfrage funktioniert. Ein aktuelles Beispiel ist der Fachkräftemangel z.B. in der Pflege und Erziehung. Trotz großer Nachfrage können die Fachkräfte eine höhere Vergütung nicht durchsetzen. Entscheidend sind noch immer die Durchsetzungsdefizite von Frauen auf dem Arbeitsmarkt und der – im Gegensatz zum Beispiel zu technischen Berufen – geringe soziale Status. Beides prägt noch immer die Bezahlung in diesen Branchen – entgegen allen verbalen Beteuerungen über die „Systemrelevanz“ dieser Berufe für unsere Gesellschaft.26
b) Ausübung der beiderseitigen Vertragsfreiheit
Die Beklagte hatte argumentiert, dass sie sich in Ausübung der beiderseitigen Vertragsfreiheit mit dem Mitarbeiter auf ein höheres Entgelt geeinigt habe. Dieser sei nur zum Abschluss des Arbeitsvertrages bereit gewesen, wenn sein Grundentgelt um 1000,– € angehoben werde. Begründung des unterschiedlichen Entgelts ist nach Ansicht der Beklagten demnach nicht das Geschlecht, sondern das Ergebnis der Vertragsverhandlungen.
Der 8. Senat folgt dieser Argumentation mit guten Gründen nicht.27
Das Verbot der Diskriminierung wegen des Geschlechts stellt eine legitime Einschränkung der Vertragsfreiheit (bzw. der Tarifautonomie) dar.28
Die Berufung auf ein im Rahmen von Vertragsverhandlungen erzieltes höheres Entgelt eines männlichen Beschäftigten kann die Vermutung einer Entgeltdiskriminierung nicht widerlegen. Damit würde den europarechtlichen und nationalen Rechtsgrundlagen (§§ 3 Abs. 1, 7 EntgTranspG) ihre praktische Wirksamkeit genommen.29
Denn mit dem Vortrag, dass ein männlicher Bewerber/Mitarbeiter besser verhandelt hat, kann sich der Arbeitgeber zu leicht dem Grundsatz der Entgeltgleichheit entziehen. Darüber hinaus kann in diesem Zusammenhang nach Ansicht des Senats nicht ausgeschlossen werden, dass das Geschlecht mitursächlich für das Eingehen des Arbeitgebers auf die Forderung des männlichen Bewerbers/Mitarbeiters ist. Damit spricht der Senat (unausgesprochen) etwaige Vorurteile und Geschlechterstereotype an, die Männern ein höheres Verhandlungsgeschick bzw. Durchsetzungsvermögen in Entgeltverhandlungen unterstellen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass den Arbeitgeber auch im vorliegenden Fall diese Vorstellungen zum Eingehen auf die Forderungen des Mitarbeiters bewogen haben.30
Für die Praxis kommt deshalb der Absage an das Argument „höheres Entgelt wegen besserem Verhandlungsgeschick“ eine große Bedeutung zu.
Der Kritik, damit wäre jede individuelle Entgeltdifferenzierung im Rahmen von Vertragsverhandlungen nicht möglich, ist zu entgegnen, dass nur Entgeltdifferenzierungen, die am Merkmal „Geschlecht“ anknüpfen, verboten sind. Beruht das Ergebnis der Vertragsverhandlungen auf objektiven geschlechtsneutralen Merkmalen, wie etwa besserer Qualifikation oder mehr Berufserfahrung, die für die konkrete Tätigkeit von Bedeutung ist, ist eine individuell vereinbarte unterschiedliche Vergütung kein Verstoß gegen das Entgelttransparenzgesetz.31
c) Bessere Qualifikation und bessere Leistungen
In der Revisionsinstanz hat die Beklagte erstmals geltend gemacht, dass der Mitarbeiter mit seiner fachspezifischen Ausbildung zum staatlich geprüften Techniker besser qualifiziert gewesen sei. Zwar ist die berufliche Qualifikation im Einzelfall geeignet, eine unterschiedliche Vergütung zu rechtfertigen, wenn die Ausbildung für die dem Beschäftigten übertragenen spezifischen Aufgaben erforderlich ist. Es muss demnach ein sachlicher Zusammenhang zwischen der Ausbildung und den konkreten Tätigkeiten bestehen.32
Ein pauschaler Hinweis auf eine vielseitigere Verwendbarkeit etwa genügt jedoch nicht. Der Senat musste sich damit nicht inhaltlich auseinandersetzen. Denn es handelt sich um ein neues Vorbringen in der Revisionsinstanz, dass nicht mehr berücksichtigt werden konnte (§ 72 Abs. 5 ArbGG, § 559 Abs. 1 ZPO).
In diesem Zusammenhang hat sich die Beklagte weiter darauf berufen, dass der Mitarbeiter bessere Leistungen als die Klägerin erbracht habe. Den Vortrag weist der 8. Senat als unsubstantiiert zurück. Zum Zweiten folgt der 8. Senat in Orientierung an der Rechtsprechung des EuGH diesem Argument auch inhaltlich nicht. Sehr plausibel hatte der Gerichtshof schon im Jahr 2001 erläutert, dass sich die persönliche Leistungsfähigkeit bzw. die Qualität der tatsächlich erbrachten Leistungen erst im Laufe des Arbeitsverhältnisses beurteilen lasse. Eine schon bei Aufnahme der Tätigkeit der betroffenen Arbeitnehmer ungleiche Entlohnung kann deshalb nicht mit diesem Argument begründet werden.33
Indirekt verweist der Gerichtshof damit auf stereotype Vorstellungen von besseren „männlichen Arbeitsleistungen“. Wird mit einer darauf beruhenden „Prognose“ bei Beginn des Arbeitsverhältnisses die höhere Bezahlung begründet, handelt es sich um eine unmittelbare Diskriminierung der weiblichen Beschäftigten wegen des Geschlechts. Erst im Laufe des Beschäftigungsverhältnisses kann eine bessere Arbeitsqualität eine Entgeltdifferenzierung auch bei gleicher Arbeit rechtfertigen – wenn die Kriterien für die Leistungsbemessung diskriminierungsfrei sind.34
4. Anspruch auf Entschädigung gem. § 15 Abs. 2 AGG
Neben dem Anspruch auf Nachzahlung der vorenthaltenen Vergütung hat die von der Entgeltdiskriminierung betroffene Beschäftigte einen Anspruch auf Entschädigung gemäß § 15 Abs. 2 AGG.35
Anders als der Erfüllungsanspruch richtet sich dieser Anspruch auf einen Ausgleich für immateriellen Schaden, entstanden durch eine verbotene Diskriminierung. Daneben dient der Anspruch der Prävention, indem die Entschädigung eine abschreckende Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber gewährleistet; jeweils ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu wahren.36
Einzige Anspruchsvoraussetzung ist eine unmittelbare oder mittelbare Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Merkmals. Die Betroffene muss nicht den Nachweis einer schwerwiegenden Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, eine Herabwürdigung oder ein Verschulden des Arbeitgebers führen.37
Vorliegend hat der 8. Senat der Klägerin eine Entschädigung in Höhe von 2000,– € zugesprochen. Bei der Bemessung der Höhe der Entschädigung hat das Gericht zum einen die Zahlung der niedrigeren Grundvergütung vom 1. März bis 31.10.2017, sowie im Juli 2018 berücksichtigt. Zum Zweiten hat es die (unrichtige) Anwendung der Deckelungsregelung aus dem Haustarifvertrag, die sich auf die unzulässig niedrige Grundvergütung bezog, in die Bewertung einbezogen. Denn nach Ansicht des Senats wurde damit die Entgeltbenachteiligung teilweise perpetuiert.
Die Höhe der Entschädigung liegt im Ermessen des Tatsachengerichts; insoweit ist ein unbezifferter Klageantrag zulässig. Die Klägerin muss Tatsachen benennen, auf denen die Ermessensausübung beruhen soll und die Größenordnung benennen.38
Vorliegend hat das Gericht diese Voraussetzungen bejaht. Die Klägerin hat jedoch die Forderung mit „nicht unter 6000,– €“ beziffert. Von dieser Höhe weicht das Urteil nicht unerheblich ab.
Die Kriterien für die Höhe der Entschädigung gemäß § 15 Abs. 2 AGG bemessen sich nach den Umständen des Einzelfalls und dem Zweck der Norm. Zu den Umständen des Einzelfalls gehört die Art und Schwere der Benachteiligung, ihre Dauer und Folgen, das Vorliegen eines Wiederholungsfalls und eine etwa geleistete Wiedergutmachung. Ob eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung vorliegt, ist indes für die Bemessung der Entschädigung nicht relevant. Mit dieser Differenzierung ist keine Wertung im Sinne von „schwerwiegend“ oder „weniger schwerwiegend“ verbunden. In den letzten Entscheidungen hat das BAG erkennen lassen, dass die Höhe der Entschädigung entscheidend von der Schwere des Verstoßes gegen das AGG abhängt. Der Grad des Verschuldens des Arbeitgebers, seine Beweggründe bzw. Motivation und sein konkretes Verhalten beeinflussen die Höhe der Entschädigung grundsätzlich nicht. Der Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot genügt für sich genommen, die volle Haftung des Arbeitgebers auszulösen. Die Entschädigung muss in einem angemessenen Verhältnis zum erlittenen Schaden stehen. Eine rein symbolische Entschädigung wird den Erfordernissen einer wirksamen Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien nicht gerecht. Denn die Entschädigung muss eine abschreckende Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber haben.39
Diese Gesichtspunkte leiten den 8. Senat auch im vorliegenden Fall. Eine konkrete Begründung für die Festsetzung der Entschädigung auf „nur“ 2000,– € fehlt indes. Nachvollziehbar ist, dass sich das Gericht nicht am entgangenen Einkommen, insgesamt 14.500,– € brutto nebst Zinsen, orientiert. Nur für Entschädigungen wegen Diskriminierung bei Einstellungen bzw. Beförderungen gibt das Gesetz eine Höchstgrenze bemessen in Monatsgehältern vor (§ 15 Abs. 2 Satz 2 AGG). Diese Grenze gilt nicht für andere Anwendungsfälle des AGG; Entschädigungen hierfür müssen sich mithin nicht an der Höhe der Vergütung orientieren.40
Es wird ein gesetzlich nicht festgelegter breiter Spielraum eröffnet – nur definiert durch das Kriterium „angemessen“: nach oben sind existenzgefährdende und nach unten nur symbolische Beträge ausgeschlossen.41
Für die Nachvollziehbarkeit der Festsetzung auf 2000,– € wäre es deshalb notwendig, dass der 8. Senat wenigstens einige Kriterien für seine Ermessensentscheidung im vorliegenden Fall benennt – auch um die erhebliche Abweichung von der genannten Größenordnung plausibel zu begründen. Zudem geht der Senat von einer „doppelten“ Entgeltdiskriminierung aus: einmal wegen der vorenthaltenen Grundvergütung, zum zweiten wegen der Anwendung der tariflichen Deckelungsregelung auf diese Grundvergütung. Dieser Umstand spricht für eine höhere Entschädigung.42
Fazit
Die neuste Entscheidung des 8. Senats zur Entgeltgleichheit bestätigt die Linie des Gerichts aus dem Urteil vom Januar 2021 in Bezug auf die Beweislastverteilung bei einer Klage nach dem Entgelttransparenzgesetz. Es genügt, dass die Klägerin ein im Vergleich zu dem männlichen Mitarbeiter niedrigeres Entgelt bei gleicher bzw. gleichwertiger Arbeit nachweist. Damit wird die Vermutung einer verbotenen Diskriminierung im Entgelt (§§ 3 Abs. 1, 7 EntgTranspG i. V. m. § 22 AGG) begründet. Der Arbeitgeber muss beweisen, dass ausschließlich andere Gründe als das Geschlecht zu einer niedrigeren Vergütung geführt haben.43
Auch in der vorliegenden Rechtssache musste sich das Gericht nicht mit dem Problem der Gleichwertigkeit verschiedener Tätigkeiten auseinandersetzen. Es hat jedoch in Bezug auf die Frage „gleiche Arbeit“ wichtige Impulse gesetzt. Der 8. Senat stellt erstmalig klar, dass für die Bestimmung, ob „gleiche Arbeit“ vorliegt, die Kriterien des § 4 Abs. 2 Satz 2 EntgTranspG heranzuziehen sind. Auf dieser Grundlage ist für die Praxis weiterhin relevant, dass eine völlig unterschiedliche Berufsausbildung der Annahme „gleiche Arbeit“ nicht entgegensteht. Das Gericht akzentuiert damit die Bedeutung der konkreten Arbeitstätigkeit der Vergleichspersonen.
Im Kontext der Auseinandersetzung mit den Argumenten des Arbeitgebers setzt der 8. Senat weitere Akzente. In enger Orientierung an der Rechtsprechung des EuGH weist das Gericht alle Argumente des Arbeitgebers zurück. Zentrale Bedeutung für die Praxis wird die Aussage zur „Vertragsfreiheit“ entfalten. Arbeitgeber werden sich in Zukunft nicht allein darauf berufen können, dass das höhere Entgelt im Wege individueller Vertragsverhandlungen und durch besseres Verhandlungsgeschick des männlichen Mitarbeiters zustande gekommen ist.
- Vgl. die ausführliche Anmerkung zu BAG v. 21.1.2021 – 8 AZR 488/19, Feldhoff STREIT 4/2022 S. 147 ff. ↩
- Weitere Aspekte wie Unwirksamkeit der Verfallklausel und der Deckelungsregelung des Haustarifvertrages werden nicht behandelt. ↩
- BAG v. 25.6.2020 – AZR 145/19. ↩
- Europarechtlicher Grundsatz der „Anpassung nach oben“, dazu BAG v. 21.1.2021 – 8 AZR 488/19 Rn. 75 m. w. N.; ErfK/Schlachter § 7 Rn. 1 EntgTranspG. ↩
- Vgl. nur EuGH v. 3.6.2021 – C-624/19 Rn. 22 f. (Tesco Stores) ↩
- St. Rsp. des EuGH und BAG; Art. 2 e ) EU-Richtlinie 54/2006/EG; vgl. aktuell auch Erwägungsgrund 21 der EU-Richtlinie 2023/970 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung der Anwendung des Grundsatzes des Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit durch Entgelttransparenz und Durchsetzungsmechanismen vom 10.5.2023; dazu Husemann EuZA 2022, s. 166 ff. ↩
- St. Rsp. des EuGH, EuGH v. 26.6.2011 – C 381/99 (Brunnhofer); auch BAG v. 21.1.2021 – 8 AZR 488/19 Rn. 23. ↩
- EuGH v. 21.10.1999, Rs. C-333/97 (Lewen). ↩
- BAG v. 21.1.2021 – 8 AZR 488/19 Rn. 28; zur Problematik des Nachweises „gleichwertiger“ Arbeit i. S. d. § 4 Abs. 2 EntgeltTranspG, v. a. bei verschiedenen Tätigkeiten und bei der Verwendung von Entgeltsystemen vgl. Feldhoff STREIT 4/2022, 147, 152 ff. ↩
- EuGH v. 3.6.2021 – C-624/19 Rn. 30 (Tesco Stores). ↩
- EuGH v. 26.6.2001 – C 381/99 Rn. 44 (Brunnhofer). ↩
- Erwägungsgrund 26, Art. 4 Abs. 4 EU-Richtlinie 2023/970. ↩
- Vgl. auch Kriterien in Erwägungsgrund 26 EU-Richtlinie 2023/970: berufliche Anforderungen, Bildungs-, Aus- und Weiterbildungsanforderungen, Kompetenzen, Belastungen, Verantwortung und Arbeitsbedingungen. Zur Bedeutung des Faktors „Verantwortung“ für „Frauenberufe“ vgl. Feldhoff STREIT 4/2022, 147,153. ↩
- BAG v. 16.2.2023 – 8 AZR 450/21 Rn. 40. ↩
- EuGH v. 11.5.1999 – C-309/97 Rn. 19 (Wiener Betriebskrankenkasse); EuGH v. 26.6.2001 – C-381/89 (Brunnhofer). ↩
- EuGH v. 28.2.2013 – C-427/11 Rn. 28 ff. (Kenny); Däubler/Beck-Zimmer AGG § 4 EntgeltTranspG Rn. 2. ↩
- ErfK-Schlachter § 4 EntgeltTranspG Rn. 2. ↩
- BAG v. 16.2.2023 – 8 AZR 450/21 Rn. 41 ff. ↩
- BAG v. 21.1.2021 – 8 AZR 488/19 Rn. 24, 28, 31, 32. ↩
- Vgl. Feldhoff STREIT 4/2022, 147, 151 f. ↩
- Zum Kriterium Dienstalter/Berufserfahrung vgl. BAG v. 21.1.2021 Rn. 69; differenzierend jedoch EuGH v. 30.10.2006 – C 17/05 (Cadman); vgl. Feldhoff STREIT 4/2022 S. 147, 153 f. ↩
- Vgl. auch Gesetzesbegründung des EntgTranspG: BT-Drs. 18/11133 S. 49 f. ↩
- EuGH v. 27.10.1993 – C 127/93 Rn. 26 f. ↩
- Zust. Brunk/Schwartzer ArbRAktuell 2023, 195, 197. ↩
- Krit. Däubler-Beck/Zimmer AGG § 3 EntgTranspG Rn. 12. ↩
- Diese Problematik ist noch immer aktuell; vgl. schon Feldhoff ZTR 1998, S. 207, 212 zu BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 264/96 zur ungleichen Vergütung von Sozialarbeiterinnen im Vergleich zu Ingenieuren im BAT; das BAG hatte diese Argumentation der Vorinstanz nicht in Frage gestellt. ↩
- BAG v. 16.2.2023 – 8 AZR 450/21 Rn. 54 ff. ↩
- Vgl. Gesetzesbegründung des EntgTranspG: BT-Drs. 18/11133 S. 49; Däubler-Beck/Zimmer AGG § 3 EntgTranspG Rn. 1. ↩
- Vgl. EuGH v. 12.1.2023 – C-356/21: Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung beim Zugang zu selbständiger Erwerbstätigkeit nicht mit Vertragsfreiheit zu rechtfertigen. ↩
- I. d. S. Brunk/Schwartzer ArbRAktuell 2023, S. 195, 198. ↩
- Zu den Anforderungen bei Anwendung von Entgeltsystemen vgl. § 4 Abs. 4 EntgTranspG; dazu BT-Drs. 18/11133 S. 50 ff. ↩
- EuGH v. 17.10.1989 – C-109/88 (Danfoss); EuGH v. 28.2.2013 – C-427/11 Rn. 29 (Kenny). ↩
- EuGH v. 26.6.2001 – C-381/89 Rn. 76 ff. (Brunnhofer). ↩
- BT-Drs. 18/11133 S. 52; ErfK-Schlachter § 4 Rn. 4. Zur Ermittlung der Gleichwertigkeit unabhängig von den persönlichen Leistungen der Vergleichspersonen vgl. § 4 Abs. 2 Satz 2 EntgTranspG. ↩
- LAG Rheinland-Pfalz vom 28.10.2015 – 4 Sa 12/14 mit Anm. Feldhoff JurisPR-ArbR 33/2016 Anm. 2; Däubler-Beck/Deinert, AGG § 15 AGG Rn. 81. ↩
- BT Drs. 16/1760, S. 38; ErfK-Schlachter § 15 AGG Rn. 7; BAG 27.8.2020 – 8 AZR 62/19 Rn. 86. ↩
- BAG v. 22.1.2009 – 8 AZR 906/07 Rn. 70 f.; BAG v. 12.12.2013 – 8 AZR 838/12 mit Anm. Feldhoff STREIT 3/2015 S. 111 ff. zur Entschädigung wegen einer Kündigung unter Mißachtung des MuSchG, die als unmittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts gewürdigt wird. ↩
- BAG v. 14.11. 2013 – 8 AZR 997/12 Rn. 16; BAG v. 2.6.2022 – 8 AZR 191/21, Rn. 17; ErfK-Schlachter § 15 Rn. 10. ↩
- BAG v. 28.5. 2020 – 8 AZR 170/19 Rn. 31 ff.; BAG v. 27. 8. 2020 – 8 AZR 62/19 Rn. 84 ff.; BAG v. 28.10.2021 – 8 AZR 371/20 Rn. 21 ff. ↩
- BAG v. 22.1.2009 – 8 AZR 906/07 Rn. 84 (Diskriminierung wegen Alter bei Versetzung); BAG 12.12.2013 – 8 AZR 838/12 mit Anm. Feldhoff STREIT 3/2015 S. 111 ff. (Verstoß gegen MuSchG bei Kündigung ); LAG Rheinland-Pfalz v. 28.10.2015 – 4 Sa 12/14 mit Anm. Feldhoff JurisPR-ArbR 33/2016 Anm. 2 (Diskriminierung im Entgelt); ErfK-Schlachter § 15 AGG Rn. 11; Däubler-Beck/Deinert, AGG § 15 AGG Rn. 98. ↩
- ErfK-Schlachter § 15 AGG Rn. 10. ↩
- Das LAG Rheinland-Pfalz hatte 6000,– € Entschädigung zugesprochen. ↩
- Vgl. auch Art. 18 Abs. 1, Erwägungsgrund 52 EU-Richtlinie 2023/970. ↩