STREIT 3/2022

S. 140-141

Fachstellungnahmen

verabschiedet im Plenum des FJT in Leipzig am 7. Mai 2022

1. Fachstellungnahme des 46. FJT zu strukturellen Problemen bei der Rechtsdurchsetzung

„Das Recht steht im Schaufenster – kaufen muss man es können!“ (Malin Bode) Frauen begegnen bei der Rechtsdurchsetzung vielen Hindernissen, von fehlenden Informationen über die Kosten und Individualisierung gesellschaftlicher Probleme bis zu fehlendem Diskriminierungsbewusstsein.
Ausbildung: Die Verknüpfung von Fachrecht, Art. 3 GG, Unionsrecht und CEDAW muss in der Ausbildung gestärkt werden. Legal Clinics helfen beim Erwerb der Kenntnis der Rechtsrealitäten und müssen daher gefördert werden.
Fortbildung: Richter*innen brauchen ein besseres Verständnis der Rechtsrealität und sollten daher vor der Richter*innentätigkeit zunächst fünf Jahre in der Rechtspraxis arbeiten. Außerdem muss es verpflich­tende Fortbildungen zu Antidiskriminierungsrecht und typischen Rechtsdurchsetzungshindernissen für Frauen* geben.
Prozessrecht: Wir fordern die Einführung eines Verbandsklagerechts im AGG, um die Individualisierung als strukturelles Mobilisierungshindernis aufzubrechen.

2. Fachstellungnahme des 46. FJT zu strukturellen Problemen im familien­gerichtlichen Verfahren

Alle Familienrichter*innen sind zur Aus- und Weiter­bildung im Sinne des § 23b Abs. III GVG zu verpflichten. Dies muss sich insbesondere auf den Schutz vor geschlechtsbezogener Gewalt im Sinne der Istanbul-Konvention beziehen.

3. Fachstellungnahme des 46. FJT zum digitalen Antidiskriminierungsrecht

Materiale Gleichheit muss auch in der Datenverarbeitung verwirklicht werden. Wir müssen uns von einem individualisierenden Verständnis informationeller Selbstbestimmung lösen und informationelle Selbstbestimmung zurück in die Gesellschaft holen.
Der individualisierende Rechtsschutz reicht hierzu nicht aus. Strukturelle Diskriminierungslagen, die als gesellschaftliche Datenbias in datenbasierten algorithmischen Systemen rationalisiert werden, können nicht von einer einzelnen Person aufgebrochen werden.
Die Rechtsdurchsetzung subjektiver Rechte muss daher kollektiviert, institutionalisiert werden und ex-ante erfolgen.
Es braucht (ex-post) Verbandsklagerechte; (ex-ante) externe (!) Technikfolgeabschätzungen; bestehende Gleichstellungsinstitutionen und Datenschutzbehörden müssen gestärkt werden – mit Eingriffsrechten, Personal und Finanzierung.
Es braucht Verbote. Datenbasierte algorithmische Systeme erkennen Muster, keine Einzelfälle. Es ist nicht sinnvoll, datenbasierte algorithmische Systeme zu nutzen, um Einzelfallentscheidungen zu treffen.
Datenbasierte algorithmische Systeme können hingegen gesellschaftliche, strukturelle Diskriminierungslagen statistisch genau abbilden. Deswegen sollten sie genutzt werden, um Institutionen zu auditen und die Institutionen strukturell zu verändern.
Datenbasierte algorithmische Systeme sind gesellschafts(mit)gestaltend.
Über ihre Entwicklung und Anwendung sollten wir demokratisch entscheiden und nicht nur diejenigen mit Zugang zu Daten und Dateninfrastruktur entscheiden lassen.

4. Fachstellungnahme des 46. FJT zum Schutz vor digitalisierter Gewalt gegen Frauen* in der anwaltlichen Praxis

Wir fordern, dass schon im Ermittlungsverfahren wegen digitaler Gewalt zum frühestmöglichen Zeitpunkt eine Belehrung der Anzeigeerstattenden und Zeug*innen erfolgt über die Möglichkeit, eine c/o-Adresse anzugeben, und dass dieses aktenkundig gemacht wird.

5. Fachstellungnahme des 46. FJT zu Feministischen Klimaklagen: Grundlagen, Prozessgestaltung und Ideen

Der Klimawandel und seine Auswirkungen sind geschlechterspezifisch, wirken intersektional und betreffen Frauen, trans-, inter- und nicht-binäre Personen überproportional. Der zuletzt veröffentlichte 6. Sachstandsbericht des IPCC macht deutlich, wie sich bestehende Ungleichheitsverhältnisse in die Resilienz gegenüber negativen Auswirkungen des Klimawandels einschreiben und geschlechterspezifische Vulnerabilitäten hervorbringen.
Weltweit gesehen ist der globale Süden besonders stark von Erderwärmung betroffen. Häufig fehlen die nötigen Mittel für adäquate Klimaanpassung. Die Bedrohung von Lebensgrundlagen ist genderspezifisch und wird immer akuter. Gerade wo Lebensgrundlagen gefährdet sind – etwa durch Dürre oder Überschwemmungen –, sind Flucht und Migration wesentliche Anpassungsstrategien. Auf der Flucht selbst, aber auch während anhängiger Asylverfahren sind Frauen, trans-, inter- und nicht-binäre Personen überproportional durch (sexualisierte) Gewalt gefährdet. Aber auch in Europa zeigt sich die ungleich verteilte Resilienz, etwa in der erhöhten Gesundheitsgefahr, die Hitzewellen für (ältere) Frauen darstellen.
Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat mit dem Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021 (1 BvR 2656/18) hervorgehoben, wie das „Klimaschutzgebot vom Staat (…) international ausgerichtetes Handeln zum globalen Schutz des Klimas [verlangt] und [ihn] verpflichtet, im Rahmen internationaler Abstimmung auf Klimaschutz hinzuwirken.“ Das Abkommen von Paris hält die unterzeichneten Staaten an, „das Recht auf Entwicklung sowie die Gleichstellung der Geschlechter, die Stärkung der Rolle der Frau [zu] achten, fördern und berücksichtigen“. Effektive Strategien und Maßnahmen zur Abmilderung und Anpassung an den Klimawandel müssen international und geschlechtergerecht ausgestaltete sein.
Klimapolitik und -wissenschaft sind durchzogen von vergeschlechtlichten Macht- und Hierarchieverhältnissen. Sie beeinflussen die Frage nach den Ursachen sowie die Suche nach sowie die Narrative zu Lösungen für die Klimakrise. Perspektiven von Frauen, trans-, inter- und nicht-binären Personen finden bisher bei der auch rechtlichen Begegnung der Bewältigung der Klimakrise zu wenig Berücksichtigung. Das betrifft die rechtliche Regelung des Klimaschutzes etwa im Klimaschutzgesetz, hat aber ebenso Bedeutung für mittelbar angesprochene Rechtsbereiche wie das Asyl- und Migrationsrecht oder das Lieferkettensorgfaltsgesetz.
Wir fordern, dass für die Umsetzung des Paris-Abkommens und für die Erreichung der Klimaziele im und durch Recht eine intersektionale Perspektive auf Geschlecht eingenommen wird. Dies erfordert zunächst eine Identifizierung der hierfür relevanten Themen. Hierzu könnte etwa ein nationaler Gender-Action-Plan für die Klimapolitik gehören.
Wir fordern, die für Flucht und Migration zuständigen staatlichen Institutionen als ersten Schritt für klimaspezifische Schutzpflichten zu sensibilisieren, insbesondere im Bereich des Refoulmentschutzes. Auch hier sind Frauen, trans-, inter- und nicht-binäre Personen auf der Flucht und während des Asylverfahrens effektiv vor Gewalt zu schützen.
Wir fordern, dass die vergeschlechtlichten Auswirkungen von Lieferketten für die grüne Transformation der Wirtschaft, z.B. Energiewende, rechtlich Berücksichtigung finden, z.B. über das Lieferkettensorgfaltsgesetz. Schon heute kommt es entlang von Lieferketten zu Verletzungen von umweltbezogenen Menschenrechten, die Frauen ungleich härter treffen.

6. Fachstellungnahme des 46. FJT zu Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt – das ILO-Übereinkommen 190

Wir fordern die Bundesregierung auf, das Übereinkommen Nr. 190 der Internationalen Arbeitsorganisation über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt von 2019 umgehend zu ratifizieren.

7. Fachstellungnahme des 46. FJT zu Regelungskonzepten zum Schwangerschaftsabbruch

Im Anschluss an die Resolution des 45. Feministischen Juristinnentags zur ersatzlosen Streichung der §§ 218 ff. StGB (in STREIT 2/2019, S. 93) fordern wir, dass:

  1. in der Ausbildung / dem Studium zu medizinischen Berufen die Möglichkeit gefördert wird, sich mit der Thematik Schwangerschaftsabbruch aus medizinischer und medizinethischer Sicht auseinanderzusetzen.

  2. in der gynäkologischen Weiterbildung die Aufklärung über und die Befähigung zum Schwangerschaftsabbruch als verpflichtend eingeführt wird.