STREIT 1/2015
S. 11-16
Fallanalyse zu bestehenden Schutzlücken in der Anwendung des deutschen Sexualstrafrechts: „Was ihnen widerfahren ist, ist in Deutschland nicht strafbar“ (Auszug)
Stark gekürzte Fassung – die ursprüngliche Zählung der Fußnoten wird jeweils mit angegeben. Der vollständige Text ist abrufbar unter: www.frauen-gegen-gewalt.de/fallanalyse-zu-schutzluecken-im-sexualstrafrecht.html.
1. Einleitung
Nur die wenigsten sexuellen Übergriffe werden in Deutschland strafrechtlich geahndet. Das belegen vorliegende Studien und Statistiken sowie die alltägliche Erfahrung der Beratungspraxis mit gewaltbetroffenen Frauen. Aus der Dunkelfeldforschung ist bekannt, dass nur der geringste Teil der sexuellen Übergriffe überhaupt zur Anzeige gelangt.1
Aber auch die Statistiken über den weiteren Verlauf der angezeigten Verfahren – hier Vergewaltigung – sprechen eine deutliche Sprache:2
 
- 2001-2012 wurden jährlich ca. 8.000 Vergewaltigungen angezeigt. 
- Aus den 8.000 Anzeigen folgten zwischen 2001-2012 durchschnittlich 1.314 Anklagen pro Jahr. Trotz einer gestiegenen Zahl an Anzeigen gibt es seit den 1980er Jahren keinen Anstieg der Anklagen. Das bedeutet: die meisten Anzeigen enden mit einer Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft und gelangen gar nicht zu einem Prozess. 
- Zwischen 2001 und 2012 gab es jährlich durchschnittlich nur 986,5 Verurteilungen. 
- Die Verurteilungsquote im Jahr 2012, gemessen an den Anzeigen, lag bei nur 8,4%.3 Gemessen an den Tatverdächtigen lag sie bei 10%.4 
(…)
2. Beschreibung des Projekts
(…)
3. Deutsches Sexualstrafrecht, insbesondere § 177 StGB
Nach geltendem materiellen deutschen Strafrecht ist bei erwachsenen Menschen eine sexuelle Handlung ohne Einverständnis nur entweder als sexuelle Nötigung5
 oder als sexueller Missbrauch Widerstandsunfähiger6
 strafbar.7
 (…)
Die sexuelle Nötigung nach § 177 StGB ist dann strafbar, wenn der Täter das Opfer mit 
- Gewalt 
- Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben oder 
- unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist, 
nötigt, sexuelle Handlungen an sich zu dulden oder an dem Täter oder Dritten vorzunehmen. 
Dabei werden alle Nötigungsmittel dafür eingesetzt, um gerade geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden bzw. die schutzlose Lage ausgenutzt wird, in der das Opfer aufgrund der Schutzlosigkeit keinen Widerstand leistet. (…)
Nicht strafrechtlich erfasst sind all diejenigen sexuellen Übergriffe, bei denen ‚lediglich‘ sexuelle Handlungen gegen den ausdrücklich erklärten Willen der geschädigten Person durchgeführt werden. 
Inwiefern sich dies als systematische und veränderungswürdige Schutzlücke im Bereich der sexuellen Selbstbestimmung erwachsener Menschen darstellt und in welchen Fällen diese typischerweise auftritt, soll im Folgenden anhand der Fallanalyse erläutert werden.
4. Ergebnisse der Fallanalyse
Anhand der übersandten Fälle sowie Gesprächen mit Rechtsanwältinnen und Beraterinnen konnten unterschiedliche rechtliche Problemlagen herausgearbeitet werden, an denen Strafverfolgung sexueller Übergriffe systematisch scheitern kann. (…)
Zur Veranschaulichung wird zunächst ein einzelner Fall ausführlich beschrieben. Es geht um einen Fall (Fall 86) aus dem Jahr 2012, in dem der Freund der Betroffenen mit ihr schlafen will. Die Frau gibt verbal eindeutig zu verstehen, dass sie dies nicht will. Daraufhin wird sie von ihm von der Couch hochgezogen und ins Schlafzimmer geschubst, worauf sie zu Boden fällt. Da ihr Freund zuvor bereits öfter aggressiv war, die schwangere Frau mehrfach geschubst und Gewalt gegen ihre Katze und Gegenstände ausübte und sie zusätzlich Angst um ihr ungeborenes Kind hat, wehrt sie sich nicht und zieht sich, nachdem sie von ihm aufgefordert wird, ‚freiwillig‘ aus, um anschließend sexuelle Handlungen über sich ergehen zu lassen. Währenddessen wiederholt sie mehrfach verbal, dass sie keinen Sex will, Schmerzen hat und er aufhören soll. Um deutlich zu machen, dass sie den Geschlechtsverkehr nicht möchte, hat sie ihren Freund sowohl angefleht als auch angeschrien. 
Alle für die Erfüllung des Tatbestands erforderlichen Merkmale nach § 177 StGB wurden hier von der Staatsanwaltschaft ausführlich geprüft. Das Verfahren wurde eingestellt. So heißt es im Einstellungsbescheid: 
„Den Angaben Ihrer Mandantin zufolge hat der Beschuldigte jedoch weder Gewalt angewendet, um ihren (nicht geleisteten) Widerstand zu überwinden, noch hat er ihr in irgendeiner Form gedroht.“ 
Die Prüfung der Staatsanwaltschaft ergibt weiter: 
„Auch unter Berücksichtigung und Zugrundelegung der Angaben Ihrer Mandantin, wonach es zuvor zu einem Schubsen, dem Sturz gegen das Bett oder auch Drohungen für den Fall, dass sie ihn verlässt, gegeben habe, ist vorliegend nicht von einem sogenannten ‚Klima der Gewalt‘ und damit von einer fortwirkenden Drohwirkung auszugehen. Insoweit fehlt es auch schon an der finalen Verknüpfung mit der in Rede stehenden Tat.“ 
Und auch das dritte Tatbestandsmerkmal, die schutzlose Lage, konnte nicht anerkannt werden. Dazu die Staatsanwaltschaft: 
„Unter Zugrundelegung der Angaben Ihrer Mandantin befand sich diese auch nicht in einer schutzlosen Lage im Sinne der Strafnorm. Eine solche liegt nur dann vor, wenn die Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers in einem solchen Maße verringert sind, dass es dem ungehemmten Einfluss des Täters preisgegeben ist. Ferner muss sich der Täter die sein Tatvorhaben ermöglichende oder erleichternde schutzlose Lage des Opfers bewusst zunutze gemacht haben, um dessen entgegenstehenden Willen zu überwinden. Dabei beruht die schutzlose Lage regelmäßig auf äußeren Umständen, wie insbesondere der Einsamkeit des Tatortes und dem Fehlen von Fluchtmöglichkeiten. Eine tatbestandsmäßige schutzlose Lage ergibt sich aber noch nicht allein daraus, dass sich der Täter mit dem Opfer allein in der eigenen Wohnung befindet. Vielmehr müssen dann regelmäßig weitere Umstände hinzutreten, wie etwa das Abschließen der Tür durch den Täter mit der Folge, dass dem Opfer jegliche Fluchtmöglichkeit abgeschnitten wird.“ 
Dieser Fall steht beispielhaft für zahlreiche Fälle aus der vorliegenden Sammlung. Die Betroffenen sahen sich in einer ausweglosen Lage, fühlten sich bedrängt, genötigt und gezwungen. Sie haben ihren entgegenstehenden Willen geäußert, über den sich der oder die Täter hinwegsetzte/n. Trotzdem lag keine Strafbarkeit vor. (…)
a) Widerstand muss vorsätzlich mit Gewalt gebrochen werden. Wurde kein oder zu wenig Widerstand geleistet, verhindert dies die Strafverfolgung. 
In der Mehrheit der ausgewerteten Fälle zeigt sich besonders deutlich, was im deutschen Sexualstrafrecht geahndet wird: Nach § 177 Abs. 1 StGB sind sexuelle Handlungen dann strafbar, wenn physische Gewalt zur Überwindung physischen Widerstands eingesetzt wird. Das bedeutet letztlich, dass der Grad der Widerstandsleistung des Opfers bestimmt, wie viel Gewalt der Täter einsetzen muss, um zu der gewünschten sexuellen Handlung zu gelangen. 
Viele Fälle sind dadurch gekennzeichnet, dass die Einstellung des Verfahrens oder der Freispruch damit begründet wurden, dass das Tatbestandsmerkmal ‚Gewalt‘ nicht erfüllt sei. Es handelt sich um Fälle, in denen der Täter sexuelle Handlungen im Bewusstsein des entgegenstehenden Willens des Opfers durchgeführt hat. (…)
Kein körperlicher Widerstand der Betroffenen 
Dass vom Gesetz Widerstand des Opfers erwartet wird, damit eine Tat als strafwürdig gilt, wird in vielen Bescheiden ausdrücklich formuliert: 
„[…] jedoch wird von dem Gesetzgeber erwartet, dass das Opfer dem Täter einen Widerstand entgegensetzt, den dieser mit den genannten Nötigungsmitteln brechen muss.“ (Fall 41, 2013)
(…) Auch im folgenden Fall aus dem Jahr 2013 (Fall 41) wurde der entgegenstehende Wille mehrfach verbal bekundet. Der Täter setzt sich u.a. auf die Frau, um Oralverkehr zu erzwingen. Die Staatsanwaltschaft stellt fest, dass das Opfer sich durch das Körpergewicht zwar nicht wehren konnte, eine Gewaltanwendung zur Durchführung der sexuellen Handlung aber durch das auf Auf-den-Körper-Setzen nicht vorliege. Die Staatsanwaltschaft begründet ihre Entscheidung aber auch damit, dass das Auf-Den-Körper-Setzen Teil der sexuellen Handlung war, da der Täter diese Position für den Oralverkehr einnehmen musste: 
„Selbst wenn ich Ihre Schilderung von dem Oralverkehr zugrunde lege, ist dem Beschuldigten ein strafbares Verhalten hier nicht hinreichend nachzuweisen. Dem Beschuldigten ist nämlich nicht hinreichend nachzuweisen, dass er Gewalt angewandt hat, um eine sexuelle Handlung zu erzwingen. Sie haben angegeben, dass Sie aus Angst, dass Ihre Töchter von diesem Vorfall etwas mitbekommen könnten, mitgemacht haben. Der Beschuldigte musste daher keine Gewalt zur Durchsetzung des Oralverkehrs anwenden. Zwar hat er sich zuvor auf Sie gesetzt, so dass Sie nach Ihren Angaben aus dieser Lage sich aufgrund seines Körpergewichtes nicht befreien konnten, jedoch stellt dieses Auf-Sie-Raufsetzen keine Gewalt zur Durchsetzung der sexuellen Handlung dar. Der Beschuldigte musste diese Position einnehmen, um den Oralverkehr durchführen zu können, so dass diese auch als Teil der sexuellen Handlung anzusehen ist. Zwar haben Sie Ihren entgegenstehenden Willen ihm gegenüber geäußert, jedoch ist – wie bereits oben angesprochen – die bloße Vornahme einer sexuellen Handlung gegen den Willen einer Person nicht unter Strafe gestellt.“
Das Fehlen von Nötigungsmitteln, wie sie § 177 StGB verlangt, wird in diesem Einstellungsbescheid explizit angesprochen. Das vorrangige Problem hierbei war, dass die gemeinsamen Kinder im Haus waren und die Tür des Zimmers, in dem sich Täter und Opfer befanden, ein wenig offen stand. Um die Aufmerksamkeit der Kinder nicht auf sich zu ziehen, äußerte die Betroffene zwar verbal Gegenwillen, wehrte sich aber nicht physisch. Weiter aus dem Bescheid: 
„Dem Beschuldigten wäre letztlich nicht hinreichend nachzuweisen, dass er bewusst und gewollt Gewalt angewandt hat, um den Oralverkehr durchzusetzen, da Sie durch Ihr Mitbewegen und auch Öffnen des Mundes keinen Widerstand gezeigt haben, den der Beschuldigte hätte brechen müssen. Das an den Tag gelegte Verhalten des Beschuldigten mag für Sie sehr erniedrigend gewesen sein und es ist auch nachvollziehbar, aus welcher Motivation heraus Sie mitgemacht haben, jedoch wird von dem Gesetzgeber erwartet, dass das Opfer dem Täter einen Widerstand entgegensetzt, den dieser mit den genannten Nötigungsmitteln brechen muss. Eine sexuelle Nötigung ist vorliegend daher nicht hinreichend nachzuweisen.“
Zu wenig Widerstand der Betroffenen 
Dass ein vom Opfer geleisteter physischer Widerstand als zu schwach gewertet wird, wenn der Täter diesen nicht mit Gewalt brechen muss, zeigt folgendes Zitat von einem Fall aus dem Jahr 2005 (Fall 87): 
„Entsprechend versuchte nunmehr Frau X auch mehrfach, den Angeklagten während des Geschlechtsverkehrs durch Rückwärtsbewegung mit ihren angewinkelten Armen von sich „wegzudeuten“. Diese Abwehr seines Opfers registrierte der Angeklagte auch. Indessen steht nicht fest, ob und in welchem Maße dieses Verhalten von Frau X ihn gehindert hat, sein Vorhaben durchzusetzen, insbesondere ob er diese Behinderung durch Krafteinwirkung überwinden musste.“ 
Die meisten sexuellen Übergriffe finden bekanntermaßen im sozialen Nahraum statt. Durch die enge Bekanntschaft wissen die Betroffenen nicht selten um die potenzielle Gefährlichkeit und haben schon wiederholt bedrohliche und gefährliche Situationen mit dem Täter erlebt. Dass sie sich dann in einer Situation eines sexuellen Übergriffs nicht oder nur schwach physisch zur Wehr setzen, geschieht häufig aufgrund des Wissens um die Bedrohlichkeit des Täters. (…)
b.) Jede sexuelle Handlung vor der ersten Widerstandsleistung des Opfers ist straflos. 
In nicht wenigen der vorliegenden Fälle scheiterte die Strafverfolgbarkeit daran, dass der Angriff so überraschend erfolgte, dass kein Widerstand der Betroffenen möglich war. Es geht also um Situationen, in denen die Betroffenen keinen Angriff auf ihre sexuelle Selbstbestimmung erwarteten und schon deshalb keinerlei Widerstand oder Gegenwehr erfolgte – oder zu spät erfolgte. In diesen Fällen braucht es zunächst keinerlei Gewalt des Täters, da er das Opfer, das keinen Angriff erwartet, durch seine Handlung plötzlich überfällt. Hierzu gehören auch solche Fallkonstellationen, in denen die Betroffenen – eben zumeist aufgrund der Überraschung des Angriffs – den Übergriff in einer Schockstarre über sich ergehen ließen. 
Gerade im persönlichen Nahbereich, wenn besondere Vertrauensverhältnisse bestehen, wird in der Regel kein Angriff erwartet, die Betroffenen geraten unvorbereitet in eine solche Situation und befinden sich dann häufig zunächst in einer Schockstarre. 
Die Fallanalyse hat ergeben, dass von justizieller Seite teilweise durchaus auf das Phänomen der Schockstarre Bezug genommen wird. Die Anerkennung dieses Zustandes als häufige und übliche Reaktion auf eine bedrohliche Übergriffsituation führt jedoch keinesfalls zu der Anerkenntnis, dass damit auch eine Handlungsunfähigkeit der Betroffenen vorliegt. Zitat aus einem Einstellungsbescheid von 2013 (Fall 49): 
„Nachvollziehbar schildert [die Zeugin] zwar, dass sie sich in einer Art Schockzustand befunden und angesichts der verschlossenen Tür sowie der körperlichen Überlegenheit des Beschuldigten aus Angst den Oralverkehr vorgenommen hat. Andererseits konnte sie auf Nachfrage der Vernehmungsbeamtin nicht erklären, warum sie nicht einfach laut um Hilfe gerufen hat, zumal sich in einem Zelt neben dem Gartenhaus ja zwei Freunde aufhielten.“ 
Hier wird sehr anschaulich deutlich, wie groß – und für viele Frauen unerfüllbar – die Handlungserwartungen an ihr Verhalten in solchen Übergriffsituationen sind, wenn eine Strafbarkeit des Übergriffs anerkannt werden soll.
Gegenstand der staatsanwaltschaftlichen oder gerichtlichen Prüfung ist in diesen Fällen häufig der Zeitpunkt, zu dem die Betroffene Widerstand geleistet hat. Gerade dann, wenn Betroffene nach einigen Minuten der Schockstarre oder Überraschung doch noch in die Lage kommen, Widerstand zu leisten und sich aus der Situation zu befreien, verhindert dies in der Regel die Strafbarkeit. Denn es wird regelmäßig angenommen, dass die Betroffene ihre Widerstandsfähigkeit unter Beweis gestellt hat und dementsprechend auch schon zu einem früheren Zeitpunkt hätte körperlichen Widerstand leisten können. So wird auch die Einstellung eines Verfahrens im Jahr 2014 (Fall 88) begründet: 
„Zudem war es der Anzeigeerstatterin nach eigenen Angaben möglich, sich nach etwa 2 Minuten durch eine ruckartige Bewegung dem Beschuldigten zu entziehen. Frühere erfolglose Bemühungen, die sexuellen Handlungen aktiv zu unterbinden, schildert die Anzeigeerstatterin nicht. Vielmehr hatte sie sich nach Angaben des Zeugen X selbst Vorwürfe gemacht, dass sie ‚die Situation nicht sofort begriff und zu spät reagierte‘“. 
Die Tatsache, dass die Betroffene „die Situation nicht sofort begriff und zu spät reagierte“ führte in diesem Fall zur Verfahrenseinstellung. Solche Begründungen tragen maßgeblich dazu bei, dass Betroffene den Übergriff sowie ihr eigenes vermeintliches Versagen nur schwer bewältigen können. (…)
c.) Das Tatbestandsmerkmal der ‚schutzlosen Lage‘ ist kaum erfüllbar. 
Die sogenannte schutzlose Lage wurde bei der großen Reform des Sexualstrafrechts 1997 eingeführt, um Fälle zu erfassen, bei denen wegen fehlender Gewaltanwendung oder qualifizierter Drohung zuvor Straflosigkeit gegeben war. Im Laufe der Jahre hat die Rechtsprechung des BGH dieses Kriterium aber soweit eingegrenzt, dass es in der Praxis fast unbedeutend geworden ist. (…)
Häufigste Tatorte sexueller Übergriffe sind die Wohnungen des Täters oder des Opfers. Gerade in solchen Fällen ist der Gegenstand justizieller Prüfung in der Regel die Frage, ob die Wohnungstür objektiv abgeschlossen war und wo sich der Schlüssel befand. Hier ein Beispiel aus dem Jahr 2004 (Fall 46) in dem die Staatsanwaltschaft das Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO einstellt, weil die objektive Schutzlosigkeit nicht zweifelsfrei nachweisbar war: 
„Insbesondere ist dem Beschuldigten nicht hinreichend sicher nachzuweisen, dass er die Haustür abgeschlossen und den Schlüssel für Sie unerreichbar aufbewahrt hat.“ 
Das bedeutet: nur bei objektiv unerreichbar aufbewahrtem Schlüssel wäre die Betroffene schutzlos gewesen. Alle anderen Gründe, warum sie annahm, die Wohnung nicht schnell genug verlassen zu können, sind irrelevant. (…)
In der Praxis kommen Fälle, in denen eine schutzlose Lage anerkannt wird, aufgrund der hohen Anforderung, die die Rechtsprechung gesetzt hat, nicht häufig vor. Ein Fall aus dem Jahr 2011 (Fall 32) aus der Sammlung zeigt, dass sogar bei Anerkennung einer Lage als objektiv schutzlos dies nicht immer ausreichend ist. Denn der Täter, der die Schutzlosigkeit der Lage des Opfers erkannt hat, muss dann auch noch davon ausgehen, dass sich die Betroffene nur deshalb nicht wehrt, da die Lage eine schutzlose ist. Im vorliegenden Fall war eine 17-jährige Betroffene mit zwei Männern an einen abgelegenen Ort gegangen, dort führten die beiden Männer sexuelle Handlungen mit ihr aus. Da die Betroffene selbst und ohne Zwang zu dem Ort gegangen war, wurde das Verfahren letztlich eingestellt. Im Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft heißt es: 
„Objektiv ist eine schutzlose Lage im Sinne dieser Vorschrift wohl anzunehmen. Den Beschuldigten müsste dann aber zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass sie den entgegenstehenden Willen der Zeugin erkannt haben, und dass ihnen bewusst war, dass diese lediglich aus Furcht angesichts ihrer Schutzlosigkeit auf möglichen Widerstand verzichtete.“
d.) Es werden nicht alle relevanten Drohungen erfasst. 
Nach § 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB sind nur solche Drohungen relevant, in denen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben gedroht wird. Die Drohung mit anderen Übeln, wie z.B. damit, anderen von einer vorhergehenden intimen Beziehung zu berichten oder den Hund aus dem Fenster zu werfen, sind strafrechtlich nicht erfasst, wenn durch sie die Duldung einer sexuellen Handlung erzwungen wird. 
Diese Fälle werden meist nicht angezeigt, kommen aber in der Beratungspraxis in Beratungsstellen und bei Rechtsanwältinnen häufig vor. Nichtsdestotrotz werden solche sexuellen Übergriffe von den Betroffenen ebenfalls als extrem degradierend empfunden und führen häufig zu erheblichen psychischen Folgebeschwerden. 
Mehrfach teilten uns Rechtsanwältinnen Fallkonstellationen mit, in denen ausländische Frauen von ihren deutschen Ehemännern mit der Drohung, bei Weigerung werde man sie abschieben lassen, zum Geschlechtsverkehr gezwungen werden. In diesen Fällen erfolgen in der Regel keine Strafanzeigen, da die Betroffenen zu große Angst vor aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen haben. (…)
Auch Fälle wie das folgende Beispiel aus dem Jahr 2012 kommen offensichtlich in der Praxis häufig vor: 
„Eine junge Frau, 17 Jahre alt, berichtet mir von ihrem Volleyballtrainer. Er ist um die 40 Jahre alt, trainiert die Frauenmannschaft seit mehreren Jahren. Die Betroffene spielt sehr gerne, ist engagiert, trainiert hart. Es liegt ihr viel daran, bei den Turnieren mitspielen zu können, ihr gesamtes soziales Umfeld spielt in der Volleyballmannschaft. Ihr Trainer weiß genau, wie wichtig für sie die Teilnahme an Volleyballturnieren ist. Am Vorabend eines wichtigen Turnieres in ihrer Gruppe ist sie als Letzte in der Kabine. Der Trainer kommt, was er häufig macht, während die jungen Frauen sich umziehen, in die Umkleide. Diesmal ist sie allein. Er beginnt sie zu streicheln, berührt ihre Brüste. Als sie ihm deutlich zu verstehen gibt, dass sie dies nicht möchte, gibt er ihr ebenso deutlich zu verstehen, dass sie dann wohl nicht an dem Turnier wird teilhaben können und auch die Teilnahme an weiteren Turnieren sehr fraglich sei. Sie lässt daraufhin – weinend, was der Trainer sehr genau bemerkt und ihr mehrfach mitteilt, sie solle sich nicht so anstellen – weitere sexuelle Handlungen des Trainers an ihr zu.“ 
Das Tatbestandsmerkmal der Drohung erfasst ganz augenscheinlich viele Drohpotenziale nicht, die in der jeweiligen Situation aber für die Betroffenen einer Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben gleichkommen. Aus der Beratungspraxis gut bekannt ist die Drohung, die Betroffene bei ihrem Arbeitgeber zu verleumden, zum Beispiel im Falle einer Verkäuferin, sie habe Geld aus der Kasse genommen oder Ware gestohlen. (…)
5. Erkenntnisse und Fazit
Aus den im vorigen Abschnitt dargestellten Ergebnissen der Fallanalyse lassen sich in der Gesamtschau drei Haupterkenntnisse zur derzeitigen Rechtslage bei sexualisierter Gewalt ableiten.
1. Täter dürfen sich wissentlich über den erklärten Willen hinwegsetzen. „Nein“ sagen reicht für eine Strafbarkeit nicht aus. 
Die deutsche Rechtslage erlaubt es nicht, dass alle nicht-einvernehmlichen sexuellen Handlungen strafverfolgt werden. Die betreffenden systematisch straflosen Fälle sind gekennzeichnet von einem klar ausgedrückten und offensichtlich entgegenstehenden Willen des Opfers und einer Situation, in der sich der Täter über diesen Willen hinwegsetzt, während die Umstände oder die Mittel nicht ausreichen, um eine Strafbarkeit nach § 177 StGB zu implizieren. Die vorliegenden Fälle und die strukturelle Beschaffenheit der Einstellungs- und Freispruchsbegründungen zeigen eindeutig, dass eine umfassende Strafbarkeit von sexuellen Handlungen gegen den Willen einer Person an der Ausformulierung des § 177 StGB scheitert. Viele Einstellungsbescheide von Staatsanwaltschaften drücken diese Tatsache deutlich aus: 
„Wegen sexueller Nötigung oder Vergewaltigung wird bestraft, wer das Opfer zu sexuellen Handlungen mit Gewalt, Drohungen für Leib und Leben oder in schutzloser Lage zwingt. Es reicht hierfür nicht, dass die sexuellen Handlungen lediglich gegen den Willen der Geschädigten stattfinden.“ (2013, Fall 48) 
„Die Vornahme sexueller Handlungen gegen den Willen des Opfers ohne das Hinzutreten von Nötigungsmitteln hat der Gesetzgeber nicht unter Strafe gestellt. Ein bloßes Handeln gegen den Willen des Opfers reicht zur Tatbestandserfüllung nicht.“ (2007, Fall 64)
2. Die Widerstandsleistung der Betroffenen ist der zentrale Bezugspunkt für eine Strafbarkeit. Die sexuelle Selbstbestimmung muss aktiv verteidigt werden, sie ist nicht voraussetzungslos geschützt. 
Zentraler Fokus staatsanwaltschaftlicher und gerichtlicher Prüfung ist das Verhalten der Betroffenen. Die sexuelle Selbstbestimmung ist nicht von selbst und grundsätzlich geschützt, sondern sie muss von der betroffenen Person wehrhaft verteidigt werden.8
 So kann eine Bestrafung nur erfolgen, wenn der Täter aufgrund erfolgter oder zu erwartender physischer Gegenwehr der Betroffenen Gewalt anwendet oder damit droht. Geht der Täter „nur“ davon aus, dass die Betroffene keine sexuellen Handlungen mit ihm möchte, muss er dies ohne deren Widerstand nicht beachten und kann sich darüber hinwegsetzen, bis sie Widerstand leistet.9
 (…)
Erfolgt die physische Gegenwehr erst spät, verbleiben mindestens alle vorigen Handlungen straflos, zumeist aber die gesamte Tat. Denn die Betroffenen belegen durch die späte Gegenwehr, dass sie grundsätzlich in der Lage waren, sich zu widersetzen, nur keinen sofortigen Widerstand geleistet haben. 
Sexuelle Übergriffe sind sehr häufig Beziehungstaten, in wenigen Fällen sind die Täter den Frauen unbekannt. In solchen Konstellationen faktisch die Strafverfolgung an eine sofortige Gegenwehr der Betroffenen zu koppeln, erscheint geradezu widersinnig. Denn Studien zeigen: Üben Intimpartner sexualisierte Gewalt aus, besteht ein hohes Gewalt- und Bedrohungspotential.10
 Keine physische Gegenwehr zu zeigen kann demnach eine gut begründete Überlebensstrategie sein, um schwere Verletzungen zu vermeiden. Faktisch wird jedoch von Betroffenen erwartet, das Risiko in Kauf zu nehmen, schwere Verletzungsfolgen davon zu tragen. 
Die Strafbarkeitslücken werden auch nicht hinreichend durch die Tatbestände der sog. schutzlosen Lage und des sexuellen Missbrauchs Widerstandsunfähiger geschlossen. Denn eine objektiv schutzlose Lage wie sie die Rechtsprechung definiert, kommt in der Praxis äußerst selten vor. Und die Widerstandsunfähigkeit erfasst all die Fälle nicht, in denen die Betroffenen subjektiv widerstandsunfähig sind, was die Täter auch erkennen, objektiv aber grundsätzlich in der Lage wären, sich zu wehren. Fälle, in denen die Betroffene angetrunken ist, dem anscheinend hilfsbereiten Bekannten den Wohnungsschlüssel übergibt und sich dann dessen sexuellen Handlungen nicht erwehren kann oder auch die gesamte Fallgruppe von Geschädigten mit Lernschwierigkeiten (so genannter geistiger Behinderung) bleiben strafrechtlich weitgehend unbeachtet. 
Diese Rechtslage bedeutet konkret für (potenzielle) Betroffene von sexuellen Übergriffen: die Verantwortung dafür, was als strafwürdiger sexueller Übergriff gewertet wird, wird nicht dem Täter, sondern dem Opfer übertragen. Diese fühlen sich dadurch schuldig und verantwortlich, dass es zu dem Übergriff gekommen ist und sie ihn zugelassen haben. Es findet eine erneute Viktimisierung statt. (…)
Der bff hält sowohl aus menschenrechtlicher11 als auch aus gesellschaftspolitischer Perspektive folgende Veränderungen für unabdingbar:
- Die bestehenden Schutzlücken sollten vom Gesetzgeber zeitnah geschlossen werden. Die Verantwortung für eine Strafbarkeit eines sexuellen Übergriffs darf nicht länger bei der Betroffenen liegen. Jede sexuelle Handlung ohne Einverständnis der Betroffenen muss strafbar sein, wenn der Täter das fehlende Einverständnis vorsätzlich missachtet. Eine solche Veränderung entspräche den Anforderungen der Istanbul-Konvention und würde gleichzeitig gewährleisten, dass die materielle Rechtslage die empirisch belegte Realität sexueller Übergriffe abdeckt. 
- Aufgrund der zahlreichen über die materielle Rechtslage hinausgehenden Schwierigkeiten in Sexualstrafverfahren und der großen Belastung für die betroffenen Opferzeuginnen und -zeugen sind weitere flankierende Maßnahmen dringend nötig. Bewährt hat sich das Instrument der Psychosozialen Prozessbegleitung, durch das die Zeuginnen und Zeugen stabilisiert werden.12 Ein Rechtsanspruch auf Psychosoziale Prozessbegleitung sollte eingeführt werden. 
- Unterschiedliche Studien kommen zu den Ergebnissen, dass sich der Anteil der Frauen, die eine erlebte Vergewaltigung NICHT anzeigen, zwischen 95% und 84,5% bewegt. Quellen: Müller und Schröttle (2004): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland, Langfassung der Untersuchung. Herausgegeben vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Hellmann, D.F. (2014): Repräsentativbefragung zu Viktimisierungserfahrungen in Deutschland. Hannover: KFN ↩
- Statistik: Meldungen, Anklagen und Verurteilungen von Vergewaltigung in Deutschland. Bundesamt für Justiz.Bonn. ↩
- Fn 5: Pfeiffer, C. und Hellmann, D. (2014): Vergewaltigung Die Schwächen der Strafverfolgung – das Leiden der Opfer. Presseerklärung 17.04.2014, KFN. ↩
- Fn 6: Bundesamt für Justiz, Bonn (2014): Polizeilich registrierte Fälle, ermittelte strafmündige Tatverdächtige, Anklagen und Verurteilungen in Deutschland 1977 bis 2012. Bundesamt für Justiz, Bonn; Daten aus: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Strafverfolgung; Bundeskriminalamt (Hrsg.), Polizeiliche Kriminalstatistik. ↩
- Fn 8 §§ 177, 178 StGB. ↩
- Fn 9 § 179 StGB. ↩
- Fn 10 Anders ist dies bei Kindern und Jugendlichen oder in besonderen Abhängigkeitsverhältnissen (§ 174 bis 176b StGB, 180 StGB): hier ist der sexuelle Missbrauch strafbar, unabhängig davon, ob die geschädigte Person eingewilligt hat oder Gewalt gegen sie angedroht oder angewandt wird. ↩
- Fn 23 Es sei denn, sie ist i.S.d. § 179 StGB objektiv widerstandsunfähig oder befindet sich in einer objektiv schutzlosen Lage. ↩
- Fn 24 Völlig anders ist dies zum Beispiel bei Eigentumsdelikten, die unabhängig vom Verhalten der Betroffenen strafbar sind. Siehe dazu auch Deutscher Juristinnenbund (djb) 09.05.2014: Stellungnahme zur grundsätzlichen Notwendigkeit einer Anpassung des Sexualstrafrechts (insbesondere § 177 StGB) an die Vorgaben der Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) von 2011. Berlin. ↩
- Fn. 25 Lembke, Ulrike (2014): Vergebliche Gesetzgebung. Die Reform des Sexualstrafrechts 1997/98 als Jahrhundertprojekt und ihr Scheitern in und an der sog. Rechtswirklichkeit. In: Thorsten Benkel/Rüdiger Lautmann (Hg.), Strafrecht: Genese und Gestalt. Schwerpunktheft der Zeitschrift für Rechtssoziologie (im Erscheinen, S. 18. Vgl. auch: Schellong (2010): Anforderungen im Strafverfahren und sexuell traumatische Erlebnisse. In: bff (Hrsg.), Streitsache Sexualdelikte: Frauen in der Gerechtigkeitslücke. Berlin: Selbstverlag, S.21–29. ↩
- Fn. 29 Siehe auch: Policy Paper Deutsches Institut für Menschenrechte, Heike Rabe und Julia von Normann (2014): Schutzlücken bei der Strafverfolgung von Vergewaltigungen. Menschenrechtlicher Änderungsbedarf im Sexualstrafrecht. ↩
- Fn. 30 Die Bedeutung Psychosozialer Prozessbegleitung wurde erst kürzlich vom Strafrechtsausschuss der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister bekräftigt. Das Instrument umfasse die „qualifizierte Betreuung, Informationsvermittlung und Unterstützung im Strafverfahren mit dem Ziel, ihre individuelle Belastung zu reduzieren, eine Sekundärviktimisierung weitestgehend zu vermeiden und die Aussagetüchtigkeit als Zeuginnen und Zeugen zu fördern. (…) Dadurch entsteht ein Nutzen für die betroffenen Zeuginnen und Zeugen und die Justiz.“ (Mindeststandards der psychosozialen Prozessbegleitung vorgelegt von einer Arbeitsgruppe des Strafrechtsausschusses der Justizministerkonferenz (Stand Juni 2014). ↩