STREIT 2/2022

S. 63-70

Femopatriotismus à la tunisienne – Bedingungen der Durchsetzung von Geschlechtergerechtigkeit in Tunesien

Tunesien wurde bis vor kurzem gerne als vorreitende Ausnahme im Maghreb beschrieben. Diese Erzählung findet sich auch in deutschen Massenmedien im Kontext des sogenannten Arabischen Frühlings. Tunesien gilt als Ursprung und einzige Erfolgsgeschichte dieser politischen Umbrüche, bei denen ab 2011 in mehreren Staaten der MENA-Region (Middle East North Africa) Demonstrierende politische Rechte, Meinungsfreiheit und ein neues politisches System ohne Korruption einforderten.
In einem viel beachteten Prozess hat Tunesien sich 2014 eine neue Verfassung gegeben. Hervorgehoben wird insbesondere die Einbindung von bisher an politischen Prozessen ausgeschlossenen Personen, die (neue) Kultur der Kompromisse, das Entstehen neuer Öffentlichkeiten und die Verankerung von Frauenrechten in der neuen Verfassung. 2015 ging der Friedensnobelpreis an das tunesische Quartett bestehend aus dem tunesischen Gewerkschaftsverband, dem Arbeitgeberverband, der Menschenrechtsliga und der Anwaltskammer des Landes, das durch einen nationalen Dialog wesentlich dazu beigetragen hat, dass der Verfassungsprozess friedlich zu Ende geführt wurde.1

Die Entwicklungen in Tunesien bieten Anlass, diese mit der Linse der Geschlechtergerechtigkeit zu fokussieren.2 Blickt man in die Verfassungs- und Rechtsgeschichte des Landes, lassen sich historische Vorläufer ausmachen, die erklären können, warum die Geschlechterfrage im Verfassungsprozess (2011-2014) und auch aktuell so zentral ist. Die Instrumentalisierung der sogenannten Frauenfrage ist dabei weder singulär noch religions- oder regionalspezifisch.3 Allerdings wird historisch wie auch heute sowohl in der Binnen- als auch in der internationalen Perspektive ein besonderes Augenmerk auf „die Rechte der tunesischen Frau“ gelegt. 2018 wählten die Bewohner:innen der Hauptstadt Tunis zum ersten Mal eine Frau – Souad Abderrahim (islamistische Ennahda-Partei) – zur Bürgermeisterin. Der seit 2019 amtierende Präsident Kais Saied hat Ende September 2021 zum ersten Mal in der tunesischen Geschichte eine Frau – Bouden Romdhanes (parteilos) – zur Regierungschefin ernannt. Dieser Fokus auf „die Rechte der tunesischen Frau“ hängt eng mit dem tunesischen Staatsfeminismus zusammen. Der Beitrag stellt zunächst die Entwicklung dieses Staatsfeminismus in Tunesien dar (I). Sodann geht es um die Rolle des Femopatriotismus im Verfassungsprozess und dessen Auswirkungen auf die Verfassungswirklichkeit (II).

I. Historische Herleitung: vom Protektorat zur staatsfeministischen Republik

Der historische Streifzug durch die tunesische Verfassungsgeschichte verdeutlicht, dass die sogenannte Frauenfrage als Identitäts-, Macht- und Staatsbildungsstrategie immer wiederkehrt. Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts galten Frauen als ein Gradmesser für kulturelle Authentizität. Dies verstärkte sich mit dem Beginn des französischen Protektorats 1881 weiter.4 Das tunesische Rechtswesen war ab der Mitte des 19. Jahrhunderts dadurch gekennzeichnet, dass verschiedene Rechtssysteme und soziale Normen koexistierten.5 Auf Muslim:innen fand islamisches Recht Anwendung,6 Christ:innen und Jüd:innen unterlagen ihren eigenen Rechtssystemen und Gerichtsbarkeiten.7 Daneben gab es vereinzelt Gesetzesbücher von vorislamischen Amazigh-Stämmen.8 Die zugeschriebene Zugehörigkeit zu einer Religion bestimmte maßgeblich das anzuwendende Recht und den zugewiesenen Platz in der Gesellschaft.9
Mit der Unabhängigkeit von Frankreich 1959 entschied die tunesische Staatsführung um den neuen Präsidenten Habib Bourguiba, das Rechtssystem stärker zu vereinheitlichen. Zudem wurde die Möglichkeit gesehen, Rechtspolitik hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse zu betreiben.10 Der „Vater der Nation“ machte die sogenannte Frauenfrage zu einem seiner Kernanliegen.11 Diese top-down Logik brachte auf der einen Seite viele rechtliche Änderungen mit sich, gleichzeitig verhinderte sie aber die gesellschaftliche Auseinandersetzung über die Regelung der Geschlechterverhältnisse. Die Staatsführung instrumentalisierte die rechtlichen Fortschritte zu Machterhaltungszwecken.12 Diese Rechtspolitik wird in Tunesien mit dem Begriff des Staatsfeminismus beschrieben.13

Zum Begriff: Wie feministisch ist ein Staat?

Der Begriff „Staatsfeminismus“ wurde von Helga Hernes – zunächst in Bezug auf die skandinavischen Staaten – eingeführt. Danach bezeichnet Staatsfeminismus eine Vielzahl an staatlichen Politiken und Maßnahmen, die darauf ausgerichtet sind, allgemeine soziale und ökonomische Probleme zu lösen und dabei ein besonderes Augenmerk auf die sozioökonomische, in der Regel benachteiligte, Situation von Frauen zu legen.14 Im deutschsprachigen Raum wird der Begriff Staatsfeminismus aktuell auch in antifeministischen politischen Bewegungen verwendet, um Gleichstellungspolitik als Eingriffe in die „natürliche“ oder „gottgewollte Ordnung“ zu bezeichnen.15
Nach Sana Ben Achour beschreibt der Begriff Staatsfeminismus in Tunesien, dass staatliche Stellen durch politische Aktivität maßgeblich an der Veränderung der sozio-juristischen Situation der Frauen beteiligt sind. Anders als der Feminismus in der Form einer autonomen, sozialen Bewegung, die von kollektiven Forderungen nach Geschlechtergleichheit und sozialem Wandel getragen werde, werde diese Art des Feminismus staatlich vorangetrieben und diskursiv genutzt.16

Staatsfeministisches Statusrecht

Präsident Bourguiba erkannte schnell das Potential der sogenannten Frauenfrage als wesentliches Element der Staatsbildungsstrategie. Die rechtliche Situation der Frauen verbesserte sich merklich; sie waren aber an der Erarbeitung der neuen Staats- und Verfassungsordnung formal nicht beteiligt.17
Diese Verbesserungen zeigten sich besonders im Statusrecht. Der CSP (Code de Statut Personnel, CSP, auf Arabisch: majalla al ahwal al shakhsiya) wurde auf Initiative des damaligen Premierministers Bourguiba als Dekret ausgefertigt und trat am 01.01.1957 in Kraft.18 Er regelte – zunächst nur für Tunesier:innen muslimischen Glaubens19 – das Familien- und Erbrecht. Parallel dazu wurde die konfessionelle Gerichtsbarkeit aufgelöst20 und das Adoptionsrecht sowie eine flächendeckende Bildungsstrategie eingeführt.21 Der CSP ist gerade mit Blick auf die Geschlechterverhältnisse prägend für die Verfassungsordnung.22 Die Kernfamilie wurde zur wichtigsten Einheit erklärt. Solidarität sollte nur noch gegenüber dem Nationalstaat und nicht gegenüber anderen verwandtschaftlichen Strukturen bestehen.23
Ein paar Beispiele aus dem Statusrecht sollen die Änderungen verdeutlichen:

Rechte und Pflichten in der (heteronormativen) Ehe

Mit dem neuen Statusrecht wurde die bis dahin in der malekitischen Rechtsschule legale Polygamie verboten und sanktioniert (Art. 18 CSP).24 Beide Eheleute mussten fortan der Heirat zustimmen (Art. 3 Abs. 1 CSP). Entgegen der bisherigen Rechtslage wurde die Ehevormundschaft der Frau abgeschafft (Art. 9 CSP). Zudem etablierte der CSP die Scheidung vor Gericht (Art. 30 CSP)25 und hob damit auch das bis dahin geltende einseitige Scheidungsrecht des Mannes auf. Ferner wurde das Ehemindestalter auf 15 Jahre für Frauen und auf 17 Jahre für Männer angehoben (Art. 5 Abs. 2 CSP).26
Dennoch waren die Geschlechter unter dem CSP nicht gleichberechtigt und weiterhin von einem traditionellen Rollenverständnis geprägt.27 So sah beispielsweise Art. 23 Abs. 4 CSP den Ehemann als Familienoberhaupt bzw. „Chef de famille“ an. Auch die Brautgabe blieb obligatorischer Bestandteil des Ehevertrages (Art. 3 Abs. 2 CSP), wenngleich sie sich auf eine symbolische Zahlung beschränkte.28

Regelungen im Erbrecht

Das Erbrecht wurde ebenfalls kodifiziert. Dabei hält der CSP bis heute an der malekitischen Rechtslage fest,29 die geschlechtsbezogene unterschiedliche Erb­quoten vorsieht.30 Grundsätzlich erbt eine Frau im Verhältnis zu einem männlichen Erben auf der gleichen Erbstufe die Hälfte (vgl. Art. 93 ff. CSP). Eine denkbare Begründung für die Beibehaltung des malektitischen Erbrechts ist, dass die ungleiche Erbquote im Koran ausdrücklich geregelt ist.31 Die Reform des Erbrechts kann bis heute weder eine politische noch eine gesellschaftliche Mehrheit hinter sich vereinen.32

Politische Teilhabe und Repräsentation?

Bis hierher könnte der Eindruck entstanden sein, dass Frauen ausschließlich an der Küchen-Seitenlinie standen. Dem war selbstverständlich nicht so. Im Kontext der Unabhängigkeitsbewegungen Anfang des 20. Jahrhunderts zeigt sich das Dilemma von Frauen, die für Gleichberechtigung eintraten und gleichzeitig antikolonialistischen oder nationalistischen Prioritäten folgen sollten.33 Die vorrangig männlichen Mitglieder der Partei des späteren Staats­präsidenten Bourguiba waren nicht gegen die Mitgliedschaft von Frauen. Allerdings wandten sie sich dagegen, den sozialen oder rechtlichen status quo mit Blick auf die Geschlechter anzurühren, bevor nicht der Unabhängigkeitskampf gewonnen war.34
Einige Frauen organisierten sich in Gruppen innerhalb der Partei. Diese Gruppen setzten sich nicht zwingend für Geschlechtergerechtigkeit ein. Chedlia Bouzgarou koordinierte beispielsweise eine Gruppe von Frauen, die 1935 protestierten, um die Freilassung von Mitgliedern der Unabhängigkeitsbewegung zu erwirken. Im Anschluss organisierten diese Gruppen auch weitere Proteste.35 1936 gründete Bchira Ben Mrad mit der muslimischen Union der Frauen Tunesiens (UMFT) die erste Frauenvereinigung.36 Diese und andere frühe Frauenbewegungen blieben größtenteils konservativ in dem Sinne, dass sie ihre Forderung auf den Zugang zur Bildung für Mädchen und Frauen fokussierten.37 Sie ermöglichten jedoch die Teilnahme von Frauen am öffentlichen Leben und veränderten damit auch stückweise das öffentliche Frauenbild.38

Gleichwohl wurde das Ende der Monarchie ohne formale Beteiligung von Frauen ausgehandelt.39 Die neue Verfassung von 1959 enthielt jedoch die erste Regelung zur Gleichheit der Geschlechter in Art. 6 und räumte den Frauen das aktive und passive Wahlrecht ein.
Der Eine-Partei-Logik von Bourguiba folgend, existierte nach der Unabhängigkeit zunächst nur eine offizielle Frauenvereinigung.40 Die Machtübernahme von Ben Ali bedeutete ab den 1980er Jahren eine gewisse Öffnung.41 Mehrere Frauenvereinigungen gründeten sich.42 Zu nennen sind insbesondere die Vereinigung der tunesischen demokratischen Frauen (ATFD) und die Vereinigung der tunesischen Frauen für Forschung und Entwicklung (AFTURD). Die Vereinigungen adressierten direkt das Verhältnis der Geschlechter sowie auf Geschlecht basierende Diskriminierungen. Wichtige Themen waren und sind beispielsweise die Abschaffung der Ungleichbehandlung im Erbrecht sowie die Bekämpfung geschlechtsbezogener Gewalt.43 Diese Vereinigungen hatten eine säkulare Ausrichtung.44 Ab den 1990ern entstanden erste Bewegungen, die sich explizit auf den Islam bezogen.45 Priorität hatte das Vorantreiben des politischen Islam und das Eintreten für soziale Gerechtigkeit.46
Ab der Machtübernahme durch Ben Ali setzte dieser weitere staatsfeministische Reformen um. Eine Bildungsreform führte die Schulpflicht für Mädchen und Jungen zwischen 6 und 16 Jahren ein. Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts ermöglichte Frauen ab 1993, ihre tunesische Staatsangehörigkeit auch an Kinder mit einem Nicht-Tunesier weiterzugeben. Im Familienrecht ersetzte das „Prinzip der gleichberechtigten Partnerschaft“ in Art. 23 Abs. 1 CSP die Rechtspflicht von Frauen zum Gehorsam gegenüber dem Ehemann. Dadurch konnten Frauen nun beispielsweise ein Bankkonto in eigenem Namen eröffnen. Im Strafrecht wurde häusliche Gewalt kriminalisiert.47

Und der Islam?

An dieser Stelle ist es angezeigt, die Begrifflichkeiten rund um den Islam, wie sie hier verstanden werden, kurz zu erläutern. „Islamisch“ bezieht sich nach hiesigem Verständnis auf den Islam als Glaubensrichtung.48 Entgegen des massenmedialen Verständnisses in Deutschland ist „islamistisch“ die hier gewählte Bezeichnung für einen politischen Islam. Dieser ist nicht zwingend mit Gewalt oder Extremismus verbunden. Islamistisch bezeichnet hier eine politische Orientierung, die wesentliche politische Leitlinien aus der islamischen Religion begründet.49
Der ehemalige Staatspräsident Bourguiba setzte Religion ebenso bewusst zur Staatsbildung ein wie die Geschlechterfrage. Dass beides für Bourguiba wichtige Machtelemente waren, zeigt sich deutlich am Wandel der Vorgaben bzgl. der angemessenen Kleidung von Frauen. Während der Kolonialzeit trat Bourguiba für den ḥiǧāb als Symbol des Widerstandes gegen die französische Kolonisierung ein.50 Nach der Unabhängigkeit setzte er sich gegen das Tragen des Kopftuches als Zeichen der Modernisierung des Landes ein. Das Tragen des ḥiǧāb in öffentlichen Räumen wurde schließlich 1981, nach dem wachsenden islamistischen Einfluss, der auf die iranische Revolution folgte, rechtlich verboten.51
Für Bourguiba war es wichtig, den Islam in die (Rechts-)Politik einzubinden. Zum einen ging er davon aus, dass sich die Bürger:innen dadurch an den Staat binden ließen.52 Zum anderen konnte der Staat nicht nur über den von Geistlichen verbreiteten Inhalt bestimmen, sondern auch die (konservativeren) Islamist:innen besser kontrollieren. Sowohl Bourguiba als auch sein Nachfolger Ben Ali begründeten ihre repressive Politik damit, dass sie den politischen Islam als Gefahr für Frauenrechte darstellten.53
Bis heute wird die „arabisch-islamische Identität“ zur Abgrenzung gegenüber als extern wahrgenommener Einflussnahmen eingesetzt. Dies wird beispielsweise an der Betonung der Unvereinbarkeit von Geschlechtergleichstellung und konservativer Lesart des Islam oder auch an religiös begründeten oder auf die Religion zurückzuführende Regelungen erkennbar, die ein asymmetrisches Verhältnis der Geschlechter zueinander (beispielsweise im Familien- und Erbrecht) kodifizieren. Wenngleich sich zeigen lässt, dass die Situation der Frauen im Maghreb ebenso von patriarchalen und agrarischen Strukturen geprägt ist, wie durch islamische Vorgaben,54 spielt der Islam dennoch eine zentrale Rolle. Für viele Lebensbereiche war und ist das in Rechtsschulen überlieferte islamische Recht maßgeblich. Auch in der Zeit der Säkularisierung kam dem Islam eine zentrale Rolle bei der juristischen Ausgestaltung der Geschlechterverhältnisse zu.

II. Femopatriotismus im Verfassungsprozess und unter der neuen Verfassung von 2014

Bourguibas und später auch Ben Alis staatsfeministische Rechtspolitik war insofern erfolgreich, als dass sie wesentlich zu der Erzählung der tunesischen Fortschrittlichkeit mit Blick auf Frauenrechte beitrug.55 Nach der Unabhängigkeit gelang es der tunesischen Führung nicht nur, die konservative (anti-Reform-orientierte) Opposition kleinzuhalten, sondern stetig weitere Reformen umzusetzen. Wie am Erbrecht ersichtlich, bleibt die unüberschreitbare Grenze die undefinierbare „arabisch-islamische Identität“. Dennoch war es eine Frage des Nationalstolzes und der internationalen Anerkennung, diesem Weg weiter zu folgen.56 Auch Feminist:innen eigneten sich den emanzipatorischen Teil des Staatsnarratives an.57

Zum Begriff des Femopatriotismus

Ausgehend von der jahrelangen staatsfeministischen Prägung des Landes beschreibe ich mit dem Begriff des Femopatriotismus einen Stolz auf die vorgebliche Fortschrittlichkeit mit Blick auf die Geschlechtergleichberechtigung im regionalen sowie internationalen Kontext.58 Dieser Patriotismus speist sich besonders aus zwei Elementen: der Wahrnehmung von Recht als Fortschrittsinstrument und dem Fokus auf Frauenrechte. Femopatriotismus wird in Anlehnung an das Phänomen des Verfassungspatriotismus59 und in Abgrenzung zu dem von Sara R. Farris geprägten Begriff des Femonationalismus60 verwendet. Letzterer beschreibt nach Farris die „Versuche europäischer rechter Parteien – unter anderem – feministische Ideale für Kampagnen gegen Migranten und Migrantinnen und gegen den Islam zu vereinnahmen“.61 Die Berufung auf Geschlechtergleichstellung werde für nationalistische, sexistische, rechtsradikale und antimuslimische Angriffe genutzt. Der hier beschriebene Femopatriotismus à la tunisienne unterscheidet sich in zweierlei Hinsicht maßgeblich von dem von Farris geprägten Begriff des Femonationalismus:
Erstens geht es beim Femonationalismus nach Farris darum, neo-imperialistische Vorhaben zu legitimieren oder anti-islamisch gegen Einwanderung vorzugehen. Femopatriotismus hingegen bedeutet, dass die (staats-)feministische Argumentation genutzt wird, um sich in der Region abzuheben und andere Missstände mit Blick auf demokratisch-rechtsstaatliche Elemente zu verbergen. Auch in Tunesien wurde die Berufung auf Frauenrechte von der Staatsführung instrumentalisiert, um Islamist:innen zu unterdrücken. Hier ist aber zu berücksichtigen, dass die Bevölkerung mehrheitlich muslimisch ist. Staatsfeminismus diente durchaus der Ausgrenzung bestimmter politischer Gruppen, aber nicht von Migrant:innen.
Zweitens ist Femonationalismus wie beschrieben anti-islamisch, während der tunesische Femopatriotis­mus gerade die „arabisch-islamische“ Identität mit (dekorativ) feministischen Anliegen verbindet. Das zeigt sich beispielhaft am Statusrecht. Dem Statusrecht kommt damit eine starke identitäre Komponente der „tunesischen Ausnahme“ zu. Allerdings wurde der CSP auch eingesetzt, um strukturelle Ungleichheiten zu verharmlosen. So wurde beispielsweise geschlechtsbezogene Gewalt mit einem Verweis auf die „Errungenschaften der tunesischen Frau“ immer wieder kleingeredet.62
Femopatriotismus beinhaltet nicht nur das Element des Stolzes, sondern ist auch von einem starken Anspruchsgedanken gegenüber dem Staat geprägt. Vor dem Hintergrund einer Rechtskultur mit dem Verständnis, dass Fortschritt (auf dem Gebiet der Geschlechtergleichstellung) (nur) durch Recht erfolgen kann, waren die Staatsorgane vorrangig für die Umsetzung der Geschlechtergleichstellung zuständig. Sicherlich lässt sich dies gerade im Bereich der Geschlechtergerechtigkeit auf den eingeschränkten Handlungsspielraum feministischer Bewegungen zurückführen.63 Der Staat gab sowohl vor, welche Kollektive staatliche Anerkennung erlangten, als auch das Rechtsfeld, in dem Reformen von (vom Staat zugelassenen) feministischen Bewegungen gefordert werden konnten.
Teil des Femopatriotismus ist auch, dass bestimmte staatsfeministische Errungenschaften in Tunesien als unumstößlich gelten. Das ließ sich beispielsweise beobachten, als im regionalen Kontext durch das Erstarken der Religion aufgrund des internationalen Kontextes (Revolution Iran, Auftrieb Saudi-Arabien) und als Gegenreaktion auf die Unterdrückung der Islamist:innen, der Ruf nach einer Islamisierung des Rechts auch in Tunesien wieder lauter wurde. Diese Forderungen gingen zum Beispiel nie so weit, das Verbot der Polygamie wieder abzuschaffen.

Welche Rolle spielte der Femopatriotismus im verfassungsgebenden Prozess?

Die Frage der Geschlechtergerechtigkeit war nicht vordergründig kausal für die Umbrüche in Tunesien, die zur neuen Verfassung von 2014 geführt haben. Die Proteste richteten sich vor allem gegen das alte Regime, das wegen Korruption, fehlender Meinungs- sowie politischer Freiheiten und sozioökonomischer Ungleichheiten kritisiert wurde. Dennoch gab es relativ früh zwei Entwicklungen, die durch die Brille der Geschlechtergerechtigkeit betrachtet von besonderer Relevanz sind. Auf der einen Seite setzte sich der Ruf nach einer neuen Verfassung durch. Weite Teile der Tunesier:innen verbanden mit der Forderung nach einer neuen Verfassung die Hoffnung auf eine substantielle Änderung. Parallel dazu machten die Demonstrierenden und andere politische Akteur:innen die Gleichberechtigung der Geschlechter zu einem zentralen Thema. Gerade im internationalen Kontext wurde hier der Femopatriotismus unter Bezugnahme auf die „Fortschrittlichkeit des CSP für die Region“ und die „Rechte der tunesischen Frau“ deutlich.

Femopatriotismus als Geschlechtergerechtigkeit fördernder Faktor

Die femopatriotische Logik erwies sich im verfassungsgebenden Prozess auf der einen Seite als Geschlechtergerechtigkeit fördernder Faktor – wie auch schon bisher. Beispielsweise führte unter anderem diese Prägung dazu, dass das geschlechter-paritätische Wahlrecht für die verfassungsgebende Versammlung (ANC) von Anfang an zwischen den Mitgliedern des für das Wahlrecht zuständigen Gremiums mehr oder weniger unumstritten war.64 Das geschlechter-paritätische Wahlrecht wurde auch von der islamistischen Ennahda-Partei unterstützt.65
Die verfassungsgebende Versammlung war dann aufgrund des vertikal-paritätischen Wahlrechts – also der Vorgabe alternierend Frauen und Männer auf den Wahllisten der Parteien aufzuführen – mit einem Anteil von ca. 70% männlicher und 30% weiblicher Mitglieder und durch die Vielzahl von Parteien auch politisch heterogen zusammengesetzt. Dass trotz der Paritätsvorgabe „nur“ 30% der Mitglieder weiblich waren, ist darauf zurückzuführen, dass 93% der Listen auf ihren ersten Listenplätzen männliche Kandidaten aufführten und häufig nur die ersten Listenplätze in die ANC einzogen. Zudem kam es auch vereinzelt zu Verstößen.66
Die Heterogenität der ANC zeigt sich besonders daran, dass die bis zu diesem Zeitpunkt verbotene islamistische Ennahda-Partei in die Versammlung einzog, die meisten Sitze erhielt und die meisten weiblichen Mitglieder stellte. Zum Vergleich: der verfassungsgebenden Versammlung, die zur Verfassung von 1959 führte, gehörten ausschließlich männliche Mitglieder derselben Partei des Präsidenten Bourguiba an.67
Dadurch dass der Kreis derjenigen, die an der Entstehung der neuen Verfassung beteiligt waren, weiter als bisher war, fanden geschlechtergerechte Regelungen Eingang in die Verfassung. Der Femopatriotismus dürfte daher auch wesentlich dazu beigetragen haben, dass die ANC einen Text verabschiedet hat, der im Bereich der Geschlechtergerechtigkeit deutlich weitergeht als die Verfassung von 1959. Ein allgemeines und symmetrisches Gleichheitsgebot (Art. 21 TV 2014) wurde mit einem eigenen Artikel für Frauenrechte mit geschlechtsspezifischen Staatszielbestimmungen zum Abbau von Benachteiligungen der Frau kombiniert. Daraus folgt die staatliche Pflicht, Chancengleichheit zwischen Mann und Frau zu garantieren bzw. zu fördern. Zudem wird der Staat verpflichtet, Maßnahmen zur Beendigung der Gewalt gegen Frauen umzusetzen (Art. 46 TV 2014).
Insbesondere bei den Regelungen außerhalb des strukturell Privaten verankert die Verfassung von 2014 wesentliche staatsbürgerliche Rechte geschlechtsunabhängig und verpflichtet den Staat auf eine geschlechtergerechte Repräsentation hinzuwirken (Art. 46 Abs. 3 TV 2014). Dies wurde einfachgesetzlich in verschiedenen Bereichen umgesetzt. Das vertikal-paritätische Wahlrecht wurde für die Parlamentswahlen beibehalten. Noch weitreichender ist das Wahlrecht für die Regional- und Kommunalwahlen. Dieses sieht neben der vertikalen Parität auch die Vorgabe der horizontalen Parität bei den Wahllisten vor. Dies bedeutet, dass die Wahllisten weibliche und männliche Kandidat:innen auf derselben Liste (vertikale Parität) und gleichzeitig die ersten Positionen aller ihrer Listen mit Blick auf die Geschlechter alternieren müssen (horizontale Parität).

Einschränkende Elemente der femopatriotischen Logik

Während der Verfassungsdebatte ab 2011 hielten die Mitglieder der Versammlung größtenteils an den traditionellen Konzeptionen von Geschlecht wie auch an dem dichotomen, heteronormativen Geschlechtsrahmen als Anknüpfungspunkt für das Recht fest. Dies lässt sich auch auf die femopatriotischen und „arabisch-islamischen“ Prägungen zurückführen. Das gilt in besonderem Maße für „die tunesische Frau“. Differenzen innerhalb der Gruppe „tunesische Frau“ wurden kaum thematisiert, gleiches gilt für intersektionale Aspekte. Zudem unterstellten die Mitglieder weiterhin den nie erwähnten „tunesischen Mann“ – mit Ausnahme vielleicht des „Chef de famille“ – als Norm, was die Hierarchie- und Machtverhältnisse verdeutlicht.
Zudem trägt die Verfassung dem in der Verfassungsdebatte klar zum Ausdruck gekommenen Widerstand, Geschlechtergerechtigkeit explizit auch im strukturell Privaten, insbesondere im Familien- und Erbrecht zu verankern, verfassungsrechtlich auf mehreren Ebenen Rechnung. Das Gleichstellungsgebot steht in einem Spannungsverhältnis zu anderen verfassungsrechtlichen Normen. Die unklare verfassungsrechtliche Stellung des Islam sowie die an mehreren Stellen in der Verfassung bestärkte „arabisch-islamische Identität“ könnten bestehende Hierarchieverhältnisse im Rechtssystem gerade im familiären Bereich weiter rechtfertigen.

Aktuelle Situation

Seit dem Inkrafttreten der Verfassung 2014 wartet Tunesien auf die Konstituierung des vorgesehenen Verfassungsgerichts. Daher können die weit über die des vormaligen Verfassungsrats hinausgehenden Zuständigkeiten des geplanten Gerichts bisher nur begrenzt erfüllt werden. Die Provisorische Instanz (IPCCPL) nach Art. 148 Abs. 7 TV 2014 hat zwar als Übergangslösung bei der Auslegung von Verfassungsnormen und der Vorabprüfung von Gesetzen wertvolle Arbeit geleistet.68 Die IPCCPL hat allerdings keine Normverwerfungszuständigkeit, die gerade für die legislative Geschlechterungerechtigkeit von Bedeutung ist.
Die Angleichung der intrakonstitutionellen Rechtsordnung obliegt damit primär der Legislative bzw. der Auslegung durch die Fachgerichte. Die gesetzgebende Gewalt ist ihrer Verpflichtung zum Abbau von geschlechtsspezifischer Diskriminierung insbesondere in den Bereichen der politischen Teilhabe und Repräsentation sowie des Schutzes vor geschlechtsspezifischer Gewalt nachgekommen. Das zeigen die seit 2014 in vielen Bereichen erlassenen Gesetze zur Förderung der Parität in gewählten Gremien, wie es Art. 46 Abs. 3 TV 2014 vorsieht. Auch im politischen Bereich dürften für eine geschlechtergerechte Teilhabe und Repräsentation jedoch weitere positive Maßnahmen innerhalb der politischen Parteien, einschließlich der Parteigremien und -führung selbst, erforderlich sein.69

Einen weiteren zentralen Schritt ist die Legislative mit dem Gesetz zur Beseitigung jeglicher Form von Gewalt gegen Frauen gegangen, das mit seinem ganzheitlichen Ansatz die strukturelle, geschlechtsspezifische Benachteiligung adressiert und erste Umsetzungen vorweisen kann.70 Allerdings hat eine jüngere Studie des Zentrums für Frauenforschung (CREDIF) ergeben, dass gerade im Bereich der Gewalt gegen Frauen geschlechtsspezifische Stereotypen und Rechtfertigungsmuster so erheblich sind,71 dass ein Abbau geschlechtsspezifischer Gewalt erschwert sein dürfte. Interessant ist ferner, welche Schritte die Legislative bisher noch nicht unternommen hat bzw. unternehmen konnte. Dies betrifft insbesondere mit Blick auf den Gleichheitssatz aus Art. 21 i.V.m. Art 46 TV 2014 verfassungswidrige Normen des Familien- und Erbrechts.

Welchen Einfluss die aktuelle (März 2022) verfassungspolitische Lage auf Geschlechtergerechtigkeit mittelfristig hat, bleibt ebenso abzuwarten, wie die Entwicklung des Femopatriotismus in diesem Kontext. Durch die Aussetzung des Parlaments fällt ein wichtiger Akteur bei der Umsetzung der Verfassungspostulate zunächst aus. Zudem bedeuten Einschränkungen der demokratisch-rechtsstaatlichen Grundlagen in der Regel auch verminderte Einflussnahmemöglichkeiten für feministische und andere zivilgesellschaftliche Bewegungen. Zudem ist die durch die Corona-Pandemie mitbegründete sozioökonomische Situation in Tunesien als Geschlechtergerechtigkeit einschränkender Faktor nicht zu unterschätzen.72
Gleichzeitig ist hervorzuheben, dass seit den politischen Umbrüchen ab 2011 die Anzahl an feministischen und allgemein zivilgesellschaftlichen Organisationen erheblich zugenommen hat, die sich für Gleichberechtigung einsetzen. Im verfassungsgebenden Prozess wurde dies besonders deutlich, als insbesondere die Mobilisierung dieser Kollektive dazu führte, dass die „Komplementarität der Geschlechter“ aus dem Verfassungsentwurf gestrichen und durch die Gleichheit ersetzt wurde.73 Diese Organisationen arbeiten auch aktuell – im Rahmen der Möglichkeiten – mit Nachdruck an der Gleichstellung der Geschlechter.

  1. Sicherlich werfen die aktuellen (verfassungs-)politischen Entwicklungen Fragen rund um die Funktion der Verfassung auf. Der amtierende Staatspräsident Kais Saied hat Ende Juli 2021 das Parlament suspendiert und regiert seitdem per Dekret. Darum soll es in diesem Beitrag nicht gehen. Siehe zu der (verfassungs-)politischen Lage das Interview mit der Leiterin des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Tunis, Heike Löschmann: www.boell.de/de/2021/08/13/zu-alt-um-noch-zum-diktator-zu-werden. Siehe auch Schmidt, Kais Saied und die Kritik, Zenith, 27.02.2022, abrufbar unter: https://magazin.zenith.me/de/politik/balanceakt-des-tunesischen-praesidenten, beide zuletzt am 27.02.2022 aufgerufen.
  2. Für eine vertiefte Auseinandersetzung: Laiadhi, Geschlechtergerechter Konstitutionalismus in Tunesien, 2022.
  3. Gerhard, Einleitung: Menschenrechte sind Frauenrechte, in: Facetten islamischer Welten, Rumpf/Gerhard/Jansen, (Hrsg.), 2003, S. 85-102 (90 f.).
  4. Die Untersuchung bezieht sich auf die Stadt Tunis. Vgl. Clancy-Smith, Gender in the City, in: Africa’s Urban Past, Anderson/Rathbone (Hrsg.), 2000, S. 189-204 (192 ff.).
  5. Dieser Rechtspluralismus oder auch interreligiöse Rechtsspaltung ist aus der rechtlichen Differenzierung zwischen Muslim:innen und den Angehörigen der anderen Buchreligionen entstanden. Vgl. Yassari, Die Brautgabe im Familienvermögensrecht, 2014, S. 91 ff. m.w.N.
  6. Im sunnitisch geprägten Tunesien waren hauptsächlich die Rechtsschulen der Maliki und Hanafi vertreten. Zu den Ursprüngen der malekitischen Rechtsschule allgemein und in Tunesien und auch zum Hinzutreten der hanafitischen mit der osmanischen Kolonisierung: Jones-Pauly, Women under Islam: gender, justice and the politics of Islamic law, 2011, S. 3 ff.
  7. Silvera, Le régime constitutionnel de la Tunisie, RFSP, 1960, Vol. 10, Nr. 2, S. 366-394 (367).
  8. Charrad, States and Women’s Rights, 2001, S. 111.
  9. Clancy-Smith, a.a.O., Fn. 4.
  10. Weber, Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegung in Tunesien, 2001, S. 13.
  11. Bessis, Histoire de la Tunisie, 2019, S. 369.
  12. Für den Begriff „paternalistischer Staatsfeminismus“: Abbas, Das Imaginäre und die Revolution, 2019, S. 138.
  13. Sana Ben Achour, Féminisme d’Etat: figure ou défiguration du féminisme?, in: Mélanges en l’honneur de Mohammed Charfi, 2001, S. 413- 426; Murphy, Women in Tunisia, in: Women and Globalization in the Arab Middle East, Abdella Doumato/Pripstein Posusney (Hrsg.), 2003, S. 169-194 (169); Beau/La­garde, L’exception tunisienne, 2014, S. 7. 
  14. Vgl. Hernes, Welfare State and Woman Power: Essays in State Feminism, 1987, S. 11.
  15. Autorinnenkollektiv „Feministische Intervention“, Frauenrechte und Frauen*hass, 2. Aufl. 2020, S. 25 f.
  16. Sana Ben Achour, a.a.O., Fn. 13, S. 413 f.
  17. Sana Ben Achour, a.a.O., Fn. 13, S. 414. Der CSP wurde nicht nur ohne weibliche Teilhabe am Erarbeitungsprozess, sondern auch zu einem Moment erlassen, wo Frauen kein Wahlrecht hatten. Siehe auch Charrad, a.a.O., Fn. 8. Vgl. zur Parallele der Beratungen zum BGB im Reichstag ohne weibliche Beteiligung: Schwab, Gleichberechtigung und Familienrecht im 20. Jahrhundert, in: Frauen in der Geschichte des Rechts, Gerhard (Hrsg.), 1997, S. 790-827 (794).
  18. Dekret vom 13.08.1956, JORT Nr. 104 vom 28.12.1956, S. 1742 ff.
  19. Für nicht-muslimische Bürger:innen jüdischen Glaubens galt zunächst weiter das jüdische Personenstandsgesetz, bzw. für alle anderen das französische Personalstatut; vgl. Waletzki, Ehe und Ehescheidung in Tunesien, 2001, S. 129 f.
  20. Per Dekret vom 03.08.1956 wurden die šarīʿatischen Gerichte und per Dekret vom 27.09.1957 die rabbinischen Gerichte abgeschafft. Es folgte eine Vereinheitlichung zur säkularen Justiz und die Anwendung des Personalstatuts auf alle Bürger:innen ab dem 01.10.1957; vgl. Waletzki, a.a.O., Fn. 19, S. 131.
  21. Sana Ben Achour, a.a.O., Fn. 13, S. 415.
  22. Ebd. S. 414.
  23. Weber, a.a.O., Fn. 10, S. 25.
  24. Mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und/oder einer Geldstrafe.
  25. Nunmehr konnten sowohl die Ehefrau als auch der Ehemann die Scheidung vor Gericht einreichen (Art. 31 Abs. 1 Nr. 3 CSP).
  26. Das Mindestalter für beide Eheleute wurde später auf 18 Jahre angeglichen. Gesetz Nr. 2007-32 vom 14.05.2007, JORT Nr. 42 vom 25.05.2007, S. 1779.
  27. Für eine vertiefte Gegenüberstellung der Regelung im Ehe- und Scheidungsrecht im klassischen, islamischen Recht und dem CSP von 1956 auf der Grundlage einer Auswertung von fast 500 Gerichtsurteilen aus den Jahren 1957-1998: Waletzki, a.a.O., Fn. 19, S. 137 ff.
  28. Jones-Pauly, a.a.O., Fn. 13, S. 78. Hintergrund der Brautgabe war ursprünglich die finanzielle Absicherung der Ehefrau im Scheidungsfall. Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Brautgabe: Yassari, a.a.O., Fn. 13, S. 173 ff.
  29. Vgl. für einen Überblick der klassischen islamischen Rechtslage: Rohe, Das islamische Recht, 3. Aufl. 2011, S. 99 ff. m.w.N.
  30. Vgl. Gallala-Arndt, Tunisia after the Arab Spring, Women’s rights at Risk?, in: Constitutionalism, Human Rights, and Islam after the Arab Spring, Grote/Röder (Hrsg.), 2016, S. 599-614 (601).
  31. Fontana, Universelle Frauenrechte und islamisches Recht, 2017, S. 292. Ähnlich Rohe, a.a.O., Fn. 29, S. 231.
  32. Ben Jémia, Le Sort de la Levée des Réserves à la CEDAW à la lumière du Brouillon de Constitution, in: Égalité de Genre et Transition Démocratique, 2013, S. 209-222 (212).
  33. Mir-Hosseini, Neue Überlegungen zum Geschlechterverhältnis im Islam, in: Facetten islamischer Welten, Rumpf/Gerhard/Jansen, (Hrsg.), 2003, S. 53-82 (53).
  34. Perkins, A History of Modern Tunisia, 2. Aufl. 2014, S. 104.
  35. Ebd.
  36. Die UMFT wurde mit drei Kernzielen gegründet: die Zusammenführung von Frauen zur Verteidigung ihrer Familien und demokratischer Freiheiten, Kultur unter Frauen zu verbreiten und Bildung für Frauen zu ermöglichen; vgl. Tchaïcha/Arfaoui, The Tunisian Women’s Rights Movement, 2017, S. 25.
  37. Die Forderung nach Zugang zu Bildung für Mädchen und Frauen kann als gemeinsamer Nenner dieser Gruppen bezeichnet werden. So Bessis, a.a.O., Fn. 11, S. 267. Für einen Überblick der Frauenbewegungen bzw. -gruppen: Tchaïcha/Arfaoui, a.a.O., Fn. 36, S. 24 ff. Beeinflusst wurden diese Bewegungen durch das Verhalten und die Rechte der Französinnen vor Ort ebenso wie der internationale Austausch mit anderen – insbesondere den ersten ägyptischen und türkischen – Frauenbewegungen. Vgl. Arfaoui, The Development of the Feminist Movement in Tunisia 1920s–2000s’, The International Journal of the Humanities, 2007, Vol. 4, Nr. 8, S. 53-60 (54).
  38. Marzouki, Le mouvement des femmes en Tunisie au XXème ­siècle: Féminisme et politique, 1993, S. 44 f.
  39. Das Dekret zur Erarbeitung einer neuen Verfassung legte in seinem Art. 1 fest, dass am 8. April 1956 eine verfassungsgebende Versammlung zusammentreten sollte, die nach Art. 2 aus allgemeinen, direkten und geheimen Wahlen hervorgehen sollte. Das aktive und passive Wahlrecht galt jedoch nur für männliche Tunesier. Vgl. Dekret Nr. 1956-6 vom 06.01.1956, JORT Nr. 58 vom 20.07.1956, S. 1013 f.
  40. Bourguiba führte die drei bestehenden Frauenvereinigungen (darunter die UMFT) 1961 zu einer zusammen: Union der tunesischen Frauen (UNFT). Arfaoui, a.a.O., Fn. 37, S. 56.
  41. Laiadhi, a.a.O., Fn. 2, S. 244 ff.
  42. Moghadam, Tunisia, in: Women‘s rights in the Middle East and North Africa, Nazir/Tomppert (Hrsg.), 2005, S. 295-312 (307).
  43. Ab den 1990er Jahren kritisierten diese Vereinigungen zunehmend das Fehlen demokratischer und rechtsstaatlicher Bedingungen, gerade auch mit Blick auf das Fortbestehen der inegalitären Gesellschaft. Vgl. dazu Bessis, a.a.O., Fn. 11, S. 427; Abbas, a.a.O., Fn. 12, S. 370.
  44. Die staatliche Kontrolle der religiösen Angelegenheiten kombiniert mit der Verfolgung von Islamist:innen machte die Gründung religiös-orientierter Bewegungen nahezu unmöglich. Vgl. Debuysere, Tunisian women at the crossroads, Mediterranean Politics, 2015, Vol. 21, Nr. 2, S. 226-245 (230).
  45. Zur Entstehung: Muhanna, Islamic and Secular Women’s activism and discourses in post-uprising Tunisia, in: Rethinking Gender in Revolutions and Resistance, El Said/Meari/Pratt (Hrsg.), 2015, S. 438-496 (454 ff.). Die dichotome Untergliederung (säkular/islamisch) ist vereinfachend, lässt sich aber als Grobgliederung dennoch beibehalten. Sie wird teilweise durch die soziale und geografische Verteilung verstärkt. Dazu: Debuysere, a.a.O., Fn. 44, S. 227.
  46. Muhanna, a.a.O., Fn. 45, S. 454 ff.
  47. Überblick über einzelne Reformen: Laiadhi, a.a.O., Fn. 2, S. 251 ff.
  48. In Bezug auf Personen wird synonym auch „muslimisch“ bzw. Muslim:innen verwendet.
  49. Zutreffend: Abbas, a.a.O., Fn. 12, S. 21.
  50. Zeghal, Veiling and Unveiling Muslim Women, in: The Construction of Belief-Reflections on the Thought of Mohammed Arkoun, Abdou-Filali-Ansary/Esmail (Hrsg.), 2012, S. 127-149 (130 ff. m.w.N.).
  51. Ebd. S. 127, 129 f., 137.
  52. Ebd. S. 134.
  53. Murphy, a.a.O., Fn. 13, S. 188.
  54. Moghadam, 1994, S. 99 ff. zitiert nach Weber, a.a.O., Fn. 10, S. 13.
  55. Larguèche, Préface, in: Égalité de Genre et Transition Démocratique, 2013, S. 5-8 (6). Die Mehrheit der Tunesier:innen sehe das tunesische Sozialmodell als Produkt einer „glücklichen Ehe zwischen Islam und Moderne“.
  56. Charrad, a.a.O., Fn. 8, S. 1528.
  57. Abbas, a.a.O., Fn. 12, S. 393.
  58. Laiadhi, a.a.O., Fn. 2, S. 271 f.
  59. Im deutschen Kontext wurde das Konzept des Verfassungspatriotismus von Dolf Sternbeger und Jürgen Habermas geprägt. Dieses verdeutlicht, dass neben anderen Merkmalen der Identitätsstiftung (Flagge, Sprache) ein Nationalstolz bezogen auf die Verfassung hinzutreten kann. Sternberger, Verfassungspatriotismus, 1990; Habermas, Staatsbürgerschaft und nationale Identität, in: Faktizität und Geltung, Ders. (Hrsg.), 1992, S. 632 ff.
  60. Farris, In the name of women’s rights: the rise of femonationalism, 2017; Dies., Die politische Ökonomie des Femonationalismus, Feministische Studien, 2011, Vol. 29, Nr. 2, S. 321-333.
  61. Ebd. S. 322.
  62. Sana Ben Achour, Violences à l’égard des femmes: les lois du genre, 2016, S. 11.
  63. Zum „feministischen Rechtslobbying“: Abbas, a.a.O., Fn. 12, S. 371 f.
  64. Lieckefett, La Haute Instance, Confluences Méditerranée, 2012, Vol. 3, Nr. 82, S. 133-144 (135).
  65. Ghannouchi, L’évolution de l’Islam politique durant la Transition, in: La Constitution de la Tunisie, Processus, principes et perspectives, 2016, S. 173-182 (179).
  66. Vgl. Mission d’Observation électorale de l’UE en Tunesie, Rapport Final, Élection de l’ANC du 23 octobre 2011, 2011, S. 30 ; abrufbar unter: www.europarl.europa.eu/meetdocs/20092014/documents/dmag/dv/dmag2012012512/dmag2012012512_fr.pdf, zuletzt am 27.02.2022 aufgerufen. Siehe auch Draji/Elsadda/Klibi, Comparative Study on Constitutional Processes in the Arab World, 2017, S. 47.
  67. Bessis, a.a.O., Fn. 11, S. 136.
  68. Organgesetz 2014-14 vom 18.04.2014, JORT Nr. 32 vom 22.04.2014, S. 939 ff. Für einen Überblick über die Entscheidungspraxis: Chikhaoui-Mahdaoui, Le rôle de l’Instance Provisoire de controle de la constitutionnalité des projets de loi en période de transition, RJES, 2019, Vol. 2., Nr. 1, S. 39-75 (61 ff.).
  69. Democracy Reporting International, Analyse des rechtlichen Rahmens der Wahlen in Tunesien, 2017, S. 63, abrufbar unter https://beta.democracy-reporting.org/uploads/publication/5911/document/cadre-juridique-des-elections-fr-6102859310355.pdf, zuletzt am 27.02.2022 aufgerufen.
  70. Organgesetz 2017-58 vom 11.08.2017, JORT Nr. 65 vom 15.08.2017, S. 2604 ff. Das Gesetz wählt einen multidimensionalen Ansatz zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen. Vgl. Sana Ben Achour, a.a.O., Fn. 62, S. 94 ff.
  71. CREDIF, Les représentations sociales des violences faites aux femmes chez les hommes, jeunes et adultes, 2019, abrufbar unter: https://tunisia.unfpa.org/sites/default/files/pub-pdf/Etude_CREDIF_20_02_2019.pdf, zuletzt am 27.02.2022 aufgerufen.
  72. Siehe z.B. zum Anstieg geschlechtsspezifischer Gewalt und Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt aufgrund der Covid-Pandemie: Limam, «Une égalité en droit perfectible, une égalité de fait non encore acquise», L‘Economiste Maghrébin, 13.08.2021, abrufbar unter: www.leconomistemaghrebin.com/2021/08/13/par-jinan-limam-une-egalite-en-droit-perfectible-une-egalite-de-fait-non-encore-acquise/, zuletzt am 27.02.2022 aufgerufen.
  73. Mabrouk, 2011-2014, Le bras de fer, 2018, S. 208.