STREIT 2/2025

S. 90-91

VG Würzburg, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG

Flüchtlingseigenschaft für äthiopische Frau, die dem Volk der Tigray angehört

1. Weibliche Personen, die dem Volk der Tigray angehören, sind im Norden Äthiopiens als soziale Gruppe von sexualisierter Gewalt bedroht.
2. In Äthiopien existieren inländische Fluchtalternativen; es kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass eine Frau mit Kindern im Kleinkindalter und ohne soziales Netzwerk trotz abgeschlossener Berufsausbildung das Existenzminimum sichern kann.
(Leitsätze der Redaktion)

VG Würzburg, Urteil vom 02.07.2024 – W 3 K 22.30534

Zum Sachverhalt:
Die äthiopische Staatsangehörige, orthodoxe Christin und dem Volk der Tigray zugehörige Klägerin stellte einen Asylantrag und trug vor, dass sie aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit von Soldaten fast vergewaltigt und ihr kleiner Bruder getötet worden sei. Der Soldat habe ihr gedroht, sie bei seiner Rückkehr zu vergewaltigen.
Die Klägerin hat eine abgeschlossene Berufsausbildung als Krankenpflegerin und zwei Kinder im Kleinkindalter.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erkannte der Klägerin den subsidiären Schutz zu und lehnte den Antrag im Übrigen ab.

Aus den Gründen:
Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft […].
[…] Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Aufhebung der Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. Juli 2022, da sich der angegriffene Bescheid als rechtswidrig erweist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt, soweit mit dem Bescheid der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wurde (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwG0). [...]
Bei einer Rückkehr nach Äthiopien droht der Klägerin nach der Überzeugung der zur Entscheidung berufenen Einzelrichterin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 4 AsylG.
Eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe im Sinn dieser Vorschriften, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG). [...]

Ausgehend davon stellen Frauen, die dem Volk der Tigray zugehörig sind, eine bestimmte soziale Gruppe i. S. v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar, denen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dieser Gruppe eine Verfolgung in Form sexueller Übergriffe droht.
Die Erkenntnisquellen berichten von sexualisierten Gewalttaten in der Region Tigray. Insbesondere im Zuge des Konflikts in Tigray, der in der Nacht vom 3. November auf den 4. November 2020 begann, kam es häufig zu sexueller Gewalt gegenüber Frauen. Darüber hinaus wird davon berichtet, dass es in dem Regionalstaat Tigray auch nach dem im November 2022 geschlossenen Abkommen zur Beilegung der Feindseligkeiten gegenüber Frauen und Mädchen zu sexueller Gewalt mit der Folge von ungewollten Schwangerschaften und HIV-Infektionen durch militärische und paramilitärische Gruppen gekommen ist (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes Äthiopien, 11. September 2023, 25. September 2023, 23. Oktober 2023). Ebenso geht aus den Erkenntnismitteln hervor, dass die Konflikte im Norden Äthiopiens trotz des geschlossenen Friedensabkommens weiter anhalten und es in diesem Zusammenhang immer wieder zu Vergewaltigungen und sexueller Gewalt insbesondere gegenüber Frauen und Mädchen aus dem Volk der Tigray kommt, die ein alarmierendes Ausmaß erreicht haben (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Aktuelle Informationen zur Lage von Frauen, bzw. alleinstehender Frauen vom 25. Oktober 2023).

Die sexuellen Übergriffe auf Frauen und Mädchen erfolgen gerade aus dem Grund, weil sie weiblich sind. Diese Übergriffe betreffen damit unverhältnismäßig oft Frauen, womit geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen im Sinne des Art. 3 Buchstabe d) der Istanbul-Konvention vorliegt. Da nach Art. 60 Abs. 2 der Istanbul-Konvention und gemäß der EuGH-Rechtsprechung auch bei der Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) der Richtlinie 2011/95/EU eine geschlechtersensible Auslegung von Verfolgungsgründen erforderlich ist, kann diese Form geschlechtsspezifischer Gewalt nach Ansicht der Einzelrichterin nicht als bloßer Ausdruck eines unabhängig vom Geschlecht der Betroffenen bestehenden gewalttätigen Umfelds gesehen werden. Vielmehr ist dem gerade gegen Frauen als solche gerichteten Gewaltakt eine eigenständige Qualität beizumessen. Dem Erfordernis einer geschlechtssensiblen Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) der Richtlinie 2011/95/EU und damit auch des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG wird daher nur genügt, wenn Frauen, die in der Region Tigray leben, im Gegensatz zu Männern sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind, entsprechend dem oben ausgeführten als soziale Gruppe mit abgrenzbarer Identität angesehen werden.
Der Klägerin droht nach alldem bei einer Rückkehr in die Region Tigray mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung in Form von sexualisierter Gewalt.

Die Klägerin hat darüber hinaus nicht die Möglichkeit, sich dieser sexualisierten Gewalt zu entziehen, indem sie sich in einem anderen Teil des Landes niederlässt. Eine Möglichkeit internen Schutzes besteht für die Klägerin und ihre Familie, die in die Beurteilung mit einzubeziehen ist, nicht.[...]
Anhaltspunkte dafür, dass für Frauen wegen ihrer Geschlechterzugehörigkeit in ganz Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr der Vergewaltigung oder sexualisierter Gewalt besteht, liegen keine vor. Aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln geht zwar hervor, dass Frauen, die dem Volk der Tigray angehören, im Norden Äthiopiens von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind. Dies beschränkt sich jedoch nur auf den Norden des Landes, insbesondere den Regionalstaat Tigray.

Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Frauen aus dem Volk der Tigray in anderen Landesgebieten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Gefahr von Vergewaltigungen oder sexualisierter Gewalt droht.
Dennoch ist es der Klägerin nicht zumutbar, sich in einem anderen Landesteil wie beispielsweise in der Hauptstadt Addis Abeba niederzulassen und dort eine neue Existenz aufzubauen.
Die Frage der Zumutbarkeit der Niederlassung erfordert eine umfassende wertende Gesamtbetrachtung der allgemeinen wie der individuellen Verhältnisse unter Berücksichtigung der in § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG genannten Dimensionen. Hierbei sind auch und gerade die wirtschaftlichen Verhältnisse in den Blick zu nehmen, die der Ausländer am Ort der Niederlassung zu gewärtigen hat. Erforderliche, aber auch hinreichende Voraussetzung für die Niederlassung ist, dass das wirtschaftliche Existenzminimum auf einem Niveau gewährleistet ist, das eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt (BVerwG, U. v. 18.2.2021 – 1 C 4/20 – juris).

Aufgrund der allgemeinen Wirtschaftslage in Äthiopien wird die Klägerin nach der Überzeugung des Gerichts [nicht] in der Lage sein, für sich und ihre Familie ohne ein soziales Netzwerk ein zumutbares Existenzminimum zu erwirtschaften. Es ist davon auszugehen, dass die Klägerin mit ihrem Lebensgefährten und ihren beiden zum einen knapp zwei Jahre alten und zum anderen vier Monate alten Kindern nach Äthiopien zurückkehren wird. Die Mutter der Klägerin lebt nach den glaubhaften Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung in Alamata in der Region Tigray, die übrige Familie über die Region Tigray verteilt, sodass die Klägerin nicht zu ihrer Familie zurückkehren kann.

Insbesondere Familien mit mehreren Kindern können von der in Äthiopien vorherrschenden Lebensmittelknappheit besonders betroffen sein (BayVGH, B. v. 12.9.2023 – 23 ZB 23.30669 – juris Rn. 17). Dies gilt vor allem dann, wenn die Betroffenen wie im vorliegenden Fall nicht auf den Rückhalt der (Groß-)Familie zurückgreifen können. Zwar verfügt die junge und arbeitsfähige Klägerin über eine abgeschlossene Berufsausbildung als Krankenschwester und konnte in diesem Beruf bereits vor ihrer Ausreise aus Äthiopien Berufserfahrung sammeln. Dennoch wird es ihr aufgrund der erforderlichen Betreuung der ihrer beiden, sich noch im Kleinkindalter befindenden Kinder, ohne den Rückgriff auf ein soziales Netzwerk nicht möglich sein, ihren Lebensunterhalt zu sichern und zeitgleich die für die Kinder erforderliche Betreuung sicherzustellen.
Insgesamt kann daher von der Klägerin aufgrund ihrer persönlichen Situation nicht vernünftigerweise erwartet werden, dass diese sich in einer größeren Stadt oder einem anderen Ort außerhalb ihrer Ursprungsregion niederlässt und ohne familiären Rückhalt ihre Existenz sichert.
Nach alldem ist der Klage stattzugeben. [...]