STREIT 2/2025
S. 89-90
VG Stuttgart, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG
Flüchtlingseigenschaft für im Irak von Genitalverstümmelung bedrohtes Mädchen
1. Geschiedene und alleinstehende Frauen mit mehreren Kindern sind auf die Unterstützung ihrer Familien angewiesen, so dass sie nicht in der Position sind, sich dem familiären Druck, ihre Töchter beschneiden zu lassen, zu widersetzen.
2) Trotz eines seit 2011 bestehenden Verbotsgesetzes im Irak gilt die weibliche Genitalverstümmelung in der breiten Gesellschaft weiterhin als religiöse und moralische Pflicht.
(Leitsätze der Redaktion)
Urteil des VG Stuttgart vom 19.01.2024, A 2 K 2161/22
Zum Sachverhalt:
Bei der Klägerin handelt es sich um eine am 25.09.2021 in Deutschland geborene irakische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Die Asylanträge der Eltern wurden bestandskräftig abgelehnt, für die Klägerin wurde ein Asylverfahren nach § 14a Abs. 2 AsylG eingeleitet. Bei der Anhörung durch das Bundesamt gab die Mutter der Klägerin an, dass sie selbst beschnitten worden sei und sie nicht möchte, dass das ihren Töchtern widerfahre.
Der Vater der Klägerin trägt vor, dass er nicht wisse, ob er seine Tochter beschneiden lassen solle, er müsste dazu erst einmal mit einem Mullah sprechen, ob das eine religiöse Pflicht sei. Seine Eltern hätten bereits angefragt, wann er sie beschneiden lassen werde. Bei seiner Nichte im Irak sei gegen den Willen der Eltern durch die Großmutter eine Beschneidung durchgeführt worden. Dies sei nicht angezeigt worden, weil es Teil der Religion sei.
Das Bundesamt lehnte den Asylantrag daraufhin als offensichtlich unbegründet ab.
Im Klageverfahren hat die Klägerin geltend gemacht, dass sich ihr Vater von ihrer Mutter getrennt habe und er unbekannten Aufenthalts sei. Bei einer Rückkehr sei zu befürchten, dass die Familie des Vaters die Klägerin unter ihre Kontrolle bringen werde; dann habe ihre Mutter überhaupt keine Möglichkeit mehr, die Klägerin zu schützen, wenn die Familie des Vaters eine Beschneidung durchführen lassen wolle.
Aus den Gründen:
[…] Die Klägerin hat Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen […].
[D]as Gericht [ist] nach Anhörung der Mutter der Klägerin zu der Überzeugung gelangt, dass bei ihrer heutigen Rückkehr in den Norden des Iraks, in die Region Kurdistan-Irak (im Folgenden: RKI) eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung beachtlich wahrscheinlich wäre. Insbesondere droht ihr die Gefahr einer Genitalverstümmelung, mithin einer auf ihre Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der unbeschnittenen Frauen abzielende Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3a Abs. 2 Nr. 6, § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbsatz AsylG; vgl. BVerwG, Urt. v. 19.04.2018 – 1 C 29.17 – juris; VG Dresden, Urt. v. 02.03.2021 – 13 K 2665/18.A, – juris; VG München, Urt. v. 11.03 2020 – M 19 K 16.33362 – juris).
Die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung ist gerade im kurdischen Norden des Iraks verbreitet. Seit dem Jahr 2011 stellt ein Gesetz in der Autonomen Region Kurdistan die Genitalverstümmelung unter Strafe; gleichwohl wird sie in der Praxis aber weiterhin betrieben, auch wenn ihre Verbreitung sinkt. Ausweislich einer Studie aus dem Jahr 2018 sind in der Provinz Erbil – aus der die Eltern der Klägerin stammen – rund 47 % der Frauen beschnitten, in der RKI insgesamt rund 38 %. Allerdings wird eine Genitalverstümmelung in jüngeren Generationen seltener durchgeführt. Insgesamt wurde bei 3,2 % der Mädchen bis 15 Jahre in der RKI eine Form von Genitalverstümmelung festgestellt (BAMF, Länderanalyse Irak: Geschlechtsspezifische Gewalt, 01.05.2023, S. 8; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation: Irak, 22.08.2022, S. 201/202).
Die Mutter der Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung für das Gericht glaubhaft und überzeugend darlegen können, dass für die Tochter die Gefahr einer Genitalverstümmelung ernsthaft droht, und zwar aus verschiedenen Richtungen.
Zum einen habe der Vater der Klägerin, der sich mit dem Thema bis dahin noch gar nicht beschäftigt hatte, bei seiner eigenen Mutter angefragt, und diese habe ihn gedrängt, die Tochter beschneiden zu lassen. Sie habe sich erst damit beschwichtigen lassen, dass diese Praxis in Deutschland verboten sei und – im Gegensatz zum Irak – auch verfolgt und streng bestraft werde. Im Irak würden sie dieses Argument aber sicherlich nicht gelten lassen, was man schon daran sehe, dass die Tochter eines Onkels der Klägerin auf Initiative der Großeltern ebenfalls beschnitten worden sei. Das sei geschehen, als das Kind nicht bei der Mutter, sondern in der Obhut der Großeltern gewesen sei. […]
Wenn man an dieser Schilderung Zweifel haben mag, weil sie zu einem großen Teil auf Hörensagen aus Telefongesprächen beruht, ist aber dennoch eine ernstzunehmende Gefährdung durch die Familie der Klägerin mütterlicherseits anzunehmen. Dass in dieser Familie die Beschneidung von Töchtern als religiöse und sittliche Pflicht angesehen wurde, ist schon daran deutlich zu sehen, dass die Mutter der Klägerin selbst beschnitten worden ist, was durch ärztliches Zeugnis belegt ist. Ihre Schilderung, dass die eigene Großmutter diese Beschneidungen durchgeführt habe, ist für das Gericht glaubhaft und lässt ernsthaft befürchten, dass die Großeltern der Klägerin eine Bescheidung der Enkeltochter ebenso befürworten würden wie sie es einst bei ihrer Tochter für richtig gehalten haben.
Anders als im Bescheid des Bundesamtes angenommen kann man auch nicht ernsthaft davon ausgehen, dass die Mutter und der Vater der Klägerin sich im Irak der Forderung nach einer Beschneidung der Klägerin entgegenstellen und sie davor bewahren würden, wie es auch bei den älteren Geschwistern der Klägerin noch der Fall gewesen ist: Auf den Vater der Klägerin als Beschützer kann schon deswegen nicht mehr gebaut werden, weil er sich mittlerweile von der Mutter der Klägerin und seinen Töchtern getrennt hat und sich in Großbritannien aufhalten soll. Zur mündlichen Verhandlung ist er jedenfalls nicht erschienen.
Unter diesen Umständen kann das Gericht nicht unterstellen, dass die Klägerin in Begleitung ihres Vaters und ihrer Mutter in den Irak zurückkehren würde. Es wäre allenfalls damit zu rechnen, dass die Klägerin zusammen mit ihrer Mutter und den weiteren Geschwistern nach Erbil zurückkehren würde, wo die Familie der Mutter lebt. Als geschiedene und alleinstehende Frau mit mehreren Kindern wäre die Mutter dort aber jedenfalls darauf angewiesen, dass sie von ihren eigenen Eltern wieder aufgenommen und finanziell unterstützt würde; damit wäre sie keinesfalls in der Position, einem Drängen der Familie auf eine Beschneidung der Klägerin (und ihrer jüngeren Schwester) Widerstand entgegen zu setzen und sich von der Familie zu distanzieren, wie sie es bei den älteren Töchtern mit einem Ehemann an der Seite noch möglich gewesen sein mag. […]
Mitgeteilt von RAin Ursula Damson-Asadollah, Stuttgart