STREIT 3/2021
S. 132-134
VG Würzburg, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG
Flüchtlingsanerkennung für Afghanin, die eine Gruppenvergewaltigung erst vor Gericht offenbart
1. Für die Glaubhaftigkeit des Vorbringens ist auch eine objektiv erhebliche Steigerung im Sachvortrag in der mündlichen Verhandlung – hier: Bericht über eine Vergewaltigung – unschädlich, wenn die Umstände, die zur Verzögerung geführt haben, nachvollziehbar begründet werden können.
2. Allein Frauen droht in Afghanistan regelmäßig sexuelle Gewalt, so dass es sich um eine frauenspezifische Verfolgung handelt, die landesweit gilt.
3. Frauen bilden eine soziale Gruppe, die aufgrund der kulturellen und religiösen Gepflogenheiten in der strikt patriarchalisch geprägten Gesellschaft Afghanistans tiefgreifend diskriminiert werden und eine deutlich abgegrenzte Identität haben sowie von der sie umgebenden (männlichen) Bevölkerung als andersartig betrachtet werden.
4. Frauen, die ohne männliche Begleitung das Haus verlassen, gehören zu den besonders gefährdeten Untergruppen der Frauen. Der Umstand, dass Frauen überhaupt eigenständig ihre Familienwohnung verlassen können und über eine gewisse Bewegungsfreiheit verfügen, ist hierbei als bedeutsamer Teil des Rechts auf Selbstbestimmung anzusehen und damit als grundlegendes Menschenrecht zu qualifizieren. Aufgrund der sehr hohen identitätsstiftenden Bedeutung einer eigenständigen Lebensführung können Frauen nicht i.S.d. § 3b Nr. 4a) AsylG gezwungen werden, hierauf zu verzichten.
(Leitsätze der Redaktion)
Urteil des VG Würzburg vom 20.02.2018 – W 1 K 16.32644
Zum Sachverhalt:
Die Klägerin ist afghanische Staatsangehörige und hat zwei Kinder. Von ihrem Ehemann wurde sie auf der Flucht unfreiwillig getrennt und hat erst seit kurzem wieder Kontakt zu ihm. In der Anhörung beim Bundesamt berichtete die Klägerin, dass konkreter Anlass für die Ausreise gewesen sei, dass ca. einen Monat vor dem Verlassen des Heimatlandes nachts bewaffnete Personen in ihr Haus eingedrungen seien und sie hätten ausrauben wollen; sie seien dann auch zusammengeschlagen worden. Auch beim Einkaufen in der Stadt sei sie immer wieder von fremden Männern begrabscht und aufgefordert worden, mit ihnen mitzukommen. Erst in der mündlichen Verhandlung berichtete sie von der Vergewaltigung.
Die Beklagte lehnte den Asylantrag der Klägerin hinsichtlich der Erteilung der Flüchtlingseigenschaft bzw. des subsidiären Schutzes ab und stellte lediglich fest, dass bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt.
Aus den Gründen:
[…] Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1, Abs. 4 AsylG. […]
1.a) Die Klägerin hat vorliegend in der mündlichen Verhandlung substantiiert, detailreich und lebensnah geschildert, dass sie […] von neun verschiedenen Männern über Nacht festgehalten und von diesen vergewaltigt [wurde] […]. Sie sei dabei fast ohnmächtig geworden. Zum Schluss hätten sie ihr eingeschärft, dass sie von dem Vorfall keinesfalls der Polizei oder sonstigen Dritten berichten dürfe. Andernfalls sei ihr angedroht worden, dass sie erneut entführt würde und ihre Kinder ebenfalls. Wegen dieser Drohung, aber auch aus großer Scham und aus Angst, aufgrund der kulturellen Gepflogenheiten in Afghanistan von ihrem Mann aufgrund des Vorfalls verstoßen zu werden, habe sie niemandem davon berichten können. […]
Die Klägerin hat auf den erkennenden Einzelrichter in der mündlichen Verhandlung einen in jeder Hinsicht glaubwürdigen und überzeugenden persönlichen Eindruck gemacht. […] [F]ür die Glaubwürdigkeit der Klägerin [spricht] auch die Tatsache, dass diese unmittelbar nach Schluss der mündlichen Verhandlung noch im Sitzungssaal – offensichtlich unter dem Eindruck ihrer Aussage – kollabiert und bewusstlos geworden ist und notärztlich behandelt werden musste.
Der Glaubhaftigkeit des Vorbringens der Klägerin steht vorliegend insbesondere auch nicht entgegen, dass sie vor dem Bundesamt von dem zentralen Ereignis ihrer Vergewaltigung durch mehrere Männer noch nichts berichtet hat. Diese zwar objektiv erhebliche Steigerung im Sachvortrag hat die Klägerin nämlich zur Überzeugung des Gerichts in jeder Hinsicht nachvollziehbar begründen können. Auf entsprechenden Vorhalt des Gerichts hat die Klägerin insoweit erklärt, dass sie sich seinerzeit sehr für den Vorfall geschämt habe und dass sie insbesondere nicht davon überzeugt gewesen sei, dass der Dolmetscher beim Bundesamt die Angelegenheit für sich behalte; sie habe kein Vertrauen zu diesem gehabt und befürchtet, dass ihre Familie über diesen von dem Vorfall erfahre, was sie unter allen Umständen habe vermeiden wollen, um ihre Familie zu erhalten. Erst im Nachgang zur Bundesamtsanhörung habe sie sich in einem Sprachkurs einer Freundin geöffnet und diese habe ihr dringend angeraten, nunmehr vor Gericht über den Vorfall zu berichten. Sie habe ihr auch erklärt, dass in Deutschland die Verfahrensbeteiligten zur Verschwiegenheit verpflichtet seien. Angesichts der außerordentlichen Schwere des erlittenen Schicksals erscheint es auch verständlich, dass sich die Klägerin erst mit einem zeitlichen Verzug überhaupt einer weiblichen Bezugsperson geöffnet hat und diese ihr dann über den Verfahrensablauf in Deutschland berichtet und ihr eingeschärft hat, trotz ihrer Scham und ihrer Ängste über das Vorgefallene zu berichten.
Hiermit in Einklang steht auch, dass die Klägerin zu Beginn ihrer informatorischen Befragung in der mündlichen Verhandlung zunächst erst über die allgemein schwierige Situation in Afghanistan berichtet hat und die Vergewaltigung erst dann angesprochen hat, nachdem ihre Söhne den Sitzungssaal verlassen hatten. Die Klägerbevollmächtigte hat überdies in diesem Zusammenhang glaubhaft erklärt, dass auch sie von dem Vorfall bislang keine Kenntnis gehabt habe, es jedoch bei Unterredungen mit der Klägerin in der Kanzlei so gewesen sei, dass stets männliche Mitglieder der erweiterten Familie als Dolmetscher mit anwesend gewesen seien. Die Klägerin konnte auch logisch nachvollziehbar darstellen, wie sie ihr Ausbleiben über Nacht (in Folge der Entführung und Vergewaltigung) gegenüber ihrem Ehemann erklärt hat; nämlich dahingehend, dass sie diesem wahrheitswidrig gesagt habe, dass sie an ihrer gelegentlichen Arbeitsstelle als Köchin in einem Hotel sehr viel zu tun gehabt habe und daher lange gearbeitet und schließlich dort geschlafen habe. Ihr Mann habe ihr dies abgenommen. Dieser Vortrag steht zudem in Einklang mit der Aussage der [Klägerin] vor dem Bundesamt, wonach sie neben ihrer Heimarbeit als Näherin auch ein- bis zweimal im Monat in einem Hotel gekocht habe. Vom Gericht darauf angesprochen, warum sie vor dem Bundesamt berichtet habe, dass sie in Afghanistan von anderen Männern begrabscht worden sei, hat sie nachvollziehbar erläutert, dass sie damit habe andeuten wollen, was ihr tatsächlich passiert sei. Sie habe aber damals aus den oben genannten Gründen noch nicht mehr sagen können.
b) Die Aussagen der Klägerin stehen überdies mit der Erkenntnismittellage zu Afghanistan in Einklang. Danach wird Afghanistan für Frauen und Mädchen einhellig weiterhin als sehr gefährliches Land betrachtet. Denn dort sei sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt, wie sie die Klägerin erlebt hat, weit verbreitet. Die Gewalttaten reichten von Körperverletzungen und Misshandlungen über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigungen und Mord. […]
2. Die glaubhaft geschilderte Massenvergewaltigung durch neun Männer stellt unzweifelhaft eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1, Nr. 6 AsylG dar.
3.a) Darüber hinaus wurde die Klägerin auch wegen des Verfolgungsgrundes der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG in ihrem Heimatland verfolgt, wobei eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn diese allein an das Geschlecht anknüpft, § 3b Abs. 1 Nr. 4 3. Hs. AsylG. […] Die Klägerin wurde hier als Zugehörige zur sozialen Gruppe der Frauen verfolgt, die aufgrund der kulturellen und religiösen Gepflogenheiten in der strikt patriarchalisch geprägten Gesellschaft Afghanistans tiefgreifend diskriminiert werden und eine deutlich abgegrenzte Identität haben sowie von der sie umgebenden (männlichen) Bevölkerung als andersartig betrachtet werden, zumal die Klägerin überdies zu derjenigen – besonders gefährdeten – Untergruppe der Frauen gehört hat, die ohne männliche Begleitung das Haus verlassen hat und allein damit in den Augen vieler konservativ eingestellter afghanischer Männer gegen die kulturellen und religiösen Gebräuche ihres Heimatlandes verstoßen hat.
Der Umstand, dass Frauen überhaupt eigenständig ihre Familienwohnung verlassen können und über eine gewisse Bewegungsfreiheit verfügen, ist hierbei als bedeutsamer Teil des Rechts auf Selbstbestimmung anzusehen und damit als grundlegendes Menschenrecht zu qualifizieren. Frauen sollten daher aufgrund der sehr hohen identitätsstiftenden Bedeutung einer eigenständigen Lebensführung nicht i.S.d. § 3b Nr. 4a) AsylG gezwungen werden, hierauf zu verzichten. Regelmäßig droht (abgesehen von dem schädlichen Brauch des „Bacha Bazi“ gegenüber minderjährigen Jungen) allein Frauen in Afghanistan sexuelle Gewalt, so dass es sich um eine frauenspezifische Verfolgung handelt.
b) Aus dem vorstehend Ausgeführten ergibt sich bereits die erforderliche kausale Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und dem Verfolgungsgrund, § 3a Abs. 3 AsylG, wofür auch ein Zusammenhang im Sinne einer bloßen Mitverursachung ausreichend ist (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Bd. 3, § 3a AsylG Rn. 41). Die Klägerin war gerade deshalb der eingetretenen Verfolgungshandlung in Form einer sehr schwerwiegenden Verletzung ihres Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung ausgesetzt, da sie weiblichen Geschlechts ist und Frauen in der afghanischen Gesellschaft ein nur sehr untergeordneter Stellenwert zukommt, so dass diese – gerade ohne männlichen Schutz in der Öffentlichkeit – letztlich für viele Männer als „Freiwild“ gelten. Darüber hinaus fehlt es für Frauen, die sich in Afghanistan in der Öffentlichkeit bewegen, auch an effektivem und wirksamem Schutz vor sexueller Gewalt. Dieses Fehlen von Schutz ist gleichfalls kausal mit dem weiblichen Geschlecht verknüpft und hierbei insbesondere auf die tief in der afghanischen Gesellschaft verwurzelte Diskriminierung gegenüber Frauen zurückzuführen, § 3a Abs. 3 2. Alt. AsylG.
c) Diese Einschätzung lässt sich der Erkenntnismittellage zu Afghanistan entnehmen, wonach es trotz einer Verbesserung der Situation der Frauen seit dem Ende der Talibanherrschaft an der praktischen Umsetzung ihrer gesetzlich garantierten Rechte mangele; Gesetze zum Schutz von Frauenrechten würden nur langsam umgesetzt, insbesondere das Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen (EVAW-Gesetz). Den Behörden fehle Berichten zufolge der politische Wille, das Gesetz umzusetzen. […]
4. Angesichts der vorstehend festgestellten Vorverfolgung der Klägerin kommt dieser die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie zugute.
[…] Insbesondere ist ein [stichhaltiger Grund gegen die Beweiserleichterung] nicht darin zu erblicken, dass die Klägerin in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, nunmehr seit einem Monat nach längerer Zeit wieder zweimal telefonischen Kontakt mit ihrem Ehemann gehabt zu haben, welcher sich aktuell wieder in Afghanistan aufhalte. Denn zum einen hat dieser angekündigt, dass er aktuell gedenke, von Kabul nach Herat zu gehen, so dass keineswegs sichergestellt ist, dass die Klägerin ihren Ehemann in Afghanistan wieder antreffen würde. Überdies ist die in Afghanistan allgegenwärtige Gefahr schwerwiegender sexueller Übergriffe auch dann fortbestehend, wenn die Klägerin grundsätzlich unter dem Schutz ihres Ehemannes steht, wie der schwerwiegende Vorfall vor ihrer Ausreise aus Afghanistan gezeigt hat. […]
5. Auf Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG durch den afghanischen Staat kann die Klägerin nicht verwiesen werden, da dieser erkennbar nicht in der Lage ist, für die Sicherheit der Klägerin zu sorgen. Die Polizei und die Sicherheitskräfte sind in Afghanistan vielmehr allgemein nicht in der Lage, wirksamen Schutz vor Verfolgung zu bieten. Wegen des schwachen Verwaltungs- und Rechtswesens bleiben Menschenrechtsverletzungen häufig ohne Sanktionen (vgl. etwa Lagebericht des Auswärtigen Amtes, 19.10.2016, S. 5, 17). […] Die zuständigen staatlichen Akteure sind weder in der Lage noch gewillt, Frauenrechte wirksam durchzusetzen und eine effektive Strafverfolgung zu bieten. Vielmehr sehen sich von sexueller Gewalt betroffene Frauen überdies gar der Gefahr ausgesetzt, nicht als Opfer, sondern als Täter behandelt zu werden, wenn sie sich an die zuständigen Sicherheitsorgane wenden. Der damit derzeit in Afghanistan bestehende Zustand kann nicht als wirksamer und dauerhafter Schutz vor Verfolgung i.S.d. § 3d Abs. 2 Satz 1 AsylG angesehen werden.
6. Schließlich kann die Klägerin auch nicht auf internen Schutz nach § 3e AsylG verwiesen werden. […]
[E]s ist aus der Erkenntnismittellage nicht ersichtlich, dass es in Afghanistan eine Stadt oder Region gibt, in der keine tiefgreifende Diskriminierung von Frauen existiert und das Vorkommen von Gewalttaten verschiedenster Art gegenüber Frauen, insbesondere sexueller Natur, hinreichend sicher ausgeschlossen ist. Vielmehr droht der Klägerin geschlechtsspezifische Verfolgung landesweit. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die Klägerin selbst in der für afghanische Verhältnisse eher fortschrittlichen Stadt Kabul Opfer einer geschlechtsspezifischen Verfolgung geworden, so dass dies erst recht in allen anderen noch geringer entwickelten Landesteilen zu befürchten steht.
Überdies könnte von der Klägerin auch vernünftigerweise nicht erwartet werden, dass sie sich andernorts in Afghanistan niederlässt. Denn für die Klägerin als alleinstehender Frau ohne jegliche Bildung ist es landesweit undenkbar, dass sie für ihren erforderlichen Lebensunterhalt selbstständig sorgen kann. Dies gilt umso mehr unter Berücksichtigung ihrer beiden minderjährigen Kinder, mit denen sie bei lebensnaher Auslegung nach Afghanistan zurückkehren würde und die sie dort zu versorgen hätte. Aber selbst unter Einbeziehung des Ehemanns der Klägerin (so sie diesen in Afghanistan wiederfinden würde) wäre der Klägerin vorliegend eine interne Schutzmöglichkeit nicht zuzumuten, da die Familie über zwei minderjährige Kinder verfügt und sie ihr seinerzeitiges Vermögen in Form eines Lebensmittelladens in Kabul für die Aufbringung der Fluchtkosten veräußert hat, so dass relevantes Vermögen nicht mehr vorhanden ist (vgl. BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.30030 – juris). Nach alledem sprechen hinsichtlich der vorverfolgt ausgereisten Klägerin keine stichhaltigen Gründe im Sinne des Art. 4 Abs. 4 der EU-Qualifikationsrichtlinie dafür, dass sie an irgendeinem anderen Ort in Afghanistan außerhalb ihres Herkunftsortes Kabul vor einer erneuten geschlechtsspezifischen Verfolgung sicher wäre. Der Klage war daher stattzugeben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. […]
Hinweis der Redaktion:
Vgl. auch das Urteil zu geschlechtsspezifischer Verfolgung in Afghanistan in STREIT 1/2018, VG München, Urteil vom 25.04.2017 – M 26 16.34294.