STREIT 3/2017

S. 140-141

VG Stuttgart, §§ 3 Abs. 1, 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, 3 b Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2, 3c Nr. 3 AsylG

Flüchtlingseigenschaft für Frauenrechtsaktivistin aus Afghanistan

1) Eine Frau, die wegen ihres Engagements für Frauenrechte von Angehörigen der Taliban bedroht und vergewaltigt wurde, ist vorverfolgt ausgereist.
2) Droht ihr bei einer Rückkehr weitere Verfolgung seitens der Taliban und auch seitens ihres Ehemannes, von dem sie sich scheiden lassen will, hat sie einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
3) Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellung nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen.
(Leitsätze der Redaktion)

Urteil des VG Stuttgart vom 25.11.2016, A 1 K 5444/17

Aus den Gründen:
Die Klägerin, eine afghanische Staatsangehörige paschtunischer Volkszugehörigkeit, reiste am 03.10.2013 auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein und beantragte am 16.10.2013 ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Zur Begründung gab die Klägerin bei ihrer persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 01.02.2016 im Wesentlichen an, sie habe vor der Ausreise bei ihrer Familie in Kunduz gelebt. Sie habe zu ihren Eltern keinen Kontakt mehr, weil sie sich von ihrem Ehemann scheiden lassen wolle, womit ihre Eltern nicht einverstanden seien. Sie hatten sie nach Deutschland geschickt, damit sie sicher vor den Taliban sei und nicht, damit sie sich scheiden lasse.
Sie habe ein Kunststudium abgeschlossen und von 2011 bis 2013 ein Jurastudium bis zum 5. Semester absolviert. Das Studium habe sie abbrechen müssen, weil sie von den Taliban bedroht worden sei. Sie habe sich für die Menschenrechte, insbesondere für Frauenrechte engagiert und habe dann zwei Drohbriefe erhalten. Ausgereist sei sie, weil die Taliban ihren Ehemann entführt und sie vergewaltigt hätten.
lhr Mann habe mitbekommen, dass sie in Deutschland eine Beziehung zu einem anderen Mann gehabt habe. Er habe ihr gedroht, sie zu zerstückeln und zu töten. Möglicherweise drohe ihr bei einer Rückkehr auch die Steinigung wegen Ehebruchs. Sie wolle als Frau ihre Rechte haben und frei leben. Dies sei in Afghanistan nicht möglich.
Mit Bescheid vom 22.08.2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der Klägerin den subsidiären Schutzstatus zu (1.) und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab (2.).
[…]

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG, weil sie in Afghanistan geschlechtsspezifische Verfolgung seitens nichtstaatlicher Akteure erlitten hat, ihr bei einer Rückkehr erneute Verfolgung droht und der afghanische Staat ihr keinen Schutz bieten kann.
[…] Das Gericht hat – wie bereits auch das Bundesamt – die Überzeugung gewonnen, dass die Angaben zu ihrem Verfolgungsschicksal der Wahrheit entsprechen.
Die Klägerin, die wegen ihres Engagements für Frauenrechte von Angehörigen der Taliban zunächst bedroht und dann vergewaltigt wurde, ist vorverfolgt ausgereist. Bei einer Rückkehr droht ihr weitere Verfolgung seitens der Taliban und auch seitens ihres Ehemannes, von dem sie sich scheiden lassen will. Hiervon ist auch das Bundesamt bereits ausgegangen, hat allerdings die falschen rechtlichen Schlüsse gezogen und ihr zu Unrecht lediglich den subsidiären Schutzstatus zuerkannt. Die Verfolgungshandlungen zielten – was ihre Vergewaltiger auch zum Ausdruck brachten – auf ihr Engagement für die Gleichberechtigung der Frau. Sie wurde explizit als Ungläubige beschimpft und ihr wurde vorgehalten, die Frauen vom rechten Weg abgebracht zu haben. Ihrem Mann wurde bei seiner Freilassung aufgetragen, sie zurückzuholen, damit er den Taliban gegenüber beweisen könne, dass sie eine gläubige moslemische Frau sei.

Der afghanische Staat bietet der Klägerin keinen Schutz vor dieser flüchtlingsrelevanten Verfolgung. Zwar hat sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft erheblich verbessert, doch bleibt die vollumfängliche Realisierung ihrer Rechte innerhalb der konservativ-islamischen afghanischen Gesellschaft schwierig. Die konkrete Situation von Frauen unterscheidet sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark.
Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen.
Gesetze zum Schutz und zur Forderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit. Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90 % innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzungen und Misshandlungen über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigungen und Mord. Es trifft Frauen aber auch im Arbeitskontext: So sind z. B. Polizistinnen massiven Belästigungen und auch Gewalttaten durch Arbeitskollegen oder im direkten Umfeld ausgesetzt. Insbesondere durch die Verabschiedung des Gesetzes zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, das ,,Eliminating Violence Against Women (EVAW)“ Gesetz, im Jahre 2009 wurde eine wichtige Grundlage geschaffen, Gewalt gegen Frauen – inklusive der weit verbreiteten häuslichen Gewalt – unter Strafe zu stellen. Das durch Präsidialdekret erlassene Gesetz wird jedoch besonders außerhalb der Städte weiterhin nur unzureichend umgesetzt. Eine Verabschiedung des EVAW-Gesetzes durch beide Parlamentskammern steht weiterhin aus und birgt die Gefahr, dass die Inhalte verwässert werden.
Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den ,,Familienfrieden“ durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen. Darüber hinaus geschieht es immer wieder, dass Frauen, die entweder eine Straftat zur Anzeige bringen oder aber von der Familie aus Gründen der ,,Ehrenrettung“ angezeigt werden, wegen sog. Sittenverbrechen wie z.B. ,,zina“ (außerehelicher Geschlechtsverkehr) im Fall einer Vergewaltigung verhaftet oder wegen ,,Von-zu-Hause­ Weglaufens“ (kein Straftatbestand, aber oft als Versuch der zina gewertet) inhaftiert werden.
Das Schicksal von Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, ist bisher ohne Perspektive. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt. Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich (vgl. zum Ganzen: AA, Lagebericht Afghanistan vom 19.10.2016).
Bei dieser Sachlage kann die Klägerin, die auch zu ihrer Familie nicht zurückkehren kann, keinen staatlichen Schutz vor der erlittenen und weiterhin drohenden Verfolgung erlangen.