STREIT 4/2023

S. 178-180

VG Stuttgart, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG

Flüchtlingseigenschaft für lesbische Iranerin

Die lesbische Klägerin hat begründete Furcht, bei einer Rückkehr in den Iran in schwerwiegend menschenrechtsverletzender Weise zum Opfer staatlicher psychischer und physischer Gewalt wegen ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der homosexuellen Personen zu werden.
(Leitsatz der Redaktion)

Urteil VG Stuttgart vom 12.01.2022 – A 11 K 4437/19

Zum Sachverhalt:
Die Klägerin trägt vor, lesbisch zu sein und ihre Sexualität auf heimlichen Partys mit anderen Frauen ausgelebt zu haben. Sie sei dort heimlich gefilmt worden und als sich die Klägerin wenige Tage später in Griechenland aufgehalten habe, habe sie von ihrer Schwester erfahren, dass die Polizei mit einem Haftbefehl gegen sie gekommen sei und die Wohnung durchsucht worden sei. Der Familie wurden auf der Polizeistation Nacktfotos von der Klägerin gezeigt.

Aus den Gründen:
[…] Die Klage hat Erfolg, […] denn die Voraussetzungen des Anspruchs der Klägerin auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft liegen vor […].
Zwar ist die Klägerin nicht vorverfolgt aus dem Iran ausgereist, sodass nicht zu ihren Gunsten die Vermutung aus Artikel 4 Absatz 4 der Richtlinie 2011/95/EU zur Anwendung kommt, allerdings hat die Klägerin ungeachtet dessen begründete Furcht, bei einer Rückkehr in den Iran in schwerwiegend menschenrechtsverletzender Weise zum Opfer staatlicher psychischer und physischer Gewalt wegen ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der homosexuellen Personen zu werden, § 3a Absatz 1 Nr. 1, Absatz 2 Nr. 1 und 2, § 3b Absatz 1 Nr. 4, § 3c Nr. 1 AsylG, ohne dass ihr dagegen anderweitig wirksam Schutz gewährt werden könnte, §§ 3d und 3e AsylG.
Die Klägerin hat zur vollen Überzeugung des Gerichts glaubhaft gemacht, dass sie homosexuell ist. Die Klägerin machte einen aufrichtigen und authentischen Eindruck auf den Berichterstatter; in keiner Weise wirkten ihre Aussagen asyltaktisch motiviert. Sie schilderte dem Gericht umfassend, detailreich und ohne ihre Emotionen zu verbergen, wie sie als Jugendliche und Heranwachsende innere Konflikte in einem Land austrug, in dem nicht nur Homosexualität, sondern Gespräche über Sexualität allgemein tabuisiert sind.
Ihr Vortrag ist in Anbetracht der dem Gericht vorliegenden Erkenntnisse über den gesellschaftlichen und innerfamiliären Umgang mit homosexuellen Menschen im Iran plausibel: Allgemein akzeptiert die iranische Gesellschaft lesbische Frauen nicht (vgl. United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note Iran: Sexual orientation and gender identity or expression, Juni 2019, S. 8, mehr dazu unten). Eine beträchtliche Anzahl von Lesben, Schwulen und Transgendern berichtet, dass sie aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität verschiedenen Formen von Missbrauch durch ihre Familienmitglieder ausgesetzt war. Dazu gehörten Schläge und Auspeitschungen sowie Formen des psychischen Missbrauchs wie erzwungene Isolation von Freunden und der Gesellschaft, Vernachlässigung und Verlassen werden, verbale Beleidigungen und Todesdrohungen (United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note Iran: Sexual orientation and gender identity or expression, Juni 2019, S. 25). Auch im Einzelnen ist das Gericht überzeugt von dem Bericht der Klägerin. Lebhaft und nachvollziehbar berichtete sie, ihre beste Freundin nicht nur als solche gemocht, sondern in sie verliebt gewesen zu sein, ebenso wie auch deren erste Reaktion der Freundin darauf plausibel war.
Das weitere Geschehen, nämlich, dass es zu einer homosexuellen Beziehung zwischen der Klägerin und ihrer Freundin kam, überrascht zwar, aber auch diese Annäherung konnte die Klägerin zur Überzeugung des Gerichts bringen. Nicht schwer zu glauben war angesichts der Darstellung für das Gericht auch, dass eine verliebte junge Frau, die einmal das Risiko, ihre Homosexualität auszuleben, angenommen hat, Gleichgesinnte sucht und mit ihnen Partys feiert, wie sie junge Menschen auch im Iran heimlich feiern und auch, dass es dabei im Überschwang zu Posen und Fotos davon kam; die Klägerin gab sich in anderem Zusammenhang als Nutzerin sozialer Medien zu erkennen.
Sie ist zweifellos Teil einer fotoaffinen Generation und es ist auch anzunehmen, dass junge Menschen einer mit sozialen Medien eng verbundenen Generation im Iran nicht immer unmittelbar die Gefahr kompromittierender Fotos erkennen. Das Gericht hat in Betracht gezogen, dass die Fotos selbst mit Blick auf die Behörden denn auch womöglich gar nicht so problematisch waren, weil sie trotz der von der Klägerin beschriebenen Posen nicht zwingend als homosexueller Akt zu deuten gewesen sein könnten oder sich zumindest gegenüber den Behörden auch als alkoholbedingter Exzess unter Freundinnen erklären ließen (was eine Bestrafung zweifellos nicht ausschlösse, aber unter Umständen abmilderte), und dass die Klägerin eigentlich vielmehr die Reaktion ihrer Familie fürchtete, die – teilweise um die Homosexualität wissend, teilweise dies nur ahnend – nunmehr eindeutige, nicht zu leugnende Belege dafür hatte und reagieren musste. Die Klägerin hat denn auch gesagt, dass die Reaktion ihres Vaters ihr mehr Sorgen bereitet hat als die mögliche der Behörden. Auch hat das Gericht erwogen, dass die Behörden gar nicht am Geschehen beteiligt gewesen sein könnten und die Klägerin ohne die beschriebene Sorge, im Herkunftsland verfolgt zu werden, schlicht die Gelegenheit, die sich ihr bei der Griechenland-Reise bot, ergriffen haben und nach Deutschland geflohen sein könnte, um endlich in Freiheit leben zu können.
Allerdings war der Bericht der Klägerin zu dem Umgang der Familie und auch zu den Kenntnissen über Familie für das Gericht zu lebhaft, zu emotional und auch plausibel, um ihn als Erfindung oder Übertreibung zu qualifizieren. Das Gericht ist überzeugt davon, dass es wirklich zu einer behördlichen Ermittlung kam und auch, dass dies während der Griechenland-Reise geschah.

Unabhängig davon ist es der Klägerin nicht zuzumuten, in den Iran zurückzukehren und ihre Homosexualität dort erzwungenermaßen zu unterdrücken oder das Risiko staatlicher Verfolgung auf sich zu nehmen. Homosexuelle Menschen bilden im Iran eine bestimmte soziale Gruppe gemäß § 3b Absatz 1 Nr. 4 AsylG. […] eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft.
Diese Anforderungen sind mit Blick auf homosexuelle Personen im Iran erfüllt, denn ihre sexuelle Orientierung ist ein gemeinsamer Hintergrund, der nicht verändert werden kann und auch ein Merkmal, das so bedeutsam ist für die Identität, dass die betroffene Person nicht gezwungen werden sollte, darauf zu verzichten. Wegen dieses Merkmals haben homosexuelle Personen im Iran eine deutlich abgegrenzte Identität und werden von der sie umgebenden Gesellschaft im Sinne einer Stigmatisierung als andersartig betrachtet, denn die iranische Gesellschaft ist heteronormativ geprägt in einem Maße, dass abweichende sexuelle Orientierungen für die Mehrheitsgesellschaft keine alternative Lebensweise bilden, sondern schon im allgemeinen Sprachgebrauch häufig nur als Beleidigung vorkommen und ansonsten totgeschwiegen werden (United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note Iran: Sexual orientation and gender identity or expression, Juni 2019, S. 23). Auch die iranischen Behörden tätigen regelmäßig Aussagen, die Menschen aufgrund ihrer abweichenden sexuellen Orientierung erniedrigen und entmenschlichen (United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note Iran: Sexual orientation and gender identity or expression, Juni 2019, S. 16).

Wegen der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe droht homosexuellen Personen nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungshandlung gemäß § 3a Absatz 1 Nr. 1, Absatz 2 Nr. 1 und 2 AsylG. Homosexualität und homosexuelle Beziehungen sind im Iran strafbar. Aus Angst vor strafrechtlicher Verfolgung und sozialer Ausgrenzung ist ein öffentliches „Coming out“ deshalb grundsätzlich nicht möglich (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 5. Februar 2021, S. 18).
Angehörige sexueller Minderheiten können im Iran Belästigungen und Diskriminierungen ausgesetzt sein, obwohl über das Problem aufgrund der Kriminalisierung und Verborgenheit dieser Gruppen nicht ausreichend berichtet wird. Verboten ist in Iran jede sexuelle Beziehung, die außerhalb der heterosexuellen Ehe stattfindet, also auch homosexuelle Beziehungen, unabhängig von der Religionsangehörigkeit. Auf homosexuelle Handlungen, welche auch als „Verbrechen gegen Gott“ gelten, stehen offiziell Auspeitschung und sie können mit der Todesstrafe bestraft werden (dies besagen diverse Fatwas, die von beinahe allen iranischen Klerikern ausgesprochen wurden).
Die Beweisanforderungen sind allerdings sehr hoch, man braucht vier männliche Zeugen, es gibt ein Ermittlungsverbot bei Fällen, in denen zu wenige Zeugenaussagen vorliegen und hohe Strafen für Falschbeschuldigungen. Bei Minderjährigen und in weniger schwerwiegenden Fällen sind Peitschenhiebe vorgesehen. Auch hierfür sind zwei männliche Zeugen erforderlich. Im Falle von „Lavat“ (Sodomie unter Männern) ist die vorgesehene Bestrafung die Todesstrafe für den „passiven“ Partner, falls der Geschlechtsverkehr einvernehmlich stattfand, ansonsten für den Vergewaltiger.
Auf „Mosahegheh“ (Lesbianismus) stehen 100 Peitschenhiebe. Nach vier Wiederholungen kann aber auch hier die Todesstrafe verhängt werden. Die Bestrafung von gleichgeschlechtlichen Handlungen zwischen Männern ist meist schwerwiegender als die für Frauen. Gleichfalls ist Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung nicht verboten.
Die Todesstrafe für Homosexualität wurde in den letzten Jahren nur punktuell und meist in Verbindung mit anderen Verbrechen verhängt. Da Homosexualität offiziell als Krankheit gilt, werden Homosexuelle vom Militärdienst befreit und können keine Beamtenfunktionen ausüben. Auch werden Missbräuche durch die Gesellschaft oft nicht angezeigt, was Mitglieder sexueller Minderheiten noch anfälliger für Menschenrechtsverletzungen macht (Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29. Januar 2021, S. 68 f.).
Die Sicherheitsbehörden belästigen und inhaftieren Personen, die sie der Homosexualität verdächtigen. In einigen Fällen wurden Häuser durchsucht und auch der Internetverkehr wird überwacht, um Informationen über homosexuelle Personen zu ermitteln. Menschen, die unter diesen Bedingungen verhaftet werden, sind üblicherweise erzwungenen analen oder sonstigen Untersuchungen auf homosexuellen Geschlechtsverkehr ausgesetzt, die von den Vereinten Nationen und der Weltgesundheitsorganisation als Folter, erniedrigende Behandlung oder sexuelle Erniedrigung bezeichnet werden (U.S. Department of State, Country Report on Human Rights Practices 2020 – Iran, vom 30. März 2021, abrufbar unter https://www.ecoi.net/de/dokument/2048099.html – Stand 9. September 2021).
Da die Klägerin seitens eines staatlichen Akteurs gemäß § 3c Nr. 1 AsylG verfolgt zu werden droht, scheidet ein Rückgriff auf staatliche oder anderweitige Schutzakteure (§ 3d AsylG) aus. Auch kommt die Inanspruchnahme internen Schutzes (§ 3e AsylG) wegen der drohenden staatlichen Verfolgung nicht in Betracht. […]
Mitgeteilt von RAin Ursula Damson-Asadollah, Stuttgart