STREIT 4/2023
S. 180-183
VG Potsdam, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG
Flüchtlingseigenschaft für tschetschenische Frau wegen Zwangsehe, subsidiärer Schutz für Kinder wegen drohender Trennung von der Mutter
1. Die Gefahr für eine Frau, eine Zwangsheirat fortzuführen zu müssen, stellt eine Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG dar, weil die individuelle Lebensführung der Betroffenen aufgehoben wird. Ihr droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit psychische, physische und sexuelle Gewalt gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG.
2. Drohende häusliche Gewalt und die Trennung von ihrer Mutter gegen ihren Willen und ohne Berücksichtigung ihrer Belange stellt für die Minderjährigen einen schwerwiegenden Eingriff in ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit, Art. 2 EMRK, in ihr Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, Art. 8 EMRK und eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung gemäß § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG dar.
(Leitsätze der Redaktion)
Urteil des VG Potsdam vom 08.06.2022, VG 16 K 3097/17.A
Zum Sachverhalt:
Die Klägerinnen sind russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Die Klägerin zu 1) […] ist die Mutter der am […] 2010 geborenen Klägerin zu 2) und der am […] 2012 geborenen Klägerin zu 3) […].
Die Klägerin zu 1) ist außerdem Mutter einer weiteren, am […] 2016 in der Bundesrepublik Deutschland geborenen Tochter […]. Die Klägerin zu 1) führte [bei ihrer Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge] im Wesentlichen aus, dass die Familie aus Angst vor Verfolgung durch ihren Ehemann geflohen sei. Mit diesem sei sie im Jahre 2010 zwangsverheiratet worden und habe im September 2013 einen Antrag auf Scheidung eingereicht.
Aus diesem Grund habe ihr Ehemann sie zunächst bedroht und anschließend versucht sie umzubringen. Da er Polizist gewesen sei, sei er nicht bestraft worden. Daraufhin sei die Klägerin zu 1) mit den Klägerinnen zu 2) und 3) aus Tschetschenien geflohen und habe zunächst in verschiedenen Städten in der Russischen Föderation gewohnt, sich jedoch nirgendwo sicher gefühlt. […]
Das Bundesamt [lehnte] die Asylanträge der Klägerinnen ab. Die Klägerinnen haben gegen den vorbezeichneten Ablehnungsbescheid Klage erhoben. […]
Aus den Gründen:
[…] Der Klägerin zu 1) [ist] die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Denn in Anbetracht der Gesamtumstände kann bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage der Klägerin zu 1) Furcht vor der Erzwingung der Fortführung der nach islamischem Recht mit ihrem Ehemann fortbestehenden Heirat und damit einhergehender physischer, psychischer und sexueller Gewalt ( §§ 3a Abs. 2 Nr. 1 und 6 AsylG) hervorgerufen werden.
Des Weiteren kann bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage der Klägerin zu 1) Furcht vor Gewalthandlungen bis hin zur gezielten Tötung durch ihren Ehemann hervorgerufen werden, sollte sie sich dem Begehren auf Fortführung der Zwangsheirat nicht fügen.
Akteure im Sinne des § 3c AsylG, die gemäß § 3d AsylG willens wären, der Klägerin zu 1) Schutz vor Verfolgung durch ihren Ehemann in Form von diskriminierungsfreien polizeilichen oder justiziellen Maßnahmen (§ 3a Abs. 2 Nr. 2 AsylG) zu bieten, sind nicht gegeben. Die Handlungen, die der Klägerin zu 1) wiederfahren sind und ihr drohen, knüpfen an ihre Geschlechtszugehörigkeit an (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 4 AsylG) und sind auf Grund ihrer Art als auch Wiederholung als derart gravierend einzustufen, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), wie insbesondere des in Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verbürgten Rechts, das in Art. 2 der EMRK verankerte Recht auf Leben, das in Art. 8 EMRK normierte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, die in Art. 9 EMRK verankerte Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, das in Art. 12 EMRK verbürgte Recht auf Eheschließung als auch das in Art. 13 EMRK garantierte Recht auf eine wirksame Beschwerde ohne Diskriminierung wegen des Geschlechts zu genießen.
Die Klägerin zu 1) ist vorverfolgt aus der Russischen Föderation ausgereist und es liegen keine stichhaltigen Gründe vor, die gegen eine erneute Verfolgung, die im Zusammenhang mit der in der Russischen Föderation vor ihrer Ausreise erlittenen Verfolgung stünde, sprechen.
Im Einzelnen: Die Klägerin zu 1) ist in der Russischen Föderation zum Opfer von Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 1 und 6 AsylG geworden. Sie wurde gegen ihren Willen zwangsverheiratet, hatte im Rahmen der Ehe physische, psychische und sexuelle Gewalt durch ihren Ehemann zu erleiden und wurde schließlich, nachdem sie einen Antrag auf Scheidung eingereicht hatte, zum Opfer eines gezielten Tötungsversuchs durch ihren Ehemann, in Bezug auf den ihr durch die tschetschenischen Sicherheitsbehörden polizeiliche und justizielle Maßnahmen verweigert wurden.
Diese Verfolgungshandlungen knüpften allesamt an die Geschlechtszugehörigkeit der Klägerin zu 1) an. […]
Eine Zwangsheirat stellt eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG dar. Danach gelten auch Handlungen als Verfolgung, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen. Infolge einer Zwangsheirat wird für eine Frau die individuelle und selbstbestimmte Lebensführung aufgehoben und ihre sexuelle Identität als Frau grundlegend in Frage gestellt. Die Frau wird als reines Wirtschaftsobjekt und als „verkaufbare“ Sache be- und gehandelt. Die mit der Zwangsverheiratung verbundene Zwangslage liefert die Frau dauerhaft und ohne Aussicht auf Hilfe der freien Verfügbarkeit des auserwählten Ehemanns aus. Eine Zwangsheirat ist eine schwerwiegende Verletzung von Menschenrechten, die in Deutschland nach § 237 des Strafgesetzbuchs (StGB) bestraft wird und gegen internationale Konventionen verstößt.
Die Freiheit der Eheschließung ist in Art. 12 EMRK, Art. 9 der Europäischen Grundrechtecharta (GR-Charta) und Art. 16 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (UN-Charta) garantiert. Zudem droht einer von einer Zwangsheirat betroffenen Frau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit psychische, physische und sexuelle Gewalt im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG und im Falle der Verweigerung der Zwangsheirat oder der Flucht aus dieser physische Gewalt bis hin zur gezielten Tötung (siehe etwa VG Hannover, Urteil vom 3. März 2020 – 7 A 1787/20 – juris, Rn. 34; VG Würzburg, Urteil vom 14. März 2019 – W 9 K 17.31742 – juris, Rn. 30; VG Gießen, Urteil vom 2. September 2019 – 1 K 7171/17.GI.A – juris, Rn. 24).
Die Verfolgungshandlungen seitens des Ehemanns der Klägerin zu 1) erfolgten und drohen der Klägerin zu 1) aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe i. S. v. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. […]
[E]ine Zwangsheirat sowie die damit einhergehenden und für den Fall der Flucht aus dieser drohenden Gewalt- bis hin zu Tötungshandlungen [stellen] nach den vorbezeichneten Ausführungen an das unverfügbare Merkmal des Geschlechts anknüpfende Verfolgungshandlungen dar.
Diese Ausführungen der Klägerin zu 1) korrespondieren auch mit den einschlägigen Erkenntnismitteln. Frauenrechte sowie die Gleichberechtigung der Frau werden in Tschetschenien missachtet. Fälle von Ehrenmorden, häuslicher Gewalt, Entführungen und Zwangsverheiratungen sind laut NGOs nach wie vor ein Problem in Tschetschenien. Erschwert wird die Situation durch die Koexistenz dreier Rechtssysteme in der Region – dem russischen Recht, dem Gewohnheitsrecht (Adat) und der Scharia. Gerichtsentscheidungen werden häufig nicht umgesetzt, lokale Behörden richten sich mehr nach Traditionen als nach den russischen Rechtsvorschriften. Insbesondere der Fokus auf traditionelle Werte und Moralvorstellungen, die in der Republik Tschetschenien unter Ramsan Kadyrow propagiert werden, schränkt die Rolle der Frau in der Gesellschaft ein.
Das Komitee zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau sprach im Rahmen seiner Empfehlungen an die Russische Föderation in diesem Zusammenhang von einer „Kultur des Schweigens und der Straflosigkeit“.
Die Heirat einer 17-jährigen Tschetschenin mit einem 47-jährigen örtlichen Polizeichef im Frühjahr 2015 gilt als Beispiel für die verbreitete Praxis von Zwangsehen. Außerdem weist sie auf eine Form der Polygamie hin, die zwar offiziell nicht zulässig, aber durch die Parallelität von staatlich anerkannter und inoffizieller islamischer Ehe faktisch möglich ist.
Die Wirklichkeit in Tschetschenien von heute sieht so aus, dass Gewalt gegen Frauen weit verbreitet ist und sich die Lage für Frauen äußerst schwierig gestaltet. Gewalttätige Ehemänner werden selten bestraft, die Schuld wird üblicherweise der Frau zugeschoben. Häusliche Gewalt, die überall in Russland ein großes Problem darstellt, gehört in den nordkaukasischen Republiken zum Alltag. Sie ist weit verbreitet, gesellschaftlich toleriert und oft äußerst brutal. Das Ausmaß von Vergewaltigungen in Tschetschenien und anderen Teilen der Region ist unklar, da es im Allgemeinen so gut wie keine Anzeigen gibt, trotzdem ist davon auszugehen, dass Vergewaltigung in Tschetschenien und im gesamten Nordkaukasus weit verbreitet ist. Vergewaltigung in der Ehe wird nicht als Vergewaltigung angesehen. Vergewaltigungen passieren auch in Polizeistationen. Es handelt sich um ein Tabuthema in Tschetschenien.
Einer vergewaltigten Frau haftet ein Stigma an. Sie wird an den Rand der Gesellschaft gedrängt, wenn die Vergewaltigung publik wird. Auch die Familie wird isoliert und stigmatisiert, und es ist nicht unüblich, dass die Familie eine vergewaltigte Frau wegschickt. Die vorherrschende Einstellung ist, dass eine Frau selbst schuld an einer Vergewaltigung sei. Die Täter werden oft nicht bestraft (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 21. Mai 2021, S. 13; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation vom 17. November 2021, S. 72-74).
Der Ehemann der Klägerin zu 1) stellt auch einen tauglichen Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG dar, da die tschetschenischen Sicherheitsbehörden nach den vorbezeichneten Erkenntnissen erwiesenermaßen nicht willens sind, der Klägerin zu 1) Schutz im Sinne des § 3d AsylG zu bieten.
Die Vermutung einer erneuten Verfolgung kann auch nicht durch stichhaltige Gründe widerlegt werden. Die Prognose für eine geschlechtsspezifische Gefährdung von Frauen in Form einer Zwangsverheiratung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG bestimmt sich u.a. maßgeblich nach der jeweiligen sozialen Umgebung und der Schutzwilligkeit und -fähigkeit der – engeren oder weiteren – Familie und deren Umfeld.
Die geschlechtsspezifische Gefährdung von Frauen hängt daher – u.U. neben dem Alter, dem Familienstand und dergleichen – von weiteren Umständen ab, z.B. von den Einstellungen und dem Verhalten im engeren oder weiteren sozialen Umfeld und den jeweiligen Machtverhältnissen (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 27. September 2021 – 23 ZB 21.30370 – juris, Rn. 10)
Nach diesen Maßgaben liegt im Falle der Klägerin zu 1) nach wie vor eine beachtliche, geschlechtsspezifische Gefahr der Verfolgung durch ihren Ehemann vor. Ihren glaubhaften Schilderungen zur Folge und in Anbetracht der vorbezeichneten Erkenntnisse ist davon auszugehen, dass ihr für den Fall der Rückkehr in die Russische Föderation droht, zu einer Fortführung ihrer Zwangsheirat gezwungen zu werden, und für den Fall der Verweigerung zum Opfer von Gewalt bis hin zur gezielten Tötung zu werden.
Die Verwandten der Klägerin zu 1) sind nicht willig und jedenfalls nicht fähig sie schützen. Vielmehr war es der Onkel der Klägerin zu 1), der die Zwangsehe mit ihrem Ehemann arrangiert hat.
Nachdem die Klägerin zu 1) sich von ihrem Ehemann getrennt und den Antrag auf Scheidung eingereicht hat, hat ihr Onkel sie beschimpft, verprügelt und ihr gegenüber bekundet, dass sie zu ihrem Ehemann zurückkehren müsse, auch wenn dies ihren Tod bedeuten sollte.
Die Mutter des Ehemannes der Klägerin zu 1) hat zwar die Klägerin zu 1) heimlich bei der Ausreise unterstützt, kann die Klägerin zu 1) für den Fall der Rückkehr jedoch nicht vor der zwangsweisen Durchsetzung der Ehe und etwaigen Gewalthandlungen im Falle der Verweigerung der Ehe bewahren.
Die Situation wird dadurch verschärft, dass die Klägerin zu 1) zwischenzeitlich ohne Wissen ihrer in Tschetschenien verbliebenen Familienangehörigen Mutter einer unehelichen Tochter geworden ist und damit weniger mit Schutz, sondern vielmehr mit Verstoßung, Diskriminierung bis hin zur gezielten Tötung zu rechnen hat.
Der Klägerin zu 1) steht auch nicht gemäß § 3e AsylG die Möglichkeit internen Schutzes in einem anderen Teil der Russischen Föderation offen.
Denn der Ehemann der Klägerin zu 1) arbeitet selbst bei der Polizei und hat damit besondere Kontakte, die es ihm ermöglichen, den Aufenthaltsort der Klägerin zu 1) in der Russischen Föderation über die obligatorische Registrierung ausfindig zu machen.
Den glaubhaften Schilderungen der Klägerin zu 1) zur Folge war der Ehemann der Klägerin zu 1) sogar im Stande, derart auf seine Kollegen bei der Polizei einzuwirken, dass diese den seinerseits gegen die Klägerin zu 1) verübten Tötungsversuch nicht zu Protokoll genommen, geschweige denn strafrechtlich verfolgt haben. Damit wird es ihm erst recht möglich sein die Klägerin zu 1) aufzuspüren, mit Gewalt nach Tschetschenien zurück zu verbringen und sie zur Fortführung der Ehe zu zwingen oder sogar umzubringen, sollte sie sich seinem Willen nicht fügen.
[…] Den Klägerinnen zu 2) und 3) steht […] der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG zu.
[…] Bei Anwendung dieser Maßstäbe ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass den Klägerinnen zu 2) und 3) ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG droht. […]
Nach diesen Maßgaben droht den Klägerinnen zu 2) und 3) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung. Ihnen droht bei einer Rückkehr nach Tschetschenien, der ungezügelten häuslichen Gewalt des Ehemannes der Klägerin zu 1) ausgesetzt zu sein und außerdem von der Klägerin zu 1) getrennt zu werden, sollte sich diese der Zwangsehe wiedersetzen und aus diesem Grund sogar getötet werden. Die von dem Ehemann der Klägerin zu 1) ausgehende häusliche Gewalt und die gewaltsame Trennung der Klägerinnen zu 2) und 3) von der Klägerin zu 1) stellen schwerwiegende Eingriffe in ihre grundlegenden Menschenrechte auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 EMRK und auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK, welches unter anderem das Recht umfasst, mit seinen Eltern zusammenzuleben, dar.
Zwar ist Art. 8 Abs. 1 EMRK kein Recht, von dem nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist. Jedenfalls soweit es das elterliche Erziehungsrecht einschließlich des Rechts mit seinem Kind zusammenzuleben und für sein Wohl zu sorgen schützt, ist es jedoch als grundlegendes Menschenrecht zu qualifizieren (VG Berlin, Urteil vom 30. August 2018 – 33 K 428.16 A – juris, Rn. 35; VG Karlsruhe, Urteil vom 23. März 2016 – A 2 K 5534/15 – juris, Rn. 20; VG Potsdam, Urteil vom 20. Oktober 2021 – 6 K 4295/17.A – juris, Rn. 41).
In diese Rechte wird besonders schwerwiegend eingegriffen, indem die Klägerinnen zu 2) und 3) als minderjährige und damit besonders vulnerable und schutzbedürftige Personen häuslicher Gewalt unterzogen und gegen ihren Willen und ohne Berücksichtigung ihrer Belange und Interessen von der Klägerin zu 1) getrennt werden. Sie werden letztlich zum bloßen Objekt herabgewürdigt und somit einer unmenschlichen, ihrer Menschenwürde (Art. 1 Abs.1 GG) widersprechenden Behandlung unterzogen. Die erzwungene häusliche Gemeinschaft mit dem Ehemann der Klägerin zu 1) und gewaltsame Trennung der Klägerinnen zu 2) und 3) von der Klägerin zu 1) stellen herabwürdigende Behandlungen dar, die Gefühle der Furcht, Angst oder Unterlegenheit bei den Klägerinnen zu 2) und 3) hervorrufen werden und geeignet sind, ihren moralischen und psychischen Widerstand zu brechen.
Die Klägerin zu 1) hat ausgeführt, dass die Klägerinnen zu 2) und 3) ihren Vater nicht lieben würden, vielmehr Angst vor ihm hätten. Er habe sie verprügelt, sie hätten stets schweigen und nicht laut spielen dürfen. Er habe sie die ganze Zeit als lästig empfunden.
Nachdem sich die Klägerin zu 1) von ihrem Ehemann getrennt habe, habe er sie sogar noch heftiger verprügelt. Zudem wüssten sie, dass er auf die Klägerin zu 1) geschossen habe. Deswegen würden sie auch nicht zu ihm zurückwollen.
Die Befürchtungen der Klägerinnen zu 2) und 3) decken sich auch mit den einschlägigen Erkenntnissen zur Lage in der Russischen Föderation. Dass häusliche Gewalt überall in Russland ein großes Problem darstellt und gerade in den nordkaukasischen Republiken zum Alltag gehört, wurde bereits im Zusammenhang mit der Klägerin zu 1) dargelegt.
Auch die Furcht vor der gewaltsamen Trennung von der Klägerin zu 1) deckt sich mit der Erkenntnislage. Im Einklang mit dem Adat, der besagt, dass Kinder bei der Familie ihres Vaters leben sollten und dass die Kinder das „Eigentum“ des Vaters und seiner Familie sind, kommen Kinder, deren Eltern in Tschetschenien geschieden werden, zum Vater.
Sehr kleine Kinder leben zunächst bei ihrer Mutter und werden später von ihrem Vater übernommen, und die Mutter darf sie möglicherweise besuchen. Es gibt jedoch sehr oft Fälle, in denen die Familie des Ehemannes der Mutter nicht erlaubt, das Kind zu sehen. In solchen Fällen wenden sich die Sharia-Kleriker, die über das Sorgerecht für ein Kind entscheiden, an die Vormundschaftsabteilung, die Polizeibeamten des Bezirks und die Mitarbeiter der Polizeibehörde, die sich mit den Rechten Jugendlicher befassen. Die Urteile dieser Institutionen lassen sich jedoch als Empfehlung auslegen und werden oft ignoriert. In einigen wenigen Fällen wird jedoch ein Einvernehmen zwischen den ehemaligen Ehepartnern erreicht, sodass die Frau regelmäßigen Kontakt zu ihren Kindern haben kann. Frauen sehen es als letzten Ausweg, ihren Fall vor Gericht zu bringen, da das im Grunde bedeuten würde, der Familie des Ehemanns den Krieg zu erklären. Viele werden auch von der Familie des Mannes bedroht. In der Regel betreffen Fälle, die vor Gericht gebracht werden, den Zugang der Mutter zu ihren Kindern. In ganz wenigen Fällen erhält die Mutter das Sorgerecht (EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Russische Föderation zur Situation der Tschetschenen in Russland vom August 2018, S. 34).
Nach der Erkenntnismittellage ist auch nicht davon auszugehen, dass die im Nordkaukasus agierenden staatlichen Stellen noch sonstige einschlägige Akteure im Sinne des § 4 Abs. 3 S. 1 AsylG i. V. m. § 3d AsylG gewillt sind, die Klägerinnen zu 2) und 3) vor häuslicher Gewalt und der gewaltsamen Trennung von der Klägerin zu 1) zu schützen (so auch etwa VG Potsdam, Urteil vom 20. Oktober 2021 – 6 K 4295/17.A – juris, Rn. 41; Verwaltungsgericht Berlin, 33 „18- K 428.16 A – juris, Rn. 40 f. und VG Hamburg, Urteil vom 4. Mai 2017 – 17 A 7520/16 – juris, Rn. 28).
Die Klägerinnen zu 2) und 3) können auch nicht gemäß § 4 Abs. 3 S. 1 AsylG i. V. m. § 3e AsylG in einem anderen Landesteil der Russischen Föderation außerhalb der Teilrepublik Tschetschenien der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung entgehen. […]