STREIT 4/2023
S. 175-177
Hans. OLG Bremen, Art. 13 Abs. 1 Buchst. b; Abs. 2 KiEntfÜbk Haag
Keine Rückführung bei Angst des Kindes vor Gewalt gegen die Mutter
1. Der Ablehnungsgrund des Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ ist unter Berücksichtigung des Zwecks des HKÜ, eine zügige Sorgerechtsentscheidung im Herkunftsstaat zu ermöglichen, restriktiv auszulegen. (2) b) aa)
2. Der dem entführenden Elternteil obliegende Nachweis, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt, erfordert daher eine über die mit jeder Rückführung verbundenen Belastungen hinausgehende, besonders schwerwiegende Beeinträchtigung des Kindeswohls. (2) b) aa)
3. Eine solche Beeinträchtigung kann vorliegen, wenn die entführende Mutter nachweist, dass der Vater vor der Entführung in Gegenwart des betroffenen Kindes mit einer ungeladenen Pistole auf sie gezielt und abgedrückt hat und deswegen eine hohe psychische Belastung des Kindes festzustellen ist, die sich in psychosomatischen Symptomen und gravierenden Ängsten äußert, und außerdem festgestellt werden kann, dass es für die Wahrscheinlichkeit einer psychischen Dekompensation des Kindes bei der Rückkehr keine Rolle spielt, ob die entführende Mutter das Kind begleitet und das Kind dann die noch gesteigerten mütterlichen Ängste vor dem Vater erleben müsste oder ob das Kind gegen seinen Willen in die Hände des Vaters gegeben würde, vor dem es Angst hat .(2) b) bb); 2) b) cc)
4. In einem solchen Fall kann außerdem der Ablehnungsgrund des Art. 13 Abs. 2 HKÜ vorliegen, wenn der Widerstand des zehnjährigen Kindes gegen die Rückführung aufgrund der miterlebten Gewalt gegen die Mutter erklärlich erscheint. (2) c) bb)
Beschluss des Hanseatischen OLG Bremen vom 19.12.2022, 4 UF 69/22
Aus den Gründen:
I.
Es geht um den Antrag des Kindesvaters auf Rückführung der gemeinsamen Kinder der Kindeseltern, X und Y, beide geboren am [...] 2012, in die Türkei. (…)
Die Antragsgegnerin hat behauptet, der Kindesvater habe ein Alkoholproblem, aufgrund dessen es im Vorfeld ihrer Flucht nach Deutschland mehrfach zu Trennungen gekommen sei. Im Dezember 2021 habe er sie verdächtigt, ein Verhältnis zu haben. Er habe sie beschimpft und beleidigt und schließlich im Schlafzimmer eine Pistole aus einem Schrank geholt, diese vor ihren Kopf gehalten und abgedrückt. Die Waffe sei nicht geladen gewesen. Er habe danach Munition für die Waffe gesucht und diese dabei aus der Hand gelegt. Eines der Kinder habe die Waffe dann schnell an sich genommen und ihr übergeben. Sie habe mit der Waffe das Schlafzimmer verlassen und sie in einen Mülleimer geworfen. (…)
II.
2. (…)
Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts liegen die Voraussetzungen für die Anordnung der Rückführung der betroffenen Kinder nicht vor. (…)
b)
Anders als das Amtsgericht ist der Senat jedoch der Auffassung, dass die Voraussetzungen des Ausnahmetatbestandes nach Art. 13 Abs. 1 b) HKÜ vorliegen. Denn die Antragsgegnerin hat nachgewiesen, dass eine Rückführung der Kinder in die Türkei mit der schwerwiegenden Gefahr eines seelischen Schadens für die Kinder verbunden wäre.
aa) Die Vorschrift des Art. 13 Abs. 1 b HKÜ ist nach allgemeiner Ansicht unter Berücksichtigung des Zwecks des HKÜ, eine zügige Sorgerechtsentscheidung durch die Gerichte des Staates zu ermöglichen, in dem das Kind sich vor der Entführung mit dem Willen aller Sorgeberechtigten gewöhnlich aufgehalten hat, restriktiv auszulegen. Erforderlich ist daher eine über die mit jeder Rückführung verbundenen Belastungen hinausgehende, besonders schwerwiegende Beeinträchtigung des Kindeswohls (BVerfG, NJW 1996, 1402, 1403). Typische Belastungen entstehen daraus, dass sich entführte Kinder in der Regel mit dem entführenden Elternteil identifizieren und alle Kräfte daran setzen, sich in die neue Situation einzufinden, Fuß zu fassen und soziale Kontakte zu knüpfen. Werden sie dann dem verlassenen Elternteil zum Zwecke der Rückführung übergeben, bricht ihre Welt (erneut) zusammen, was zwangsläufig mit psychischen und gegebenenfalls auch körperlichen Belastungen verbunden ist (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 2.2.2011, 1 UF 110/10, juris Rn. 15). Deswegen kann allein der Umstand, dass durch die Rückgabe eine Trennung des Kindes von seiner Hauptbezugsperson herbeigeführt wird, einen Ausschlussgrund nach Art. 13 Abs. 1 b) HKÜ nicht begründen. Gegen die Zulassung eines derartigen Ausschlussgrundes spricht bereits, dass es der entführende Elternteil damit in der Hand hätte, die Rückkehr unter Berufung auf seine Rolle als Hauptbezugsperson für das Kind zu verhindern. Durch die Weigerung einer Hauptbezugsperson, in den Herkunftsstaat zurückzukehren, können die Regelungen und Ziele des HKÜ nicht ausgehebelt werden. Daher wird in der Rechtsprechung überwiegend angenommen, dass unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles es dem entführenden Elternteil grundsätzlich zumutbar ist, mit dem Kind gemeinsam in den Herkunftsstaat zurückzukehren, sodass es nicht zur Trennung von der Hauptbezugsperson kommen muss (vgl. Senatsbeschluss vom 16.3.2017, 4 UF 26/17). Dass eine solche Rückkehr für den entführenden Elternteil unzumutbar ist, wird daher nur in Ausnahmefällen angenommen. Zu dieser Unzumutbarkeit zählen nicht die üblichen Unannehmlichkeiten durch die Rückreise, Berufs- oder Wohnungswechsel und die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung (BeckOKG/Markwardt, Stand: 1.9.2022, Art. 13 HKÜ Rn. 26 m.w.N.). Dieses Verständnis der Vorschrift des Art. 13 Abs. 1 b) HKÜ entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. Senatsbeschluss vom 16.3.2017, 4 UF 26/17; Erb-Klünemann, FamRB 2018, 327, 332).
bb) Ein Ausnahmetatbestand im Sinne von Art. 13 Abs. 1b HKÜ kann jedoch dann vorliegen, wenn eine über die mit jeder Rückführung verbundenen Belastungen hinausgehende, besonders schwerwiegende Beeinträchtigung des Kindeswohls zu befürchten ist, nämlich eine erhebliche seelische Belastung des Kindes für den Fall der Rückkehr, die nicht allein auf die Entführung zurückzuführen ist (vgl. OLG Karlsruhe, FamRZ 2015, 1627; Erb-Klünemann, FamRB 2018, 327, 330). Dies ist hier der Fall.
cc) Es steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Antragsteller im Dezember 2021 eine nicht geladene Pistole auf die Antragsgegnerin gerichtet und den Abzug durchgezogen hat und dass dieser Vorfall erhebliche seelische Belastungen im vorgenannten Sinne für die beiden Söhne der Kindeseltern zur Folge hat.
(1) Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen eines Ausnahmetatbestandes nach Art. 13 Abs. 1 b) HKÜ trägt der Entführer. (…)
(2) Dass die Antragsgegnerin das konkrete Datum des Vorfalls nicht genannt hat, ist unschädlich. Denn es ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller die Behauptung der Antragsgegnerin, er habe im Dezember 2021 mit einer nicht geladenen Pistole auf sie gezielt und den Abzug durchgezogen, letztlich nicht einmal in erheblicher Weise bestritten hat. (…)
(3) Die Überzeugung des Senats, dass sich der Vorfall wie von der Antragsgegnerin behauptet zugetragen hat, beruht zudem darauf, dass beide Kinder dieses wiederholt und gegenüber unterschiedlichen Personen bestätigt haben. (…) Die Angaben der beiden Kinder stimmen im Hinblick auf den Hergang des von der Kindesmutter behaupten Vorfalles mit deren Schilderungen überein. (…)
(4) Insgesamt hat der Senat keinen Zweifel, dass sich der von der Kindesmutter und den Kindern übereinstimmend geschilderte Vorfall zugetragen hat.
dd) Anders als das Amtsgericht ist der Senat auch davon überzeugt, dass ebenfalls nachgewiesen ist, dass vor dem Hintergrund dieses Vorfalles eine Rückführung die schwerwiegende Gefahr eines seelischen Schadens für die Kinder bedeuten würde.
(1) Eine solche Schädigung kann darin bestehen, dass eine hohe psychische Belastung des Kindes festzustellen ist, die sich in psychosomatischen Symptomen und gravierenden Ängsten äußert. Dies ist insbesondere der Fall, wenn außerdem festgestellt werden kann, dass es für die Wahrscheinlichkeit einer psychischen Dekompensation des Kindes bei der Rückkehr keine Rolle spielt, ob die Mutter das Kind begleitet und das Kind dann die noch gesteigerten mütterlichen Ängste vor dem Ehemann erleben müsste oder ob das Kind gegen seinen Willen in die Hände des Vaters gegeben würde, vor dem es Angst hat (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 7.12.2005, 11 UF 219/05, juris; Erb-Klünemann, FamRB 2018, 327, 330f.). Eine derartige Konstellation liegt hier vor. Die für die Tatbestandsvoraussetzungen des Ablehnungsgrundes des Art. 13 Abs. 1 b HKÜ darlegungs- und beweisbelastete Antragsgegnerin hat unter anderem behauptet, dass die Psyche der Kinder durch das Verhalten des Vaters stark belastet sei. Die Kinder hätten Angst vor dem Kindesvater. Sie hätten ansehen müssen, wie der Kindesvater gegenüber der Kindesmutter eine Waffe gezogen und versucht habe, sie umzubringen. (…)
(2) Die Anhörung der Kinder durch die Verfahrensbeiständin und das erstinstanzliche Gericht hat diese Behauptung bestätigt. (…)
(4) Diese psychischen Belastungen der Kinder können auch nicht dadurch abgewendet werden, dass sich die Kindesmutter gemeinsam mit den Kindern in der Türkei in einem Frauenhaus aufnehmen lässt. (…)
Diese Ängste sind für die Kinder psychische Realität. Sie würden genauso bestehen, wenn die Kindesmutter mit den Kindern um Aufnahme in einem türkischen Frauenhaus ersuchen würde. Aus demselben Grund wäre im Übrigen auch der vom Kindesvater angeregte Umzug der Kindesmutter in das Sommerhaus ihrer Familie nicht geeignet, den zu befürchtenden seelischen Schaden der Kinder abzuwenden. Und auch die vom Amtsgericht hervorgehobene Möglichkeit der Kindesmutter, die in den in Deutschland geführten Verfahren gegenüber dem Kindesvater erhobenen Vorwürfe auch in dem in der Türkei geführten Scheidungsverfahren vorzutragen und den Kindesvater in der Türkei strafrechtlich verfolgen zu lassen, könnte den Kindern ihre Ängste nicht nehmen. Nur durch die – letztlich durch die Entführung geschaffene – Distanz zum Kindesvater haben die Kinder die nötige Sicherheit, dass ihrer Mutter nichts passieren wird.
c)
Darüber hinaus liegt auch der Ausnahmetatbestand des Art. 13 Abs. 2 HKÜ vor, denn die Kinder widersetzten sich der Rückgabe und haben ein Alter und eine Reife erreicht, angesichts deren es angebracht erscheint, ihre Meinung zu berücksichtigen.
aa) Anders als bei den vom Entführer nachzuweisenden Ausnahmetatbeständen des Art. 13 Abs. 1 HKÜ unterliegt der Ausnahmetatbestand des Art. 13 Abs. 2 HKÜ dem Amtsermittlungsgrundsatz (Erb-Klünemann, FamRB 2018, 327, 328 m.w.N.). Diese Vorschrift wird als Ausfluss des Vorranges der Kindesinteressen gegenüber den Elterninteressen angesehen. Erforderlich ist, dass das Kind sich mit Nachdruck, mit respektablen Gründen und aus freien Stücken, also nicht erkennbar maßgeblich durch den Entführer bzw. Dritte beeinflusst, widersetzt. Entscheidend ist dabei das Widersetzen gegen die Rückkehr in den Herkunftsstaat, nicht gegen die Trennung vom Entführer, wenn diesem eine Rückkehr zumutbar ist. Nicht erforderlich ist, dass das Kind bereits konkret bezeichnet, dass und wie es sich einer Rückführungsanordnung widersetzen würde, da sonst eine nicht sachgerechte Differenzierung nach der kindlichen Persönlichkeitsstruktur erfolgen würde. Außerdem müssen Alter und Reife gegeben sein, sodass von einer eigenverantwortlichen Entscheidung ausgegangen werden kann (vgl. Erb-Klünemann, FamRB 2018, 327, 334 m.w.N.). Für das Alter des Kindes gelten keine feststehenden Grenzen (MüKo/Heiderhoff, a.a.O., Art. 13 HKÜ Rn. 41).
bb) Im vorliegenden Fall haben beide Kinder schon in erster Instanz eine Rückkehr in die Türkei abgelehnt und dies mit ihren Ängsten vor dem Vater nachvollziehbar begründet. Sie haben deutlich gemacht, dass sie sich im Falle der Rückkehr in die Türkei der aus ihrer subjektiven Sicht beängstigenden Situation hilflos ausgeliefert sähen. (…)
d)
Dass das 3. Familiengericht [...] (Türkei) dem Kindesvater mit Zwischenbeschluss vom [...] 2022 (Gesch.-Nr. [...]) vorläufig die elterliche Sorge für beide Kinder übertragen hat, ändert nichts daran, dass der Antrag des Kindesvaters auf Rückführung wegen des Vorliegens der Ausnahmetatbestände des Art. 13 HKÜ abzulehnen ist. Denn eine solche Ablehnung der Rückführung hätte auch zu erfolgen, wenn der Kindesvater von vornherein allein sorgeberechtigt gewesen wäre (vgl. Art. 3 S. 1 a) HKÜ). (…)
Mitgeteilt von Rechtsanwältin Döndü Burç, Bremen