STREIT 4/2023

S. 174-175

BVerfG, Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB

Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen (teilweise) verfassungswidrig

1. Ehe im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG ist eine rechtlich verbindliche, im Grundsatz auf Dauer angelegte, auf freiem Entschluss beruhende, in besonderer Weise mit gegenseitigen Einstandspflichten einhergehende, gleichberechtigte und autonom ausgestaltete Lebensgemeinschaft, die durch einen formalisierten, nach außen erkennbaren Akt begründet wird.
Nach ausländischem Recht eingegangene Lebensgemeinschaften ehelicher Art unterfallen dann nicht ohne Weiteres dem Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1 GG, wenn diese verfassungsrechtlichen Strukturprinzipien zuwiderlaufen.
2. Die Freiheit der Ehe erfordert und gestattet gesetzliche Regeln, die die als Ehe verfassungsrechtlich geschützte Lebensgemeinschaft rechtlich definieren und abgrenzen. Solche Regelungen müssen mit den Strukturprinzipien vereinbar sein und den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit genügen.
3. Der Gesetzgeber darf Ehehindernisse schaffen, um die das Institut der Ehe im Sinne der Verfassung bestimmenden Strukturprinzipien zu gewährleisten. Dazu können die autonome Entscheidung beider Eheschließenden sichernde Anforderungen an die Ehefähigkeit etwa in Gestalt von Mindestaltersgrenzen für die Eheschließung gehören.
(Amtliche Leitsätze)
Beschluss des BVerfG vom 01.02.2023, 1 BvL 7/18

Tenor:
In dem Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung, ob Artikel 13 Absatz 3 Nummer 1 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche (EGBGB) in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen vom 17. Juli 2017 (Bundesgesetzblatt I Seite 2429) mit Artikel 1, 2 Absatz 1, 3 Absatz 1 und 6 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG) vereinbar ist, soweit eine unter Beteiligung eines nach ausländischem Recht ehemündigen Minderjährigen geschlossene Ehe nach deutschem Recht – vorbehaltlich der Ausnahmen in der Übergangsvorschrift des Artikels 229 § 44 Absatz 4 EGBGB – ohne einzelfallbezogene Prüfung als Nichtehe qualifiziert wird, wenn der Minderjährige im Zeitpunkt der Eheschließung das sechzehnte Lebensjahr nicht vollendet hatte – Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Bundesgerichtshofs vom 14. November 2018 (XII ZB 292/16) – hat das Bundesverfassungsgericht ‒ Erster Senat ‒ (…) beschlossen:
1. Artikel 13 Absatz 3 Nummer 1 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen vom 17. Juli 2017 (Bundesgesetzblatt I Seite 2429) ist ‒ vorbehaltlich der Ausnahmen nach Artikel 229 § 44 Absatz 4 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche ‒ mit Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar.
2. Artikel 13 Absatz 3 Nummer 1 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche gilt nach Maßgabe der Gründe zu D II 2 bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens jedoch bis zum 30. Juni 2024, fort.

Aus den Gründen:
D II
1. Sowohl das Vorhandensein von verschiedenen Möglichkeiten des Gesetzgebers, den Verfassungsverstoß zu beseitigen (a), als auch der bei Nichtigerklärung von Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB eintretende Zustand (b) erfordern die Beschränkung auf die Erklärung der Unvereinbarkeit.
a) Der Gesetzgeber kann an der Wertung festhalten, Auslandsehen mit bei Heirat unter 16-Jährigen die inländische Wirksamkeit zu versagen, wenn er den festgestellten Verfassungsverstoß beseitigt. Dafür stehen ihm verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung. So kommt etwa in Betracht, gesonderte Regelungen für nacheheliche Ansprüche zu schaffen, die dem Umstand einer bereits geführten Ehe sowie einer etwaigen sozio-ökonomischen Schutzbedürftigkeit der bei Eheschließung Minderjährigen Rechnung tragen. Für die Gestaltung solcher Ansprüche stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. So können eigenständige Ansprüche für die Situation der inländisch unwirksamen Ehe geschaffen werden. Es kann aber auch auf Ansprüche verwiesen werden, wie sie das geltende Recht für aufgehobene Ehen vorsieht (vgl. Art. 13 Abs. 3 Nr. 2 EGBGB, § 1318 BGB). Der Gesetzgeber kann auch dem in dem Fehlen einer Fortsetzungsmöglichkeit nach Volljährigkeit auf entsprechenden Wunsch der bei Eheschließung unter 16-Jährigen liegenden Verfassungsverstoß auf verschiedene Weise begegnen. Dazu kann die Beseitigung etwaiger rechtlicher Hindernisse wie des Erfordernisses der Beibringung eines Ehefähigkeitszeugnisses nach § 1309 BGB gehören. Wie sich aus der Stellungnahme des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht ergibt, sehen die Rechtsordnungen zahlreicher Staaten Heilungsmöglichkeiten für unwirksame Minderjährigenehen vor.
(…)
2. Die Weitergeltung ist veranlasst, weil ansonsten auch die bloße Unvereinbarkeitserklärung zur Unanwendbarkeit von Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB vom Zeitpunkt seines Inkrafttretens an führen würde (vgl. BVerfGE 55, 100 <110>; 61, 319 <356>; vgl. auch BVerfGE 133, 377 <423 Rn. 107 f.>). Es entstünde dann der für den Fall der Nichtigerklärung beschriebene Rechtszustand. Das neben der Weitergeltungsanordnung erforderliche normvertretende Übergangsrecht ist darauf zu beschränken, die zur Verfassungswidrigkeit führenden Umstände zu vermeiden oder zumindest in ihren Wirkungen abzuschwächen, um einen Zustand zu vermeiden, der verfassungsferner wäre als bei Nichtigkeit und Unanwendbarkeit der verfassungswidrigen Norm.
Danach bedarf es einer Übergangsregelung lediglich für unterhaltsrechtliche Fragen der weiterhin inländisch unwirksamen Ehe. Das Übergangsrecht ist möglichst nahe an den eigenen Konzeptionen des Gesetzgebers auszurichten. Der Gesetzgeber sieht für die nach Art. 13 Abs. 3 Nr. 2 EGBGB aufhebbaren Ehen nacheheliche Unterhaltsansprüche nach § 1318 in Verbindung mit §§ 1569 ff. BGB vor. Um den verfassungswidrigen Zustand des Fehlens solcher Regelungen bei den von Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB erfassten Minderjährigenehen zugunsten der bei Heirat unter 16-Jährigen zu mildern, ist § 1318 BGB auf solche Ehen mit der Maßgabe anzuwenden, dass die durch die Vorschrift für anwendbar erklärten Vorschriften über die Scheidung mit der nicht nur vorübergehenden Trennung der Eheleute zur Anwendung gelangen. Soweit die danach maßgeblichen Vorschriften auf die Dauer der Ehe abstellen, tritt in den Fällen der nicht nur vorübergehenden Trennung der von Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB erfassten Eheleute die Dauer des Zusammenlebens. Während der Dauer des Zusammenlebens gelten übergangsweise die §§ 1360, 1360a BGB für die Unterhaltsansprüche der Betroffenen entsprechend.
Eine Übergangsregelung zur rechtlichen Vaterschaft für aus den betroffenen Auslandsehen hervorgegangene Kinder ist nicht geboten. Die Möglichkeiten des leiblichen Vaters, die rechtliche Vaterschaft zu erlangen, sind durch die unabhängig vom Ehestatus anwendbaren § 1592 Nr. 2 und 3 BGB für eine Übergangszeit noch hinreichend gewährleistet.

Hinweis der Redaktion:
Art. 13 Abs. 3 Ziff. 1 EGBGB erklärt eine Ehe nach deutschem Recht für unwirksam, „wenn der Verlobte im Zeitpunkt der Eheschließung das 16. Lebensjahr nicht vollendet hatte“ – sofern gemäß Art. 229 § 44 Abs. 4 EGBGB „kein Ehegatte seit der Eheschließung bis zur Volljährigkeit des minderjährigen Ehegatten seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte“.
Siehe dazu die Pressemitteilung von terre-des-femmes vom 29.03.2023, unter www.frauenrechte.de/presse/ sowie die Anmerkungen von Caroline Rupp in FamRZ 2023, S. 855 ff. und Jennifer Antomo: Kinderehengesetz in Karlsruhe – verfassungswidrig, aber nur ein bisschen, NJW 2023, 1474 ff.
Zur aktuellen Situation: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), 2022, Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Erster Bericht des Expertenausschusses (GREVIO) zur Umsetzung der Übereinkommen des Europarats vom 11. Mai 2011 (Istanbul-Konvention) in Deutschland, S. 77 Rn. 231 ff.
Zur internationalen Verbreitung von Kinderehen (wobei zwischen Mädchen und Jungen quantitative und regionale Unterschiede bestehen) siehe die Berichte von UNICEF zu „Child Marriage“ unter: https://data.unicef.org/topic/gender/child-marriage/; dort auch die Publikation: „Is an End to Child Marriage within Reach? Latest trends and future prospects“ vom 05.05.2023 zu Faktoren, wie Umweltkatastrophen und Kriege, die die Zahl der Kinderehen erhöhen.