STREIT 4/2018

S. 154

Forderungskatalog aus einem rechtsvergleichenden Projekt im Bereich Gewalt gegen Frauen

Aus STREIT 2/2001, S. 69 ff.

I. Gewaltbetroffenen Frauen muss ein leicht zugängliches, unentgeltliches Informationsangebot zur Verfügung stehen, das qualifiziert über Hilfen und Schritte Auskunft gibt, die es der Frau ermöglichen, sich und ihre Kinder zu schützen und frühzeitig eine gewalttätige Beziehung zu verlassen (Clearing Stelle). Die Qualität der Auskünfte muss durch spezielle und frauenspezifische Fortbildungen gewährleistet werden, die sowohl die psycho-sozialen als auch die rechtlichen Aspekte umfasst. (…)
II. Männliche Gewalt gegen Frauen erfordert eine unmittelbare und eindeutige gesellschaftliche Reaktion. Maßstab ist die Menschenwürde und die Integrität der gewaltbetroffenen Frauen sowie die Verantwortungsübernahme durch den gewalttätigen Mann. (…)
III. Besonders wichtig erscheint uns deshalb, dass ein abgestimmtes Interventionskonzept erarbeitet wird, das die Handlungen der unterschiedlichen Interventionsinstanzen zueinander und zum eigentlichen Ziel, dem effektiven Schutz von Frauen und Kindern vor männlicher Gewalt, in Bezug setzt (…).
IV. (…) Jedes Interventionskonzept muss eine Wiederholungsgefahr annehmen und dass die Selbsthilfekräfte der Gewaltbetroffenen durch „erlernte Hilflosigkeit“ reduziert sein können. Trotzdem bleibt ein wichtiges Element jedes staatlichen Interventionskonzeptes die Stärkung und Unterstützung der Gewaltbetroffenen (Empowerment). Empowerment wiederum setzt voraus, dass die Interessen und Zeiten der Frauen im gesamten Verfahren ihren legitimen Platz haben müssen.
V. Dazu gehört, dass Frauen nicht aus Angst vor dem Verlust ihrer materiellen Lebensgrundlagen in einer gewalttätigen Beziehung verharren dürfen. (…)
VI. Aus unserer Sicht wäre es wünschenswert, dass gewaltbetroffenen Menschen ein individueller, einklagbarer Rechtsanspruch auf Hilfe bei Gewalt eingeräumt wird. (…)
VII. Wichtig sind aus unserer Sicht Verfahrensrechte, die alle Prozessbeteiligten zwingen, gewaltbetroffene Frauen und ihre Wahrnehmung (an-)zu hören, die ihnen eine aktive und selbstbewusste Rollenwahrnehmung ermöglichen und sie nicht in das Korsett der Opferrolle pressen: die von der Realität männlicher Gewalt ausgehen, also die Tatsache der Gewalt anerkennen und um ihre Ausprägungen wissen, statt die Beweislast (für vorhandenes empirisches Wissen) der Frau zu übertragen.
Eine Verfahrensgestaltung und vor allem eine Verfahrenspraxis, die dieses Wissen und die Rechte der Frauen respektiert, haben wir nirgendwo gefunden. (…)
VIII. Strafrecht hat eine Funktion insofern als es eine kollektive Haltung zum gesellschaftlichen Problem der Gewalt gegen Frauen und Kinder zum Ausdruck bringen soll. (…) Das Strafrecht kommt notwendig zu spät: es setzt die Tat voraus, statt sie (und weitere) verhindern zu wollen (…). Schutzgesichtspunkte sind deshalb nach der bisherigen Konzeption von Strafrecht allenfalls – systemwidrige – Abfallprodukte der Verfahrenssicherung (Untersuchungshaft, Auflagen) oder unvollkommene Rechtsfolgen (Auflagen, Weisungen). Als solches bleiben sie – oft mangels anderer Schutzmöglichkeiten – wichtig, wenn auch nicht ausreichend.
Ein modernes „Straf“recht müsste aus unserer Sicht im Bereich der häuslichen Gewalt von Männern auch Gesichtspunkte des Schutzes und der Kontrolle aufgreifen und sie konzeptionell integrieren. (…) Ein modernes Strafrecht müsste darüber hinaus einen empirischen Gewaltbegriff zugrundelegen, der von andauernden Akten der Unterwerfung ausgeht. (…)

Die Forderungen wurden im Rahmen des EU-DAPHNE-Projekts „Proteger“ entwickelt von: Maria Duran-Febrer, Rechtsanwältin in Palma de Mallorca; Dagmar Oberlies, Professorin an der FH Frankfurt a.M.; Marcella Pirrone, Rechtsanwältin in Meran; Maria Virgilio, Rechtsanwältin und Professorin an der Uni Bologna; Viviane Ecker, Rechtsanwältin in Luxemburg; Gabriele Vana-Kowarzik, Rechtsanwältin in Wien