STREIT 2/2025
S. 66-71
Für ein diskriminierungsfreies neues Abtreibungsrecht: Ein Plädoyer gegen die Aufnahme einer embryopathischen Indikation
Erweiterter Nachdruck aus dem VerfBlog vom 13.01.2025, https://verfassungsblog.de/abtreibung-embryopathische-indikation/
Die Diskussion um eine Neuregelung des Abtreibungsrechts in Deutschland hat durch einen fraktionsübergreifenden Gesetzentwurf1
neue Dynamik gewonnen (ausführlich dazu Godau2
). Der Vorschlag stützt sich auf den im April 2024 veröffentlichten Abschlussbericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin,3
bleibt aber hinter dessen Empfehlungen zurück. Eine kontroverse Frage wird – wie bereits im Bericht der Expertenkommission – allerdings nicht final beantwortet: Ist es zulässig, einen gesonderten Erlaubnistatbestand für sogenannte embryopathische Abtreibungen aufzunehmen, also die Abtreibungsmöglichkeiten zu erweitern, wenn bei dem Fötus/Embryo eine potenzielle Behinderung festgestellt wird? Problematisch ist dabei insbesondere die eigenständige embryopathische Indikation, die an die Lebensqualität des Ungeborenen und nicht der Schwangeren anknüpft.
Zunächst jedoch ist der neue Gesetzesvorschlag in vielerlei Hinsicht zu begrüßen, auch wenn er in einigen Punkten hinter seinem Potential und den Empfehlungen der Kommission zurückbleibt. Er adressiert grundlegende Probleme der aktuellen strafrechtlichen Regelung unter Vermeidung von Rechtsunsicherheit und unzumutbaren Belastungen der Betroffenen. Mit der Rechtmäßigkeit des Schwangerschaftsabbruchs auf Verlangen wenigstens in der Frühphase der Schwangerschaft wird den Grundrechten der Schwangeren deutlich besser Rechnung getragen als bisher. Für Ärztinnen und Ärzte wird Rechtssicherheit geschaffen. Durch die Kostenübernahme des Abbruchs in der gesetzlichen Krankenversicherung erfahren ungewollt Schwangere die Solidarität der Gemeinschaft.
Auch wenn die Beratungspflicht bestehen bleibt, sieht der Entwurf immerhin vor, dass die Beratung inklusiv und ergebnisoffen gestaltet sein muss und sicherstellen soll, dass die Betroffenen tatsächlich Zugang zu Unterstützung in einer schwierigen Lebenssituation erhalten. Der Wegfall der obligatorischen dreitägigen Wartefrist zwischen Beratung und Abbruch trägt zudem der Autonomie der ungewollt Schwangeren Rechnung.
Trotz des grundsätzlichen Lobs für die geplante Neuregelung und der Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs setzt sich dieser Beitrag kritisch mit dem Kommissionsbericht und dem neuen Gesetzesvorschlag auseinander und argumentiert, dass der Kommissionsbericht selbst ableistische Ausführungen anstellt und jedenfalls die Aufnahme einer eigenständigen embryopathischen Indikation mit völker- und verfassungsrechtlichen Wertungen unvereinbar ist.
Embryopathische Indikation im Kommissionsbericht und Gesetzesentwurf
Auch wenn sich der Kommissionsbericht für seinen Umgang mit der embryopathischen Indikation kritisieren lässt, ist es grundsätzlich positiv zu bewerten, dass er auf „die Auswirkungen einer Regelung des Schwangerschaftsabbruchs auf die Position von Menschen mit Behinderung“ (S. 280) eingeht und damit ein Bewusstsein für das Problem beweist.
Konkret empfiehlt der Bericht, die medizinische Indikation neu zu regeln, da diese zu unbestimmt und mit viel Rechtsunsicherheit verbunden sei (S. 28). Dabei sei insbesondere zu erwägen, ob eine embryopathische Indikation wieder als eigenständiger Erlaubnistatbestand eingeführt werden sollte. Ein solcher war bis 1995 noch explizit im deutschen Gesetz enthalten. Danach war gem. § 218a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. der Schwangerschaftsabbruch straflos, wenn nach ärztlicher Feststellung „dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß das Kind infolge Erbanlage oder schädlicher Einflüsse vor der Geburt an einer nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustandes leiden würde, die so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann“ (BGBl 1976 I, S. 1214). Diese Indikation wurde nach Kritik u. a. aus der Behindertenrechtsbewegung schließlich gestrichen (BT-Drs. 13/1850 S. 25-26, ausführlich Seitinger4
). Stattdessen fallen nach aktuell geltender Rechtslage diagnostizierte fetale Defekte unter die medizinische Indikation, wenn also die schwangere Person vorbringt, ihr eigenes (auch psychisches) Wohlbefinden sei durch die potenzielle Behinderung des Embryos gefährdet und die Fortführung der Schwangerschaft dadurch unzumutbar (§ 218a Abs. 2 StGB).
Der Kommissionsbericht erwägt dabei primär embryopathische Indikationen, die an die Rechte der schwangeren Person anknüpfen. Er diskutiert aber auch eigenständige embryopathische Indikationen, die lediglich an die Lebensqualität des Ungeborenen anknüpfen. Obwohl die Kommission dem Gesetzgeber empfiehlt, eine embryopathische Indikation zu erwägen, weist sie auch darauf hin, dass noch zu klären sei, ob eine solche das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verletzen würde, das jegliche Benachteiligung aufgrund einer Behinderung verbietet. Der aktuelle fraktionsübergreifende Entwurf beinhaltet eine der geltenden Rechtslage entsprechende medizinische Indikation (§ 12 Abs. 3), äußert sich zur Frage der embryopathischen Indikation jedoch nicht explizit. Stattdessen wird die konkrete Ausgestaltung der medizinischen Indikation in das Berufsrecht der Ärtz*innen verlagert und damit der Gesetzgebungskompetenz der Länder überlassen, wobei Leitlinien eine bundeseinheitliche Regelung sicherstellen sollen (S. 5). Eine eigenständige embryopathische Indikation sieht der Entwurf nicht vor.
Die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention
Der Kommissionsbericht setzt sich dezidiert mit völkerrechtlichen Implikationen zum Abtreibungsrecht auseinander und stellt fest, dass – neben der gebotenen völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes – diesen insbesondere im Rahmen des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraumes erhöhte Bedeutung zukommt (S. 276). In Bezug auf die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) beschränkt die Kommission ihre Ausführungen jedoch auf einen Ausschnitt aus den Kommentaren des Behindertenrechtsausschusses zum Vereinigten Königreich und Nordirland5 und hält fest, dass sich der Ausschuss weniger auf die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs konzentriert, sondern vielmehr auf die Auswirkungen einer Indikationsregelung (S. 242). Auf Ausführungen des Ausschusses speziell zu embryopathischen Indikationen geht die Kommission jedoch nicht ein, obwohl sie eingangs feststellt, dass sie sich nicht nur auf völkerrechtliche Implikationen speziell zur Entkriminalisierung beschränkt (S. 221). Auch wenn die Arbeit des Ausschusses weder rechtsverbindlich noch als zwingende Auslegung der UN-BRK zu betrachten ist, wäre wegen der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetztes (z. B. BVerfGE 111, 307, 317 f.) eine intensive Auseinandersetzung mit der Arbeit des Ausschusses zur embryopathischen Indikation geboten gewesen. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass der Kommissionsbericht hier selbst viele rechtliche Unsicherheiten identifiziert und – wie auch das BVerfG – der Arbeit der Menschenrechtsausschüsse „ein nicht unerhebliches Gewicht“ bei der Auslegung der Verträge (S. 231) zuspricht.
Der Behindertenrechtsausschuss hat embryopathische Indikationen mehrfach im Rahmen seiner Concluding Observations (z. B. ggü. Spanien, Ungarn und Österreich)6
und besonders deutlich in einem Kommentar an den Menschenrechtsausschuss7
kritisiert. Im Laufe der Zeit hat sich dabei der argumentative Schwerpunkt des Ausschusses von potenziellen Rechten des Fötus hin zu einer gesellschaftlichen Perspektive verschoben, die vor allem Stereotype und Diskriminierung betont. In dieser uneinheitlichen Rechtspraxis des Behindertenrechtsausschusses (dem eine der Autorinnen (Degener) acht Jahre angehörte) spiegeln sich Meinungsverschiedenheiten der Ausschussmitglieder wider. Auf der einen Seite gab und gibt es auch im UN BRK Ausschuss Abtreibungsgegnerinnen, die kein reproduktives Selbstbestimmungsrecht Schwangerer akzeptieren. Demgegenüber setzten sich feministische Expertinnen immer wieder dafür ein, Frauenrechte und Behindertenrechte als Bestandteil eines gemeinsamen Menschenrechtskanons zu verstehen. Dazu gehörte z. B. auch die Initiative für eine gemeinsame Erklärung mit dem Frauenrechtsausschuss zum Thema reproduktive Menschenrechte.8
Konsens bestand im Behindertenrechtsausschuss jedoch darüber, dass auch in der Abtreibungsdebatte das gewandelte Verständnis von Behinderung9
zugrunde gelegt werden muss: Nach dem veralteten medizinischen Modell ist Behinderung ein individuelles Phänomen, das mit Leid und Schmerz verbunden und vor allem mit medizinischer Therapie und Rehabilitation zu lösen ist. Dem wurde zunächst das soziale und mit der UN-BRK schließlich das menschenrechtliche Modell von Behinderung10
gegenübergestellt, wonach Behinderung durch gesellschaftliche Barrieren entsteht, die Menschen an der gleichberechtigten Teilhabe und der Wahrnehmung ihrer Rechte hindern, also sozial konstruiert ist. Dem Behindertenrechtsausschuss ging es in seiner Kritik weniger um den Lebensschutz für das beeinträchtigte Ungeborene als um die Stereotypisierung von Menschen mit Behinderung als besondere Bürde, deren Leben als Zumutung für die Mutter angesehen wird. Zudem betont der Ausschuss (erst kürzlich in seinen Berichten zu den Niederlanden und Belgien),11
dass es wichtig sei, die vorherrschenden Stigmata im Gesundheitssystem zu bekämpfen, da medizinisches Personal vermehrt zu embryopathischen Abtreibungen dränge. Nationale Regelungen müssten sicherstellen, dass eine wertneutrale und informationsbasierte Beratung unter Berücksichtigung des menschenrechtlichen Verständnisses von Behinderung und der inhärenten Menschenwürde gewährleistet wird (Bericht zu den Niederlanden Rn. 22(b)12
). Gerade dies dürfte jedoch schwierig sein, wenn schon das Gesetz selbst nicht wertneutral gestaltet ist.
Zudem verpflichtet die UN-BRK Staaten dazu, Personen mit Behinderung in die Gestaltung von Regelungen miteinzubeziehen, die ihre Rechte betreffen (Art. 4(3), 33(3) UN-BRK, „nothing about us without us“). Doch weder der Kommissionsbericht noch der Gesetzentwurf geben Aufschluss darüber, ob Menschen mit Behinderung bzw. ihre Selbstvertretungsorganisationen beteiligt worden sind.
Ableismus im Abtreibungsdiskurs
Stattdessen enthält der Kommissionsbericht selbst Erwägungen, die ableistisch sind. Der Bericht diskutiert, ob und wie sich eine gesetzlich geregelte eigenständige embryopathische Indikation bei einer „diagnostizierten schwerwiegenden und nicht heilbaren Krankheit“ unabhängig von der schwangeren Person begründen ließe (S. 202). Dabei rekurriert der Bericht auf das Recht auf selbstbestimmtes Sterben13 (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG), um eine Abtreibung in der Spätphase der Schwangerschaft zu rechtfertigen. Die Kommission erkennt dabei die fehlende Selbstbestimmungsfähigkeit des Fötus und verweist darauf, dass weder abschließend geklärt sei, ob ein solches pränatales Sterberecht bestünde, noch, wer darüber entscheiden dürfe (S. 202). Zudem stellt sie fest, dass nach geltender Rechtslage eine aktive Tötung des geborenen Kindes strafbar ist (S. 202).
Man muss sich hier klar vor Augen führen, dass es darum geht, die Entscheidung über die potenzielle Lebensqualität eines zukünftigen Individuums in die Hände anderer Personen zu geben. Dadurch kann keinerlei Zusammenhang mehr zur Selbstbestimmung dieses Individuums bestehen. Vielmehr maßt sich ein solches pränatales Recht auf selbstbestimmtes Sterben an, die Lebensqualität und den Lebenswert des nasciturus zu beurteilen, bevor dieser überhaupt Selbstbestimmungsfähigkeit entwickelt. Dies lässt sich mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinen. Die Kommission diskutiert die (potenzielle) vorgeburtliche Geltung der Menschenwürdegarantie intensiv (S. 167-183) und hält es für überzeugender, diese abzulehnen (anders jedoch BVerfGE 39, 1; BVerfGE 88, 203).14
Geht man jedoch von der Geltung der Menschenwürde auch vor Geburt aus – eine wohl zwingende Voraussetzung auch für die Annahme eines pränatalen Rechts auf selbstbestimmtes Sterben – argumentiert die Kommission, dass Abtreibungen grundsätzlich mit der Menschenwürdegarantie vereinbar seien, da keine Entscheidung über den Lebenswert des Embryos getroffen werde (S. 186). Gerade diese Entscheidung würde eine eigenständige embryopathische Indikationen jedoch – jedenfalls für einige Föten – gesetzlich festschreiben.
Schließlich geht die Kommission noch auf Ausnahmefälle ein, in denen eine Würdeverletzung denkbar wäre: Wenn wegen einer Behinderung generell das Lebensrecht abgesprochen würde oder Embryonen nach Geschlecht selektiert würden. Doch wie eben ausgeführt spricht schon ein fremdbestimmtes Recht auf Sterben oder eine anderweitig konstruierte eigenständige embryopathische Konstruktion das Lebensrecht ab. Zudem begründet die Kommission nicht, warum eine Selektion nach Geschlecht den Menschenwürdekern berührt, eine Selektion nach Behinderung jedoch nicht. Überzeugender erscheint es daher, einen graduellen Würdeschutz anzunehmen, der mit den Rechten der schwangeren Person abzuwägen ist. Werden entgegenstehende Rechte der schwangeren Person jedoch wie bei einer eigenständigen embryopathischen Indikation aus der Gleichung entfernt, liegt eine Würdeverletzung des nasciturus vor.
Schließlich muss in diesem Zusammenhang an die Hundertausende Opfer, die dem eugenischem Gedankengut des Nationalsozialismus zum Opfer gefallen sind, erinnert werden. Zwar sind die Beweggründe für die Einführung einer eigenständigen embryopathischen Indikation andere als bei der auf Gen- und Volksgesundheit fokussierten Rassenhygiene. Sie knüpfen aber dennoch an eine externe Beurteilung der Lebensqualität – und damit auch des Wertes – anderer Personen an und perpetuieren damit jedenfalls teilweise eugenisches Gedankengut. Solche Erwägungen hätte die Kommission klar zurückweisen müssen, insbesondere weil das Grundgesetz als Antithese zum Nationalsozialismus entworfen wurde (BVerfGE 124, 300, 328). Dass dies nicht selbstverständlich ist, zeigen besorgniserregende Entwicklungen in unseren Nachbarländern: So erlauben die Niederlande die aktive Tötung Neugeborener unter einem Jahr, sollte „unerträgliches Leiden ohne Aussicht auf Besserung“ ärztlich festgestellt werden.15 Die Niederlande sind – soweit ersichtlich – das einzige Land weltweit, dass die Tötung behinderter Neugeborener erlaubt. Allerdings identifiziert die Weltgesundheitsorganisation in 76 Ländern fötale Beeinträchtigungen als legalen Abtreibungsgrund.16
Ein selbstgemachtes Dilemma
Die Kommission erkennt an, dass der Gesetzgeber bezüglich der embryopathischen Indikation in einem Dilemma steckt (S. 203). Doch dieses Dilemma ließe sich – wie die Kommission selbst feststellt – lösen, wenn man von einer Indikationslösung absehen und den Schwangerschaftsabbruch weitestgehend liberalisieren würde. Aber selbst wenn man im Sinne des effektiveren Lebensschutzes an einer Indikationslösung festhalten wollte, kann eine explizite Aufnahme der embryopathische Indikation – auch wenn sie als Unterfall der medizinischen Indikation an die Rechte der schwangeren Person anknüpft – nicht überzeugen: Ein rechtlich neutral formuliertes Gesetz bildet den ersten Schritt in der staatlichen Verpflichtung Deutschlands, bestehende Stereotypen über Menschen mit Behinderung zu bekämpfen (Art. 8 (1)(b) UN BRK). Keineswegs handelt es sich bei einer neutral formulierten medizinischen Indikation also bloß um einen „Etikettenschwindel“ (Kommissionsbericht, S. 63). Im Gegenteil, nur so würde deutlich, dass es allein um den gesundheitlichen Zustand der Schwangeren geht, den die Geburt eines behinderten Kindes eventuell beeinträchtigt. Damit ist allenfalls eine subjektiv-private Entscheidung der Frau über ihre eigene Lebensqualität verbunden, nicht aber über die Qualität des potenziellen Lebens des Ungeborenen.
Die Lebensqualität des potenziellen Kindes darf in keinem Fall Anknüpfungspunkt einer gesetzlichen Regelung sein, denn sie käme einer Lebenswertentscheidung gleich. Als solche müsste sie sachnotwendig auf einer Liste von gesundheitlichen Beeinträchtigungen basieren, die als unzumutbar gälten. Eine solche Liste, wie auch eine diagnose-orientierte Einzelfallbewertung, würde stets eine ableistische (eugenische) Ideologie akzeptieren und wäre damit verfassungs- und völkerrechtswidrig. Einziger Anknüpfungspunkt muss daher weiterhin das Wohlergehen der schwangeren Person bleiben.
Als Hauptargument für eine embryopathischen Indikation wird die Rechtssicherheit angeführt – gerade diese wäre aber durch eine gänzliche Abkehr von Indikationslösungen und weitgehender Liberalisierung umso mehr gewahrt, da kein Rechtfertigungsbedürfnis mehr bestehen würde. Aber auch eine breitgefasste sozio-medizinische Indikation wäre rechtssicher, wenn die Gesetzgebung einen subjektiven Gesundheitsbegriff aufnehmen und entsprechend die Bewertung der höchstpersönlichen Beweggründe der Schwangeren überlassen würde.
Hierzu könnte zum Beispiel eine Vermutungsregel zu Gunsten der Unzumutbarkeit eingeführt werden, ggf. unter Einhaltung gesteigerter Beratungspflichten. Dies dürfte, insbesondere angesichts des geringen Anteils von Abtreibungen im zweiten und dritten Trimester der Schwangerschaft (2,3 % bzw. 0,7 % der Abbrüche, S. 46), das ungeborene Leben hinreichend schützen. Gleichzeitig wäre damit auch das Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Person besser geschützt. Wie eine gemeinsame Erklärung des Frauen- und Behindertenrechtsausschuss klarstellt, müssen die Vertragsstaaten Lösungen finden, die weder reproduktive Rechte beschneiden noch diskriminierende oder stereotypisierende Wirkungen entfalten.17
Letztlich hat der Gesetzgeber einen großen Spielraum, wenn es darum geht, die medizinische Indikation neu zu gestalten. Im aktuellen Gesetzesentwurf wird die konkrete Ausgestaltung allerdings den Ländern überlassen. Es überrascht deshalb nicht, dass das Thema der embryopathischen Indikation während der ersten Lesung des Entwurfs sowie einer öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses zum Entwurf nahezu keine Rolle gespielt hat.18
Die Grenze des Entscheidungsspielraums ist jedenfalls dann klar erreicht, wenn es um Indikationen geht, die nicht mehr an die Belange der schwangeren Person, sondern ausschließlich an die Lebensqualität des Embryos anknüpfen und damit diskriminierendes, ableistisches und entwürdigendes Gedankengut fortschreiben. Auch deshalb ist es essenziell, dass die Gesetzgebung künftig ihrer völkerrechtlichen Pflicht nachkommt, Expert*innen mit Behinderung am Verfahren zu beteiligen.
- Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs, BT-Drs. 20/13775, https://dserver.bundestag.de/btd/20/137/2013775.pdf. ↩
- Godau, Laura-Theresa: (K)ein guter Kompromiss: Die Debatte über die widersprüchliche Rechtslage zu Schwangerschaftsabbrüchen, VerfBlog, 2025/1/06, https://verfassungsblog.de/kein-guter-kompromiss/. ↩
- Bericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmungund Fortpflanzungsmedizin, https://www.bmfsfj.de/resource/blob/238402/c47cae58b5cd2f68ffbd6e4e988f920d/bericht-kommission-zur-reproduktiven-selbstbestimmung-und-fortpflanzungsmedizin-data.pdf. ↩
- Seitinger, Elvira Anna: An der Schnittstelle zwischen Frauen- und Behindertenbewegung: Die Debatte um Pränataldiagnostik und Abtreibung in den 1980er- und 1990er-Jahren in Deutschland und Österreich. Wien: Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien, 2020, https://bidok.library.uibk.ac.at/obvbidoa/content/structure/7779881. ↩
- Concluding observations on the initial report of the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland, 03.10.2017, CRPD/C/GBR/CO/. ↩
- Consideration of reports submitted by States parties under article 35 of the Convention Concluding observations of the Committee on the Rights of Persons with Disabilities Spain, CRPD/C/ESP/CO/1, 19.10.2011, Rn. 16-17; Concluding observations on the initial periodic report of Hungary, CRPD/C/HUN/CO/1, 22.10.2012, Rn. 17-18; Concluding observations on the initial report of Austria, CRPD/C/AUT/CO/1, 30.09.2013, Rn. 14-15. ↩
- Committee on the Rights of Persons with Disabilities, Comments on the draft General Comment No 36 of the Human Rights Committee on article 6 of the International Covenant on Civil and Political Rights, https://www.ohchr.org/sites/default/files/Documents/HRBodies/CCPR/GCArticle6/CRPD.docx. ↩
- Guaranteeing sexual and reproductive health and rights for all women, in particular women with disabilities, Joint statement by the Committee on the Rights of Persons with Disabilities and the Committee on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women, 29.08.2018, https://www.ohchr.org/sites/default/files/Documents/HRBodies/CRPD/Statements/GuaranteeingSexualReproductiveHealth.DOCX. ↩
- Degener, Theresia: Die UN-Behindertenrechtskonvention – ein neues Verständnis von Behinderung, in: Theresia Degener, Elke Diehl (Hrsg.) Handbuch Behindertenrechtskonvention: Teilhabe als Menschenrecht – Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe, Bundeszentrale für Politische Bildung (BpB), 2015, S. 55-74, https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/Handbuch_Behindertenrechtskonvention.pdf. ↩
- Degener, Theresia: Vom medizinischen zum menschenrechtlichen Modell von Behinderung: Konzepte für Behindertenrecht und -politik, in: Iman Attia, Swantje Köbsell, Nivedita Prasad (Hrsg.) Dominanzkultur reloaded, transcript Verlag, 2015, S. 155-168. ↩
- Concluding observations on the initial report of the Kingdom of the Netherlands, 27.09.2024, CRPD/C/NLD/CO/1, Rn. 21-22; Concluding observations on the combined second and third periodic reports of Belgium, 30.09.2024, CRPD/C/BEL/CO/2-3, Rn. 16-17. ↩
- Ebd. Rn. 22(b): Ensure that persons using non-invasive prenatal testing are provided with comprehensive information and non-directive counselling that do not promote stereotypes about persons with disabilities and values associated with the medical model of disability, and help parents to make fully informed decisions. ↩
- BVerfG Urteil vom 26.02.2020, 2 BvR 2347/15. ↩
- Im Detail zur pränatalen Geltung der Menschenwürde: Sacksofsky, Ute: Präimplantationsdiagnostik und Grundgesetz, Kritische Justiz 36.3 (2003), S. 274-292. ↩
- Government of the Netherlands on the Termination of life newborn infants and late-term abortion, https://www.government.nl/topics/euthanasia/late-term-abortion-and-termination-of-life-newborn-infants#:~:text=The%20law%20permits%20physicians%20to,with%20no%20prospect%20of%20improvement. ↩
- WHO, Global Abortion Policies Database, https://abortion-policies.srhr.org/?mapq=q1h. ↩
- Guaranteeing sexual and reproductive health and rights for all women, in particular women with disabilities, Joint statement by the Committee on the Rights of Persons with Disabilities and the Committee on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women, 29.08.2018, https://www.ohchr.org/sites/default/files/Documents/HRBodies/CRPD/Statements/GuaranteeingSexualReproductiveHealth.DOCX. ↩
- Vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht 203. Sitzung, Plenarprotokoll 20/203, 05.12.2024; Deutscher Bundestag Rechtsausschuss, Stenografisches Protokoll der 133. Sitzung, 20/133, 10.02.2025. ↩