STREIT 2/2025
S. 72-77
OLG Saarbrücken, § 1626a Abs. 2 BGB, §§ 26, 30 Abs. 3 FamFG, Art. 31 Istanbul-Konvention
Zur Amtsaufklärungspflicht beim Verdacht auf häusliche Gewalt gegen die Mutter – und Keine Schutzwirkung durch eine Sorgerechtsvollmacht
1. Wendet der betreuende Elternteil erlittene häusliche Gewalt ein, so verstärkt die Ausstrahlungswirkung von Art. 31 der Istanbul-Konvention zum einen die Amtsermittlungspflicht des Familiengerichts in diese Richtung, zum anderen wirkt jene Norm auch materiell rechtlich auf die Voraussetzungen der Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge (hier nach § 1626a Abs. 2 BGB) ein; insbesondere darf es diesem Elternteil nicht als mangelnde Kooperationsbereitschaft ausgelegt werden, wenn er sich gegenüber dem anderen Elternteil aufgrund – erwiesenermaßen – erlebter häuslicher Gewalt ablehnend verhält (vgl. EGMR vom 10.11.2022 – 25426/20).
2. Außerdem kann der gewaltbetroffene Elternteil in der Regel nicht zu einer „Restkooperation“ mit dem anderen Elternteil verpflichtet werden, sodass selbst eine ihm vom anderen Elternteil umfassend erteilte Sorgevollmacht eine Alleinsorge des betreuenden Elternteils häufig nicht entbehrlich machen wird.
Beschluss des OLG Saarbrücken vom 22.04.2024 – 6 UF 22/24
Aus den Gründen
I.
Aus der im ersten Quartal 2018 begonnenen Beziehung zwischen dem 1985 geborenen Antragsteller (fortan: Vater) und der 1989 geborenen Antragsgegnerin (Mutter), die weder miteinander verheiratet waren noch sind, ging am … 2019 die beteiligte, heute 4 Jahre alte Tochter L. S. hervor. Der Vater hatte seine Vaterschaft am 30. August 2019 zu einem Zeitpunkt anerkannt, zu dem die Eltern bereits – seit Juni 2019 – zusammenlebten. Sorgeerklärungen gaben die Eltern nicht ab; die Mutter war zu einem diesbezüglichen Beurkundungstermin aus zwischen den Beteiligten streitigen Gründen nicht erschienen. […]
Die Eltern trennten sich im Oktober 2020 endgültig räumlich voneinander. Damals zog die Mutter mit L. aus der früheren gemeinsamen Wohnung aus. Die Mutter, die zuvor von ihr erlittene gewaltsame Übergriffe des Vaters mit der Folge tiefgreifender Traumatisierung behauptet, war bereits damals – seit Februar 2020 und bis heute – in psychotherapeutischer Behandlung bei der Psychologischen Psychotherapeutin C. in ....
Im vorliegenden, am 28. Dezember 2020 eingeleiteten Verfahren hat der Vater die Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge für L. erstrebt. Die Mutter ist dem Antrag entgegengetreten. […] Durch den angefochtenen Beschluss vom 4. Januar 2024, auf den Bezug genommen wird, hat das Familiengericht den Eltern die elterliche Sorge für L. zur gemeinsamen Ausübung übertragen.
Mit ihrer Beschwerde verfolgt die Mutter – von der Verfahrensbeiständin unterstützt – ihr erstinstanzliches Rechtsschutzziel weiter; […].
II.
Die nach §§ 58 ff. FamFG zulässige Beschwerde der Mutter hat in der Sache – vorläufigen – Erfolg und führt dem zuletzt von der Mutter ebenfalls gestellten Antrag gemäß zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und Zurückverweisung der Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung an das Familiengericht. Denn das angegangene Erkenntnis leidet an einem wesentlichen Verfahrensmangel und die Sache wird erst nach weiteren, aufwändigen Ermittlungen entscheidungsreif sein (§ 69 Abs. 1 S. 3 FamFG).
Das Familiengericht hat gegen die Inquisitionsmaxime des § 26 FamFG verstoßen, indem es eine Endentscheidung erlassen hat, ohne den Sachverhalt von Amts wegen ausreichend aufzuklären. Dieser Vorschrift gemäß hat das Gericht von sich aus – nach pflichtgemäßem Ermessen – die zur Feststellung der Tatsachen erforderlichen Ermittlungen zu veranlassen und durchzuführen sowie die geeignet erscheinenden Beweise aufzunehmen, wobei es allerdings – auch in kindschaftsrechtlichen Verfahren – selbst über den Umfang seiner Ermittlungen bestimmt (vgl. BVerfGE 79, 51).
Dabei erfordert der Amtsermittlungsgrundsatz in Kindschaftssachen, welche – wie hier – die Person des Kindes anbetreffen, eine am Grundrechtsschutz ausgerichtete Verfahrensgestaltung und eine besonders sorgfältige eigene Ermittlung des Sachverhalts, um eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu haben (vgl. BVerfGE 55, 171; BVerfG FamRZ 2022, 1616; 2009, 1897; BGH FamRZ 2011, 796; 2010, 1060 jeweils m. Anm. Völker; Senatsbeschlüsse vom 12. September 2022 – 6 UF 82/22 -, vom 22. April 2022 – 6 UF 24/22 – und vom 18. Februar 2022 – 6 UF 5/22 -, juris; Völker/Clausius, Sorge- und Umgangsrecht, 8. Aufl. 2021, § 1, Rz. 385). Zwar muss das Gericht nicht jeder nur denkbaren Möglichkeit nachgehen (dazu BGH FamRZ 2011, 1047). Eine Pflicht zu der Aufklärung dienlichen Ermittlungen besteht jedoch insoweit, als das Vorbringen der Beteiligten und der Sachverhalt als solcher bei sorgfältiger Prüfung hierzu Anlass geben. Die Ermittlungen sind erst dann abzuschließen, wenn von weiteren Ermittlungen ein sachdienliches, die Entscheidung beeinflussendes Ergebnis nicht mehr zu erwarten ist (BGH FamRZ 2010, 720; Senatsbeschlüsse vom 12. September 2022 – 6 UF 82/22 -, vom 22. April 2022 – 6 UF 24/22 – und vom 9. Juli 2020 – 6 UF 56/20 -).
Im – hier gegenständlichen – Verfahren auf Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge nach § 1626a Abs. 2 BGB gelten insoweit keine geringeren Anforderungen. Denn diese Vorschrift begründet – unter Ausnahme ihres hier nicht einschlägigen Abs. 2 S. 2, dessen verfahrensrechtliches Korrelat sich in § 155a Abs. 3 FamFG wiederfindet (vgl. dazu BVerfG FamRZ 2020, 1559) – kein Regel-Ausnahme-Verhältnis, einen Vorrang oder eine Vermutung zugunsten der gemeinsamen elterlichen Sorge. Ebenso wenig ist für Umstände, die der Übertragung der Sorge gemeinsam entgegenstehen, ein höheres Beweismaß zu fordern. Der Sachverhalt ist vielmehr vom Gericht umfassend und ergebnisoffen aufzuklären. […]
Gemäß Art. 31 des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11. Mai 2011 (sog. Istanbul-Konvention), das für die Bundesrepublik Deutschland am 1. Februar 2018 in Kraft getreten ist (BGBl. 2018 II, S.142), treffen die Vertragsparteien die erforderlichen gesetzgeberischen und sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallende gewalttätige Vorfälle bei Entscheidungen über das Besuchs- und Sorgerecht betreffend Kinder berücksichtigt werden (Abs.1) und die Ausübung des Besuchs- und Sorgerechts nicht die Rechte und die Sicherheit des Opfers oder der Kinder gefährdet (Abs. 2). Die Istanbul-Konvention ist als Auslegungshilfe für die Reichweite der entsprechenden materiell-rechtlichen Gewährleistungen des BGB zu berücksichtigen (Senatsbeschluss vom 7. Dezember 2022 – 6 UF 162/22 -; KG FamRZ 2023, 131); verhält sich ein Elternteil gegenüber dem anderen Elternteil aufgrund erlebter häuslicher Gewalt ablehnend, darf ihm dies insbesondere nicht als mangelnde Kooperationsbereitschaft ausgelegt werden (EGMR FamRZ 2023, 277).
An diesen Maßstäben gemessen, stellt sich der Erlass der beanstandeten Endentscheidung, ohne die psychischen Auswirkungen der Herstellung der gemeinsamen Sorge der Eltern auf die Mutter und – ggf. auch nur mittelbar – auf L. möglichst zuverlässig aufgeklärt zu haben, bei den obwaltenden Einzelfallumständen als schwerwiegend verfahrensfehlerhaft dar.
Die Mutter hat im gesamten Verfahren durchgängig die Begründung der gemeinsamen elterlichen Sorge für L. – im Kern – auch deswegen abgelehnt, weil der Vater sie ständig abwerte, oberlehrerhaft sei und versuche, sie zu dominieren. Sie habe während des Bestehens ihrer Partnerschaft mit dem Vater gewaltsame Übergriffe seitens diesem durchlebt und sei durch diese Erfahrung sowie das damalige Machtgefälle schwer traumatisiert. Im Falle der Anordnung der gemeinsamen Sorge würde sie retraumatisiert, was sich zugleich negativ auf L. auswirkte.
Diese Darstellung hat die Mutter erstinstanzlich mit der von ihr vorgelegten Bescheinigung ihrer Psychotherapeutin erhärtet. Darin wird eine Anpassungsstörung mit vorwiegender Beeinträchtigung von anderen Gefühlen (ICD 10 F43.23) attestiert. Die Mutter leide seit ihrer Trennung vom Vater unter Angstzuständen, die durch negative Erlebnisse in der Partnerschaft ausgelöst worden seien. In der Beziehung hätten massive Beschimpfungen und Einschüchterungen sowie glaubhafte negative Gewalterfahrung stattgefunden. Die aktuell bestehenden Gerichtsverhandlungen hätten zu einer erneuten Verstärkung der Ängste und zur Reaktivierung traumatischer Erlebnisse (häusliche Gewalt) geführt. Es sei zu Rückschlägen und Retraumatisierung der Mutter gekommen, die schwer zu stabilisieren gewesen seien und zu starker Belastung bei der Mutter geführt hätten. Unter dem Druck, den Ex- Partner konfrontieren zu müssen und dessen Kontrolle/Macht erneut ausgesetzt zu sein, hätten die kompensatorischen Mechanismen die traumatischen Erinnerungen nicht mehr fernhalten können, sodass es zu jener Retraumatisierung mit körperlicher Symptomatik gekommen sei. Aus diesem Grund habe sie der Mutter auch geraten, die Beratungsgespräche in Saarbrücken zu beenden. Es sei sehr wichtig, in der Therapie vor allem an der Abgrenzungsfähigkeit und dem Sicherheitsgefühl der Mutter weiterzuarbeiten. Die aktuelle Situation erschwere diesen Prozess sehr, indem das vorhandene Kontroll- und Machtgefüge als Normalität bzw. gegeben empfunden und somit verharmlost werde. Die Eltern sollten sich auf der gleichen Ebene begegnen und bewegen, was leider nicht der Fall sei. Durch das gemeinsame Sorgerecht würde das Sicherheitsgefühl der Mutter gefährdet werden, was aus ihrer – der Therapeutin – Sicht zur Verstärkung der Ängste und somit zu extremer Belastung der Mutter führen würde. Eine gezwungene Kommunikation im Rahmen des gemeinsamen Sorgerechts wäre im vorliegenden Fall aus ihrer psychotherapeutischen Einschätzung auch nicht zum Wohle des Kindes. Selbst wenn die Mutter eine umfängliche Vollmacht erhalte, würde sich an dieser Situation nichts ändern, denn der Vater könnte diese Vollmacht jederzeit wieder entziehen und weiterhin Kontrolle/Macht und ständige Kritik gegenüber der Mutter ausüben.
Das Familiengericht hat unbeschadet dieses – durch die genannte Bescheinigung unterlegten – Vorbringens und ohne weitere Erforschung des Sachverhalts in der Sache erkannt, weil es – zusammengefasst – der Auffassung gewesen ist, dass es die zurückliegenden Trennungsstreitigkeiten aus dem Jahr 2020 nicht aufklären könne und jedenfalls die – aus seiner Sicht wirksam – erteilte Sorgevollmacht ausreichend gewährleiste, dass die Mutter sich zukünftig nicht mehr mit dem Vater werde auseinandersetzen müssen; insbesondere dürfte das gemeinsame Sorgerecht die Mutter von unliebsamen E- Mails entlasten, da der Vater sein Informationsrecht nicht mehr über die Mutter ausüben werde, sondern direkt bei der Kita oder dem Kinderarzt usw. nachhören könne.
Dies greift bei den obwaltenden Einzelfallgegebenheiten indes zu kurz. Unterstellte man, dass festgestellt werden könnte, dass die Mutter während des Bestands der Beziehung der Eltern Opfer häuslicher Gewalt geworden war, so könnte dies – unter gebotener Berücksichtigung der Ausstrahlungswirkung von Art. 31 der Istanbul-Konvention – deutlich gegen die Begründung der gemeinsamen elterliche Sorge sprechen, zumal der Mutter dann – was von den Einzelfallumständen abhängt – die Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge mit dem Vater auch unzumutbar sein kann (siehe dazu etwa Senatsbeschluss vom 30. Juli 2010 – 6 UF 52/10 -, ZKJ 2010, 452; vgl. auch – zu massiven Herabwürdigungen eines Elternteils durch den anderen – Senatsbeschlüsse vom 5. November 2018 – 6 UF 82/18 -, FamRZ 2019, 985, und vom 1. April 2011 – 6 UF 6/11 -, FF 2011, 326). Bestehen dahingehende Ermittlungsansätze, hat das Familiengericht diesen daher amtswegig nachzugehen, um seiner Pflicht zu gedeihlicher, am Kindeswohl ausgerichteter und möglichst zuverlässiger Sachverhaltsaufklärung zu genügen.
Solche Anzeichen finden sich in den Akten, und zwar nicht nur in Form der Bescheinigung der Psychotherapeutin der Mutter. […] Dass das Familiengericht diese Anhaltspunkte zum Anlass für weitergehende Nachforschungen genommen hat, ist weder von einem Beteiligten vorgetragen worden noch anderweit ersichtlich. Es hat hiervon auch nicht mangels Entscheidungserheblichkeit dieser streitigen Tatsachen absehen können.
Denn sollten Vorfälle häuslicher Gewalt zum Nachteil der Mutter festzustellen sein, so wäre anschließend – im Lichte der für die Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten und vom Senat geteilten Rechtsmaßstäbe – weiter zu bedenken, dass die gemeinsame Ausübung der Elternverantwortung ein Mindestmaß an Übereinstimmung in wesentlichen Bereichen der elterlichen Sorge und – außerdem – insgesamt eine tragfähige soziale Beziehung zwischen den Eltern voraussetzt. […] Die Frage, welche Sorgerechtsregelung vorzuziehen ist, ist dabei davon unabhängig, welcher Elternteil für die fehlende Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit (überwiegend) verantwortlich ist (siehe zu diesem Gesichtspunkt BVerfG FamRZ 2010, 1403; BGH FamRZ 2008, 592). Maßgeblich ist vielmehr, welche Auswirkungen die mangelnde Einigungsfähigkeit der Eltern bei einer Gesamtbeurteilung der Verhältnisse auf die Entwicklung und das Wohl des Kindes haben wird. Die Gefahr einer erheblichen Belastung des Kindes kann sich im Einzelfall auch aus der Nachhaltigkeit und der Schwere des Elternkonflikts ergeben. Diese Belastung des Kindes muss nicht bereits tatsächlich bestehen, sondern es genügt die begründete Befürchtung, dass es zu einer solchen Belastung kommt. Dafür reicht die fundierte Besorgnis aus, dass die Eltern auch in Zukunft nicht in der Lage sein werden, ihre Streitigkeiten in wesentlichen Bereichen der elterlichen Sorge konstruktiv und ohne gerichtliche Auseinandersetzungen beizulegen. Denn ein fortgesetzter destruktiver Elternstreit führt für ein Kind zwangsläufig zu erheblichen Belastungen. In die Abwägung ist daher auch einzubeziehen, ob durch die Alleinsorge die Konfliktfelder zwischen den Eltern eingegrenzt werden, was für sich genommen bereits dem Kindeswohl dienlich sein kann, während schon das Risiko, dass das Kind durch die Begründung der gemeinsamen Sorge verstärkt dem fortdauernden Konflikt der Eltern ausgesetzt wird, dem Kindeswohl entgegenstehen kann (siehe zum Ganzen BGH FamRZ 2016, 1439; Senatsbeschlüsse vom 12. April 2021 – 6 UF 173/20 -, vom 2. Januar 2020 – 6 UF 114/19 -, vom 7. November 2019 – 6 UF 100/19 – und vom 20. September 2016 – 6 UF 74/16 -).
Von der mithin unabdingbaren Klärung der Frage, wie sich die Begründung einer gemeinsamen elterlichen Sorge für L. auf diese auswirken würde, hat das Familiengericht – jedenfalls im derzeitigen Erkenntnisstand – auch nicht mit Blick auf die vom Vater zu Protokoll erteilte Sorgevollmacht Abstand nehmen können.
Denn die Erteilung einer Sorgerechtsvollmacht kann die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge – zum einen – nur entbehrlich machen, soweit sie dem bevollmächtigten Elternteil eine ausreichend verlässliche Handhabe zur alleinigen Wahrnehmung der Kindesbelange gibt (BGH FamRZ 2020, 1171; Senatsbeschluss vom 2. März 2023 – 6 UF 9/23 -). Wäre aber die gemeinsame elterliche Sorge der Mutter wegen erfahrener häuslicher Gewalt im Streitfall nicht zumutbar, so würde auch eine umfassende Vollmachterteilung keine abweichende Sicht rechtfertigen, weil die Widerruflichkeit der Vollmacht das Opfer dem psychischen Druck des anderen Elternteils ausgesetzt ließe, und sich außerdem selbst ohne Vollmachtswiderruf eine Mitwirkung des Vollmachtgebers – und damit verbunden eine diesbezügliche Kooperation der Eltern – als notwendig erweisen kann, wenn Dritte die Vollmacht nicht akzeptieren (vgl. dazu BGH FamRZ 2020, 1171; Senatsbeschlüsse vom 20. Oktober 2022 – 6 UF 107/22 -, vom 25. April 2022 – 6 UF 30/22 – und vom 28. März 2022 – 6 UF 160/21 -).
Hinzu kommt – was gerade im vorliegenden Einzelfall gewichtig bedacht sein will –, dass auch ein erschöpfend Vollmacht erteilender Elternteil – ob seiner Mitsorge für das Kind – dennoch zur Kontrolle (!) des anderen Elternteils befugt und verpflichtet bleibt (BGH a. a. O.; Völker/Clausius, a. a. O. Rz. 23). Insoweit bestehen hier angesichts der aktenkundigen häufigen Kontaktaufnahmen des – vormals nicht sorgeberechtigten und daher lediglich gemäß § 1686 BGB in eingeschränktem Umfang auskunftsberechtigten (vgl. dazu BGH FamRZ 2017, 378, juris Rz. 30 f.) – Vaters zur Mutter wegen einer Vielzahl L. anbetreffender Punkte aus Sicht des Senats nicht unerhebliche Zweifel daran, dass der Vater – wie nach Dafürhalten des Familiengerichts – sich für den Fall der Übertragung der gemeinsamen Sorge künftig darauf beschränken würde, Informationen bei Dritten einzuholen. Vielmehr kann im jetzigen Sachstand nicht ausgeschlossen werden, dass der so unterrichtete Vater diese verwenden würde, um die Mutter – entweder direkt oder über Dritte – erneut Belastungen auszusetzen, die sich dann auch nachteilig auf L. auswirken könnten.
Zum anderen käme der Wahrung des Schutzbedürfnisses des von häuslicher Gewalt betroffenen, bevollmächtigten Elternteils eingedenk der vorgenannten Ausstrahlungswirkung von Art. 31 der Istanbul- Konvention besonderes Gewicht für die gerichtliche Entscheidung zu. Danach kann der betroffene Elternteil in der Regel nicht zur einer „Restkooperation“ mit dem anderen Elternteil verpflichtet werden, sodass eine Sorgevollmacht eine Alleinsorge jenes Elternteils häufig nicht entbehrlich machen kann (vgl. dazu auch die mit 41:0:0 Stimmen angenommene These 4 des Arbeitskreises 8 des 24. Familiengerichtstages 2023, abrufbar unter www.dfgt.de/resources/2023Arbeitskreis08.pdf). […]
Das angegangene Erkenntnis beruht auf dem dargestellten Verfahrensmangel, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Einbeziehung des Ergebnisses der nunmehr anzustellenden Ermittlungen in die gebotene Gesamtbeurteilung zu einer abweichenden Sachentscheidung führen wird. Nach alledem ist die bemängelte Entscheidung aufzuheben und die Sache nach Maßgabe der Entscheidungsformel zur erneuten Behandlung und Entscheidung – auch über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsmittelverfahrens – an das Familiengericht zurückzuverweisen. […]
Anmerkung:
Das Oberlandesgericht arbeitet in dieser Entscheidung heraus, wie das familiengerichtliche Verfahren unter den Anforderungen der Istanbul-Konvention zu gestalten ist. Sie ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil sie eine noch immer weit anzutreffende erstinstanzliche Praxis ganz klar als Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht der Familiengerichte erkennt, nämlich die unzureichenden Ermittlungen in Fällen von häuslicher Gewalt.
Geradezu archetypisch erscheint die zusammengefasst wiedergegebene Begründung des Amtsgerichts: es könne die zurückliegenden Trennungsschwierigkeiten aus dem Jahr 2020 nicht aufklären. Das Familiengericht hatte den Vortrag zur häuslichen Gewalt nicht beachtet und sich der Wahrnehmung entzogen, welche Auswirkungen häusliche Gewalt haben kann. Folglich unterblieben in der ersten Instanz Ermittlungen hinsichtlich der von der Mutter geschilderten Abwertung, Machtausübung und Gewalttätigkeit seitens des Vaters völlig.
Genauso typisch ist der Umstand, dass die vom Amtsgericht getroffene Entscheidung, wäre sie wirksam geworden, als Verstärker für das Machtstreben des Vaters gewirkt hätte: Wenn dieser als Mitsorgeinhaber direkt mit Kita und Kinderarzt hätte konferieren können, wie das Familiengericht es hatte ermöglichen wollen, hätte der Vater auf die durch psychische Gewalt bereits schwer beeinträchtigte Mutter des gemeinsamen Kindes noch größeren Druck ausüben können, mit weiteren „Autoritäten“ an seiner Seite.
Deutlich arbeitet das OLG heraus, dass die Ermittlungen zu Art, Umfang und Auswirkungen häuslicher Gewalt sowohl im Interesse des gewaltbetroffenen Elternteils (Art. 31 IK) wie auch im Interesse des Kindeswohls unverzichtbar zum Amtsermittlungsauftrag nach § 26 FamFG gehören (vgl. zu den Ermittlungsansätzen: Heinke, Sabine; Wiltvang, Wiebke; Meysen, Thomas: Kindschaftssachen nach häuslicher Gewalt. Praxishinweise für die Verfahrensführung und Mitwirkung, in Meysen, Thomas (Hrsg.): Kindschaftssachen und häusliche Gewalt. Umgang, elterliche Sorge, Kindeswohlgefährdung, Familienverfahrensrecht. Heidelberg 2021, S. 103 ff., kostenloser Download bei BMFSFJ; Heinke, Sabine: Auswirkungen der Istanbul-Konvention auf die familiengerichtliche Amtsermittlung in Sorge und Umgangssachen, STREIT 2022, S. 52 ff.). Die Entscheidung bietet somit eine deutliche und unmissverständliche Konkretisierung für den in der Kommentierung zu § 26 FamFG vorfindlichen Satz: „Insgesamt entscheidet das Gericht über den Umfang der Amtsermittlungen und die Mittel zur Sachaufklärung nach pflichtgemäßem Ermessen“ (Prütting/Helms/Prütting, FamFG, 6. Aufl., § 26 Rz. 22). In Fällen von häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen ist dieses Ermessen gebunden.
Klar beschreibt das OLG den Pflichtenkatalog: bestehen Anhaltspunkte für häusliche Gewalt, muss hierzu ermittelt werden. Dass es sich dabei um aufwändige Ermittlungen handeln kann, entbindet das Familiengericht nicht davon, sich dieser Arbeit zu unterziehen, ebensowenig wie das Einigungsgebot und/oder der Beschleunigungsgrundsatz die erforderlichen Ermittlungen obsolet machen (vgl. hierzu Bülthoff, Katrin; Heinke, Sabine: Das Verschwinden häuslicher Gewalt im familiengerichtlichen Verfahren im Zusammenspiel der Interpretationen von Wohlverhaltenspflicht und Kindeswohl, STREIT 2/2024, S. 51 ff.; zu den verfahrensrechtlichen Vorgaben der Istanbul-Konvention vgl. auch Volke, Petra, Die Empfehlungen des Expertenausschusses zur Umsetzung der Istanbul-Konvention im Hinblick auf familiengerichtliche Verfahren, FamRZ 2022, S. 1907 ff.; dies., Die Rechtsprechung des EuGHMR zum Thema „Häusliche Gewalt gegen Frauen“, FamRZ 2023, S. 333 ff.
Die Entscheidung kann daher helfen, die strategischen Überlegungen bei der anwaltlichen Vertretung von Opfern häuslicher Gewalt in Sorge- und Umgangsverfahren in die Richtung zu lenken, erlittene Verletzungen und Beeinträchtigungen klar zu benennen und deutlich zu beschreiben und dem Gericht Ermittlungsansätze aufzuzeigen.
Sabine Heinke