STREIT 2/2025

S. 77-80

OLG Nürnberg, § 1684 Abs. 4 BGB, Art. 31 Abs. 1 Istanbul Konvention

Kriterien für den Umgangsausschluss bei Gewalt gegen die Mutter

1. Ab welcher Dauer ein Umgang „für längere Zeit“ ausgeschlossen wird, hängt vom kindlichen Zeitempfinden ab.
2. Nach Art. 31 Abs. 1 der Istanbul Konvention sind bei miterlebter häuslicher Gewalt die beim Kind fortbestehenden Belastungen in der Vergangenheit sowie die Gefahren wegen andauernder Angst und Bedrohung zu berücksichtigen.
3. Der gewaltausübende Elternteil muss dem Kind die emotionale Sicherheit vermitteln, die es durch die miterlebte Gewalt verloren hat. Wenn er die Gewalt abstreitet, dem Kind gegenüber bagatellisiert, seine Belastung nicht sieht und aufgreifen kann, den anderen Elternteil in Gesprächen mit dem Kind herabwürdigt oder verbal attackiert oder erneute Gewalttaten zu befürchten sind, wird dies in der Regel ausgeschlossen sein.

Beschluss des OLG Nürnberg vom 16.05.2024 – 11 UF 329/24

Aus den Gründen
I
1. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung gegen den vom Amtsgericht X mit Beschluss vom 22.02.2024 vorgenommenen Ausschluss des Umgangs des Beschwerdeführers mit seinen Kindern […], bietet keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, § 76 Abs. 1 FamFG, § 114 ZPO.
Die Beteiligten sind seit …2016 miteinander verheiratet. Sie sind Eltern der Kinder A…, geb. am …2016, und B…, geb. am …2018. Der Vater war bei der Heirat und sodann bis März 2019 inhaftiert. Die Eltern leben seit Jahren in einer On/Off Beziehung und seit Juli 2019 immer wieder in verschiedenen Wohnungen. Seit 27.10.2023 bekunden beide ihren Willen, getrennt zu leben. Ein Scheidungsverfahren ist beim Amtsgericht X anhängig.
Die Beziehung der Eltern ist von der Ausübung von Partnerschaftsgewalt durch den Vater geprägt. […]
Mit Beschluss des Amtsgerichts X vom 22.02.2024, Az.: …, wurde der Mutter angesichts der Vorgeschichte und des neuerlichen Vorfalls vom 27.10.2023 in Abänderung der Entscheidung vom 10.10.2023 aus dem Verfahren … die alleinige elterliche Sorge für die Kinder A…, geb. am …2016, und B…, geb. am …2018, übertragen und jeder persönliche Umgang des Vaters mit den beiden Kindern ausgeschlossen. Ihm wurde nur gestattet, den Kindern zum Geburtstag und zu Ostern Geschenke mit einem Begleitbrief zukommen zu lassen. […]

2. Der Vater wendet sich mit seiner am 18.03.2024 zulässig eingelegten Beschwerde gegen den Umgangsausschluss. Er verfolgt mit der Beschwerde das Ziel, mindestens begleiteten Umgang mit seinen Söhnen zu erlangen. Er ist dabei der Auffassung, dass er den Kindern ja nie Gewalt „oder sonstige Verhaltensweisen“ angetan habe. Mit der Übertragung der elterlichen Sorge auf die Mutter seien die Kinder ausreichend geschützt.
Die Mutter verweist im Beschwerdeverfahren darauf, dass sie und die Kinder mindestens vier weitere Monate brauchen, um sich halbwegs von den Strapazen zu erholen. Die Kinder hätten geweint, als sie gehört haben, dass sie erneut vom Gericht angehört werden müssen. Sie hätten gesagt, dass sie wollen, dass alles endlich aufhört.
Der Vater wurde mittlerweile wegen der Tat vom Amtsgericht X zu einer zehnmonatigen Haftstrafe verurteilt. Der Vater legte gegen das Urteil Berufung ein.

II
Der vom Amtsgericht für die Dauer von sechs Monaten vorgenommene Umgangsausschluss ist auf der Basis des § 1684 Abs. 4 S. 1 BGB zum Schutz der Kinder gerechtfertigt. Die auf Erlangung eines begleiteten Umgangs gerichtete Beschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg.
1. Die Entscheidung des Gerichts über die Gestaltung des Umgangs hat sich gemäß §§ 1684, 1697 a BGB am Wohl des Kindes zu orientieren. Neben dem Wohl des Kindes ist auch das Recht des nichtbetreuenden Elternteils auf Umgang mit seinem Kind nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, aber auch das Persönlichkeitsrecht des Kindes nach Art. 2 GG zu berücksichtigen. Bei der Abwägung ist der Wille des Kindes zu beachten, sofern das Kind über die für eine eigenverantwortliche Entscheidung notwendige Einsichtsfähigkeit verfügt und so weit sein Wille mit dem Kindeswohl vereinbar ist. Dabei kommt dem Kindeswillen mit zunehmendem Alter und gesteigerter Einsichtsfähigkeit vermehrte Bedeutung zu (vergl. BVerfG, FamRZ 2008, 1737). Nach § 1684 Abs. 4 S. 1 BGB kann das Amtsgericht das Umgangsrecht einschränken oder ausschließen, soweit dies zum Wohl des Kindes erforderlich ist. Wann eine Maßnahme „für längere Zeit“ oder „auf Dauer“ ist, hängt in erster Linie vom kindlichen Zeitempfinden ab, ist aber in der Regel ab einer Dauer von sechs Monaten anzunehmen, bei sehr kleinen Kindern ab einer Dauer von drei Monaten (Götz, in: Grüneberg, BGB, 84. Aufl., § 1684 Rn. 34; Rake, in: Johannsen/Henrich/Althammer, Familienrecht, 7. Aufl., § 1684 BGB Rn. 54). Angesichts des Alters der beiden Kinder, sechs und sieben Jahre, ist hier davon auszugehen, dass ein Umgangsausschluss für eine Dauer von sechs Monaten noch keine Regelung von „längerer Zeit“ ist.

2. Der vom Amtsgericht vorgenommene Umgangsausschluss ist jedenfalls zum Wohl der Kinder geboten, § 1684 Abs. 4 S. 1 BGB. Er würde aber auch den Anforderungen des § 1684 Abs. 4 S. 2 BGB genügen, weil er geeignet ist, eine weitere Gefährdung der Kinder abzuwenden. Es gibt angesichts des vom Amtsgericht sorgfältig auf der Basis des Jugendamtsberichts, des Berichts des Verfahrensbeistands und der eigenen Kindesanhörungen herausgearbeiteten Willens der Kinder keinen Zweifel daran, dass die Kinder momentan noch von der Angst geprägt sind, die sie angesichts des Vorfalls vom 27.10.2023 erleben mussten, und das Wiedersehen mit dem Vater ablehnen. […]
Auch wenn B. einmalig gegenüber der Verfahrensbeiständin geäußert hat, den Vater beim Kinderschutzbund wieder sehen zu wollen, hat er dies später nicht mehr wiederholt. Vielmehr hat er seine Weigerung, den Vater wiedersehen zu wollen, bei der amtsgerichtlichen Anhörung damit begründet, dass die Mama mit dem Krankenwagen weggefahren sei. Dies spricht dafür, dass er die Trennung von der Mutter, die durch die Gewalt des Vaters bedingt war, als belastend wahrgenommen hat.
Auch wenn der Beschwerdeführer bestreitet, die Mutter am 27.10.2023 vor den Augen der Kinder massiv niedergeschlagen zu haben, ist bei der hier gebotenen summarischen Prüfung vor dem Hintergrund der polizeilichen Ermittlungen und der Angaben der Mutter sowie der Kinder davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer (erneut) gegenüber der Mutter gewalttätig geworden ist. Mittlerweile wurde er wegen dieser Tat zu einer zehnmonatigen Haftstrafe verurteilt.

Die von den Kindern miterlebte Gewalt gegen den anderen Elternteil wirkt sich in Form der psychischen Gewalt direkt auch auf die Kinder aus (so auch OLG Köln FamRZ 2011, 571; OLG Frankfurt FamRZ 2022, 1939 juris Rn. 16; Dürbeck, in: Staudinger, BGB, Bearb. 2023, § 1684 Rn. 319; Becker/Büchse ZKJ 2011, 292 – 295). Kinder sind abhängig von demjenigen, der sie betreut und versorgt und identifizieren sich mit ihm. Deswegen erleben sie Gewalt gegen den betreuenden Elternteil auch als Bedrohung gegen sich selbst, ihr eigenes Stresssystem reagiert intensiv (Brisch, in: Brühler Schriften zum Familienrecht, Bd. 15, S. 89, 107). Wie der Beschwerdeführer auf dieser Basis behaupten lassen kann, er habe den Kindern weder Gewalt noch „sonstige Verhaltensweisen“ angetan, ist nicht nachvollziehbar.
Es liegt auf der Hand, dass die Kinder erhebliche Ängste und Ohnmachtsgefühle erleben mussten, die sie auf den Balkon laufen und um Hilfe schreien haben lassen. B… musste die eigene Hilflosigkeit besonders erfahren, als er auf das Bein des Vaters schlug, damit der Vater von der Mutter ablässt, was diesen aber nicht beeindruckt hat. Beide Kinder haben ihre Mutter voller Blut gesehen. Noch bei der Anhörung der Kinder beim Amtsgericht knappe Monate später wirkten sie belastet und konnten über das Geschehen nicht frei sprechen. Hinzu kommt, dass dies nicht das erste Mal war, dass sie die Gewalt des Vaters gegen die Mutter miterleben mussten. Der Sachverständige Prof. … hat schon in seinem im Verfahren … vom Amtsgericht eingeholten Gutachten festgestellt, dass für die Kinder eine kindeswohlgefährdende Situation aus krisenhaften Zuspitzungen und Belastungen besteht, die nur noch nicht zu nachhaltigen Schädigungen geführt haben. Es wurden aber bereits Auffälligkeiten bei den Kindern festgestellt wie Ängste, Einnässen, körperliche Gewalt, Stottern, Unkonzentriertheit und grenzloses Verhalten. Das war vor dem Vorfall vom 27.10.2023, der die Situation für die Kinder nochmals verschärft hat.

Aus der Bindungsforschung ist bekannt, dass der Besuchskontakt und Umgang mit leiblichen Eltern nach traumatischen Erfahrungen mit Täter-Eltern beim Kind erneute Angst erzeugt und es zu einer Re-Traumatisierung kommen kann. Kinder werden dann erneut mit den Affekten von Angst und Ohnmacht überschwemmt, mit denen sie in der Regel nicht umgehen können. Dabei kann der begleitete Umgang an sich keine emotionale Sicherheit bieten, weil die Umgangsbegleitung die emotionale Verunsicherung des Kindes durch den erneuten Kontakt mit dem Täter nicht ausgleichen kann (Brisch, in: Brühler Schriften zum Familienrecht, Bd. 15, S. 89, 109).
Bei der Entscheidung über den Umgang müssen daher auch unter Berücksichtigung von Art. 31 Abs. 1 des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11.5.2011 (BGBl. 2017 II 1026), Istanbul Konvention, die fortbestehenden Belastungen durch die erlebte Gewalt in der Vergangenheit sowie die Gefahren wegen andauernder Angst und Bedrohung berücksichtigt werden (Meysen/Lohse, in: Meysen, Kindschaftssachen und häusliche Gewalt, Kapitel 1, S. 19, 25). […]
Der gewaltausübende Elternteil muss dem Kind die emotionale Sicherheit vermitteln, die sie durch die miterlebte Gewalt verloren haben. Dies kann er insbesondere dann nicht, wenn er die Gewalt abstreitet, den Kindern gegenüber bagatellisiert, ihre Belastung nicht sehen und aufgreifen kann, den anderen Elternteil in Gesprächen mit den Kindern herabwürdigt oder verbal attackiert oder erneute Gewalttaten zu befürchten sind.

Der Senat schließt sich daher den in der Forschung zu den Auswirkungen häuslicher Gewalt entwickelten Kriterien an. Danach kann ein Umgang bei von den Kindern miterlebter schwerer häuslicher Gewalt in der Regel frühestens dann wieder in Betracht kommen, wenn die Kinder bereit sind, den Täter wieder zu sehen und verlässlich folgende Fragen geklärt sind:
Hat der nachweislich gewalttätige Elternteil sich nicht nur zu seinen Taten bekannt, sondern auch in tragfähiger Weise Verantwortung dafür übernommen? Hat der gewalttätige Elternteil Wege erarbeitet, wie er dem Kind sein Bedauern über die ihnen zugefügte Belastung zum Ausdruck bringen und sich adäquat im Umgang mit ihnen verhalten kann? Solange diese Fragen nicht geklärt sind, ist der Umgang in der Regel zumindest vorläufig auszuschließen (Meysen/Lohse a. a. O. Kapitel 4 S. 105, 114 und Kapitel 1 S. 25; Brisch, a. a. O., S. 89, 110; hierzu auch Burschik/Schreiner-Hirsch ZKJ 2024, 123, 127). Auch begleiteter Umgang vermag Kinder andernfalls nicht vor der psychischen Belastung zu schützen (Dürbeck, in: Staudinger, BGB, Bearb. 2023, § 1684 Rn. 320).
3. Gemessen an diesen Kriterien liegt keine der Voraussetzungen vor, die auch nur einen begleiteten Umgang rechtfertigen können. Die Kinder sind momentan nicht zum Umgang bereit. Der Beschwerdeführer übernimmt keine Verantwortung für die Tat, vielmehr bestreitet er sie und lässt nicht im Ansatz erkennen, dass er Verständnis für die Situation der Kinder hat, obwohl ihm schon im Beschluss des Amtsgerichts vom 10.10.2023 im Verfahren … sehr deutlich die Auswirkungen auch miterlebter Gewalt auf Kinder dargestellt wurden.
Hinzu kommt im vorliegenden Verfahren, dass die Gefahr der Wiederholung erneuter Gewalttaten gegen die Mutter besteht. Dies setzt die Kinder für den Fall, dass Umgang gewährt wird, der Situation aus, dass sie den Vater einerseits als Spielpartner erleben, andererseits ihm aber wieder als Täter begegnen müssen. Es besteht daher die Gefahr erneuter emotionaler Verunsicherung und Schädigung der psychischen Gesundheit der Kinder. Bei erneuter Gewaltanwendung gegen die Mutter besteht zudem die Gefahr, dass die Kinder die Mutter, von der sie in der Versorgung abhängig sind, zumindest (hoffentlich nur) kurzfristig durch erneute Krankenhausaufenthalte verlieren könnten. Auch vor diesen Gefahren kann der begleitete Umgang nicht schützen, da sich jedenfalls im Rahmen der Organisation des begleiteten Umgangs, z. B. bei den Übergaben, Kontaktmöglichkeiten nicht vermeiden lassen. […]
Die Tatsache, dass die Eheleute jetzt getrennt leben, mindert das Risiko nicht, erhöht es vielmehr. Insofern haben Forschungen ergeben, dass das Risiko weiter Gewalt zu erleben oder sogar getötet zu werden, nach dem Ende der Beziehung andauert bzw. sogar höher ist als zuvor (Nothafft/Erhard/Pouwels, in: Safty first!, Ergebnisse der Begleitforschung zur Praxisimplementationsphase des Münchner Fragebogens zur Dokumentation und zur Gefährlichkeitseinschätzung in Umgangs- und Sorgerechtsverfahren bei „Häuslicher Gewalt“, 2022, S.14–18). […]

4. Der Ausschluss jeglichen persönlichen Umgangs mit den Kindern bis 22.08.2024 entspricht angesichts der noch vorhandenen Belastungen der Kinder der Verhältnismäßigkeit, […]. Insofern hat auch das Bundesverfassungsgericht schon entschieden, dass das Umgangsrecht des Vaters insbesondere dann zurücktreten muss, wenn das Wohl der in der Obhut der Mutter aufwachsenden Kinder bedroht ist, da das Wohl der Kinder unmittelbar von der körperlichen Unversehrtheit der Mutter abhängig ist (BVerfG FamRZ 2013, 433 Rn. 24; Dürbeck, in: Staudinger, BGB, 2023, § 1684 Rn. 319). Der Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe ist daher abzulehnen.