STREIT 3/2022
S. 102-103
„Geburtshilfliche Gewalt“ in der Menschenrechtsdogmatik
Leicht überarbeiteter Beitrag auf Grundlage von Translating Sociological Theories of Obstetric Violence into Human Rights Doctrine, Obstetric Violence Blog, 21.9.2021, abrufbar unter https://www.durham.ac.uk/research/institutes-and-centres/ethics-law-life-sciences/about-us/news/obstetric-violence-blog/translating-sociological-theories-of-violence/.
Überall auf der Welt erleben Gebärende Gewalt in der Geburtshilfe – auch in Deutschland. Betroffene berichten von Erniedrigungen, Vernachlässigung, Drohungen und insbesondere Eingriffen ohne oder gegen ihren Willen, etwa vaginale Untersuchungen, Dammschnitte und Kaiserschnitte. Sozialwissenschaftler*innen verwenden für diese Phänomene unterschiedliche Begriffe, z. B. „Respektlosigkeit“1
, „Misshandlung“2
oder „Gewalt“3
in der Geburtshilfe.4
Obwohl sich diese Begriffe in ihrem Fokus unterscheiden, beschreiben sie alle sowohl den individuellen als auch den strukturellen Charakter dessen, was im Kreißsaal passiert. Sie bezeichnen nicht nur die körperliche Gewalt, sondern auch Diskriminierung und Mängel im Gesundheitssystem. In diesem Beitrag geht es nicht darum, für einen dieser Begriffe zu plädieren. Stattdessen möchte ich am Beispiel des Begriffs „geburtshilfliche Gewalt“ analysieren, wie sich diese sozialwissenschaftlichen Begriffe in die Menschenrechtsdogmatik übersetzen.
Im Jahr 2019 veröffentlichte die damalige Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für Gewalt gegen Frauen, Dubravka Šimonović, einen „Bericht über einen menschenrechtsbasierten Ansatz gegen Misshandlung und Gewalt gegen Frauen in reproduktiven Gesundheitsdiensten mit Schwerpunkt auf Geburt und geburtshilflicher Gewalt“,5
der auf sozialwissenschaftlichen Untersuchungen aufbaut. In ihrem Bericht ging sie auf die terminologischen Schwierigkeiten ein, mit denen sie konfrontiert war:
„Die Sonderberichterstatterin wird den Begriff ‚geburtshilfliche Gewalt‘ verwenden, wenn sie sich auf Gewalt bezieht, die Frauen während der Geburt in einer Einrichtung erfahren. Da geburtshilfliche Gewalt (...) in den internationalen Menschenrechtsverträgen noch nicht vorkommt, wird die Sonderberichterstatterin, um sie im Rahmen des bestehenden internationalen Rahmens für die Menschenrechte von Frauen zu adressieren, auch ‚Gewalt gegen Frauen während der Geburt‘ verwenden.“ (Rn. 12)
Šimonović unterscheidet also zwischen der Menschenrechtsdogmatik einerseits und der Lebenswirklichkeit andererseits und verwendet für die Zwecke der Menschenrechtsdogmatik den Begriff „Gewalt gegen Frauen“. Warum geht sie so vor?
Ihr Vorgehen lässt sich mit der Mechanik des Völkerrechts erklären. Im Allgemeinen hängt das Völkerrecht von der Zustimmung souveräner Staaten ab. Staaten haben ihre eigenen – historisch bedingten – sozialen, kulturellen und rechtlichen Traditionen. Um diese Traditionen zu schützen, binden sie sich nur widerwillig an universelle Menschenrechte, insbesondere wenn es um geschlechtsspezifische Fragen geht, bei denen die nationalen Traditionen stark divergieren. Deshalb ist es strategisch klug, mit „Gewalt gegen Frauen“ einen Begriff aufzugreifen, auf den sich fast alle Staaten der Welt geeinigt haben und der seit über 30 Jahren im System der Vereinten Nationen verwendet wird.
„Gewalt gegen Frauen während der Geburt“
„Gewalt gegen Frauen“ wird definiert als „Gewalt, die sich gegen eine Frau richtet, weil sie eine Frau ist, oder die Frauen unverhältnismäßig stark betrifft“, und umfasst „Handlungen, die körperlichen, seelischen oder sexuellen Schaden oder Schmerz zufügen, einschließlich der Androhung solcher Handlungen, Nötigung und sonstige Freiheitsberaubungen“ (CEDAW, Allgemeine Empfehlung Nr. 19, Rn. 6).6
Diese Definition ist relativ weit gefasst und umfasst auch nichtkörperliche und nicht vorsätzliche Schädigungen. Doch reicht die Definition wohl nicht so weit, dass sie auch sog. „strukturelle Gewalt“ umfasst. Das Konzept struktureller Gewalt geht auf Johan Galtung zurück und schließt jede vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse ein.7
Strukturelle Gewalt kennt keinen Täter, sie ist vielmehr in unsere sozialen Strukturen eingebaut und manifestiert sich in ungleichen Lebenschancen.
Wie weit „Gewalt gegen Frauen“ reicht, lässt sich durch völkerrechtliche Vertragsauslegung bestimmen; der Begriff ist also in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, ihm in seinem Kontext zukommenden Bedeutung auszulegen. Systematisch differenzieren die einschlägigen Menschenrechtsdokumente zwischen „Gewalt“ einerseits und „Ungleichheit“ oder „Diskriminierung“ andererseits; „tatsächliche oder angedrohte Gewalt“ wird ihren „zugrunde liegenden Folgen, Frauen in untergeordneten Rollen zu halten“ (CEDAW, Allgemeine Empfehlung Nr. 19, Rn. 11), ihren „Ursachen“ (ebd., Rn. 24 c) und „Praktiken, die sie aufrechterhalten“ (ebd., Rn. 24 e) gegenübergestellt.
Daraus lässt sich ableiten, dass „Gewalt gegen Frauen“ die individuelle Folge struktureller Gewalt bezeichnet, die sich als persönlicher Schaden manifestiert. Hier unterscheiden sich der juristische Begriff der „Gewalt gegen Frauen während der Geburt“ und der soziologische Begriff „geburtshilflicher Gewalt“, der auch strukturelle Komponenten umfasst.
Potenzial des Antidiskriminierungsrechts
Das strukturelle Moment der geburtshilflichen Gewalt geht jedoch nicht verloren, wenn der Begriff in den rechtlichen Kontext übersetzt wird. Vielmehr hält die rechtliche Dogmatik ein präzises Analyseinstrument bereit, um eben jenes strukturelle Moment abzubilden – das Antidiskriminierungsrecht. Eines der wichtigsten internationalen Instrumente des Antidiskriminierungsrechts ist mit 189 Vertragsstaaten das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW).
Artikel 12 (1) CEDAW verpflichtet die Staaten, einen diskriminierungsfreien Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen zu gewährleisten und eine informierte Einwilligung sowie eine respekt- und würdevolle Behandlung sicherzustellen (Allgemeine Empfehlung Nr. 24, Rn. 22).8
Das dabei maßgebliche materiale Gleichheitsverständnis verlangt von den Vertragsstaaten, dass sie geschlechtsspezifische Gesundheitsrisiken berücksichtigen und den besonderen Bedürfnissen von marginalisierten Frauen Rechnung tragen (Allgemeine Empfehlung Nr. 24, Rn. 12). Gemäß Artikel 12 Absatz 2 CEDAW müssen die Vertragsstaaten gewährleisten, dass Frauen angemessene Dienstleistungen im Zusammenhang mit Schwangerschaft, Entbindung und Wochenbett zur Verfügung stehen. Dabei sind die Staaten verpflichtet, derartige Maßnahmen „unter Ausschöpfung ihrer verfügbaren Mittel“ zu ergreifen (CEDAW, Allgemeine Empfehlung Nr. 24, Rn. 17).
Illustrativ sind zwei Individualbeschwerden, die vom CEDAW-Ausschuss entschieden wurden: In dem Fall Alyne da Silva Pimentel gegen Brasilien9
starb eine arme Frau afrobrasilianischer Abstammung an Komplikationen nach der Entbindung einer Totgeburt, weil ihr die rechtzeitige medizinische Versorgung sowohl in einem privaten als auch in einem öffentlichen Krankenhaus verweigert worden war. Der Ausschuss stellte fest, dass Brasilien es systematisch versäumte, den spezifischen Gesundheitsbedürfnissen von Frauen gerecht zu werden, und damit gegen das Recht auf Nichtdiskriminierung verstieß – nicht nur aufgrund des Geschlechts, sondern intersektional auch aufgrund der Rasse und des sozioökonomischen Status (Rn. 7.7).
Mehr als 10 Jahre später verwendete der Ausschuss den Begriff „geburtshilfliche Gewalt“ erstmals in der Rechtssache S.F.M. gegen Spanien.10
Während der Geburt wurde S.F.M. einer Reihe von Eingriffen unterzogen, die sämtlich ohne ihre Einwilligung stattfanden. Dagegen leitete sie erfolglos ein Gerichtsverfahren gegen das Krankenhaus und die spanischen Behörden ein. Der Ausschuss stellte fest, dass S.F.M. sowohl im Krankenhaus als auch in den Gerichtsverfahren einer stereotypen und damit diskriminierenden Behandlung ausgesetzt worden war (Rn. 7.5).
Es ist bemerkenswert, dass der Ausschuss in beiden Fällen nicht nur den individuellen Schaden, den die jeweiligen Klägerinnen erlitten haben, adressiert hat. Vielmehr gewährte er transformative Reparationen (als „general measures“), mit denen der Staat zur Vornahme struktureller Verbesserungen aufgefordert wurde. In den Fällen Alyne und S.F.M. empfahl der Ausschuss unter anderem, für ausreichende Informationen und eine informierte Einwilligung in jeder Phase der Geburt sowie für eine professionelle Ausbildung des medizinischen Personals zu sorgen.
Die Fälle zeigen, wie das Konzept „Gewalt“ über die Grenzen der einzelnen Disziplinen hinweg Anwendung findet, ohne dass es ein transdisziplinäres Verständnis von „Gewalt“ gibt. Die interdisziplinäre Vieldeutigkeit des Gewaltbegriffs ist jedoch kein Nachteil – im Gegenteil, sie entpuppt sich als produktiv. Durch die Verwendung eines Begriffs für die Lebenswirklichkeit und eines anderen Begriffs für deren Übersetzung in die Menschenrechtsdogmatik können die Verletzungen, die Gebärende in der Geburtshilfe erleben, unter bereits etablierte Menschenrechtsverpflichtungen subsumiert werden und so unmittelbar den Mechanismus internationaler Staatenverantwortlichkeit auslösen.
- Freedman, Lynn P.; Kruk, Margaret E. (2014): Disrespect and abuse of women in childbirth: challenging the global quality and accountability agendas. In: The Lancet 384 (9948), e42-e44. DOI: 10.1016/S0140-6736(14)60859-X. ↩
- Bohren, Meghan A.; Vogel, Joshua P.; Hunter, Erin C.; Lutsiv, Olha; Makh, Suprita K.; Souza, João Paulo et al. (2015): The Mistreatment of Women during Childbirth in Health Facilities Globally: A Mixed-Methods Systematic Review. In: PLoS medicine 12 (6), 1-32. DOI: 10.1371/journal.pmed.1001847. ↩
- Sadler, Michelle; Santos, Mário Jds; Ruiz-Berdún, Dolores; Rojas, Gonzalo Leiva; Skoko, Elena; Gillen, Patricia; Clausen, Jette A. (2016): Moving beyond disrespect and abuse: addressing the structural dimensions of obstetric violence. In: Reproductive health matters 24 (47), S. 47-55. DOI: 10.1016/j.rhm.2016.04.002. ↩
- Zur Begriffskontroverse vgl. auch die gesamte Ausgabe von „Violence Against Women“, SAGE Publ. London 2021, Vol. 27 (8). ↩
- UN Generalversammlung, A human rights-based approach to mistreatment and violence against women in reproductive health services with a focus on childbirth and obstetric violence, UN Doc. A/74/137, 11. Juli 2019. ↩
- CEDAW: General recommendation No. 19: Violence against women, UN Doc. A/47/38, 1992, in: BMFSFJ (Hg.): Mit Recht zur Gleichstellung! Handbuch zur Frauenrechtskonvention der Vereinten Nationen, Berlin 9/2020, S. 78 ff. ↩
- Galtung, Johan: Violence, Peace, and Peace Research, Journal of Peace Research, Vol. 6 No. 3 1969, S. 167–191. ↩
- CEDAW: General Recommendation No. 24: Article 12 of the Convention (women and health), UN Doc. A/54/38/Rev.1, chap. I, 1999, a.a.O., Fn. 7, S. 95 ff. ↩
- CEDAW: Communication No. 17/2008, 25. Juli 2011, CEDAW/ C/49/D/17/2008. ↩
- CEDAW: Communication No. 138/2018, 28. Februar 2020, CEDAW/C/75/D/138/2018., in Auszügen unten S. 104. ↩