STREIT 3/2022

S. 104-109

Art. 2, 3, 5, 12 CEDAW, Art. 4 (1), 2 (c) und (d) Fakultativprotokoll

SFM gegen Spanien. Entscheidung vom 28.02.2020. Geburtshilfliche Gewalt ist Frauen­diskriminierung

Entscheidung des Ausschusses zur Beseitigung der Diskriminierung der Frauen in der 75. Sitzung, zur Mitteilung Nr. 138/2018, SFM gegen Spanien vom 28.02.2020, unter:
https://juris.ohchr.org/Search/Details/2710 [Auszug]

Hintergrund

1. Die Beschwerdeführerin ist S.F.M., eine am 25. Juni 1976 geborene spanische Staatsangehörige. Die Beschwerdeführerin behauptet, dass Spanien durch die geburtshilfliche Gewalt, der sie im Krankenhaus während der Geburt ausgesetzt war, ihre Rechte aus den Artikeln 2, 3, 5 und 12 des Übereinkommens verletzt hat. Die Beschwerdeführerin wurde vertreten durch die Beraterin Francisca Fernández Guillén.

Sachverhaltsvortrag der Beschwerdeführerin

Vortrag der Beschwerdeführerin zu Schwangerschaft, Entbindung und Wochenbett
2.1 Im Dezember 2008 wurde die Beschwerdeführerin schwanger. Ihre Schwangerschaft verlief normal, wurde gut betreut und voll ausgetragen. Am 26. September 2009, als die Beschwerdeführerin 39 Wochen und sechs Tage schwanger war und Vorwehen hatte,1 begab sie sich um 13.45 Uhr in ein öffentliches Krankenhaus, nur um sich beraten zu lassen, da sie sich noch nicht in der aktiven Phase der Wehen befand. Im Krankenhaus wurde sie jedoch einer Reihe von Eingriffen unterzogen, die allesamt nicht indiziert waren und durchgeführt wurden, ohne sie zu informieren oder ihre Einwilligung einzuholen. Diese Eingriffe hatten erhebliche negative Auswirkungen auf ihre körperliche und geistige Gesundheit, ihre psychische Integrität und die Gesundheit ihres Babys. Sie wurde eingewiesen, und es wurde sofort eine erste Vaginaluntersuchung durchgeführt.2 Anschließend wurde sie in einen anderen Raum gebracht, in dem sich sechs weitere Frauen befanden und den ihr Partner nicht betreten durfte. Eine Stunde später wurde sie einer zweiten vaginalen Untersuchung unterzogen; anschließend, um 17.20 Uhr, wurde eine dritte vaginale Untersuchung durchgeführt, ohne dass ihre Einwilligung eingeholt wurde.
2.2 In den frühen Morgenstunden des 27. September 2009 wurde eine vierte Vaginaluntersuchung durchgeführt. Eine fünfte Untersuchung erfolgte um 22.15 Uhr an diesem Tag, eine sechste weniger als eine Stunde später.
2.3 Am 28. September 2009 um 1.40 Uhr wurde die Beschwerdeführerin einer siebten Vaginaluntersuchung unterzogen, die anzeigte, dass sie in die aktive Phase der Wehen eingetreten war. Nach Ansicht der Beschwerdeführerin wäre dies erst der richtige Zeitpunkt gewesen, um sie ins Krankenhaus einzuliefern. Sie befand sich jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits seit 36 Stunden im Krankenhaus und hatte sich bereits sieben manuellen Vaginaluntersuchungen unterzogen, wodurch ein Infektionsrisiko bestand.3
2.4 Etwa eine Stunde später wurde sie einer achten vaginalen Untersuchung unterzogen, und nach weiteren 25 Minuten wurde ihr intravenös Oxytocin verabreicht, um die Wehen einzuleiten, ohne dass ihre Einwilligung eingeholt wurde und ohne dass sie über die Nebenwirkungen von Oxytocin aufgeklärt wurde. Das Oxytocin führte zu verstärkten Schmerzen und zu Krämpfen, häufigem dunklem Erbrechen, Schüttelfrost und Fieber und die Herztöne des Fötus wurden besorgniserregend. Um 5.15 Uhr wurde eine neunte vaginale Untersuchung durchgeführt, während sie weiterhin unter Erbrechen und Fieber litt. Schließlich wurde sie kurz vor 6 Uhr morgens in den Kreißsaal verlegt, wo eine zehnte vaginale Untersuchung durchgeführt wurde.
2.5 Die Beschwerdeführerin bat darum, sich für die Geburt aufzusetzen, was ihr jedoch nicht gestattet wurde. Ohne Erklärung oder Information schnitt das medizinische Personal mit einer Schere in ihre Vagina und zog ihre Tochter mit einer Saugglocke heraus.
2.6 Binnen Sekunden nach der Geburt wurde die Tochter der Beschwerdeführerin weggebracht, und der Beschwerdeführerin wurde mitgeteilt, dass sie sie nicht vor dem Mittag des nächsten Tages sehen könne. Die Tochter wurde mit einem durch E.-coli-Bakterien verursachten Fieber von 38,8°C in die Neugeborenenstation gebracht. Wissenschaftlichen Studien zufolge, die vor übermäßigen Vaginaluntersuchungen warnen, war eine derartige Kontamination wahrscheinlich das Ergebnis der zehn vaginalen Untersuchungen, denen sich die Beschwerdeführerin hatte unterziehen müssen, wodurch Bakterien aus ihrer Vagina in die Fruchtblase gelangen konnten. Die Beschwerdeführerin befand sich in einem Schockzustand, während ihr Dammschnitt genäht und die Plazenta entfernt wurde. Die manuelle Entfernung der Plazenta kann den Beckenboden und die inneren Organe der Mutter schädigen und sollte daher frühestens 30 Minuten nach der Geburt und nur dann durchgeführt werden, wenn die Plazenta trotz unterstützender Maßnahmen nicht auf natürlichem Wege ausgestoßen wird. Im Fall der Beschwerdeführerin waren die geforderten 30 Minuten nicht verstrichen, und es waren keine unterstützenden Maßnahmen versucht worden.
2.7 Die Tochter blieb sieben Tage lang auf der Neugeborenenstation, um Antibiotika zu erhalten, die ihr auch ohne Trennung von ihrer Mutter hätten verabreicht werden können. Während dieser Zeit durfte die Beschwerdeführerin nur alle drei Stunden für 15 Minuten bei ihrer Tochter sein, und der Vater durfte nur zweimal 30 Minuten pro Tag bei dem Baby sein. Außerdem wurde das Baby ohne die Erlaubnis der Mutter mit der Flasche gefüttert, obwohl diese ihre Tochter stillen wollte, weil „Mütter, die klingeln, ein Ärgernis sind“.
2.8 Diese Ereignisse führten bei der Beschwerdeführerin zu einer posttraumatischen Belastungsstörung, wegen der sie sich in psychologische Behandlung begeben musste. Vor allem die Trennung von ihrer Tochter nach der Geburt hat die Beziehung zwischen dem Kind und seinen Eltern schwer beschädigt. Der Vater erklärte während der Anhörung, dass „unsere Tochter und wir beide uns fremd waren, als wir nach acht Tagen mit unserer Tochter nach Hause kamen. Wir hatten keine Bindung aufgebaut.“ Die Beschwerdeführerin erklärte vor Gericht: „Der Krankenhausaufenthalt war wie eine Autowaschanlage oder ein Fließband, wo man auf mechanische Weise behandelt wird. Die Frau tut nichts, aber sie kommt mit einem Baby aus der Waschanlage. Das Gleiche passiert zwar auch bei anderen Arten von medizinischer Hilfe, z. B. bei einer Herzoperation, bei der der Patient nichts tun muss und auf Passivität vorbereitet ist, aber bei einer Geburt ist eine Frau physisch und psychisch darauf vorbereitet, zu gebären, und nicht darauf, dass andere das Kind für sie zur Welt bringen. Ich fühlte mich entmachtet und ohne Selbstwertgefühl. Ich musste die Bindung zu meiner Tochter auf die harte Tour aufbauen, rational, ohne die Hilfe der komplexen natürlichen neurologischen und hormonellen Mechanismen, die Mütter dazu bringen, sich in ihre neugeborenen Kinder zu verlieben.“ In dem psychologischen Bericht heißt es, dass die Eltern ein Jahr brauchten, um das Gefühl zu verarbeiten, bei der Geburt keine Bindung zu ihrer Tochter aufgebaut zu haben. Die Ereignisse beeinträchtigen die Beschwerdeführerin in allen Bereichen ihres Lebens, da sie unter Angstzuständen, Schlaflosigkeit und wiederholten Erinnerungen an Szenen während der Geburt leidet.
2.9 Die Beschwerdeführerin benötigte auch eine spezielle Physiotherapie, um ihren Beckenboden wiederherzustellen und die durch den Dammschnitt verursachten Schäden auszugleichen, die ihr zwei Jahre lang sexuelle Beziehungen unmöglich machten.
2.10 Die Beschwerdeführerin charakterisiert die beschriebenen Ereignisse als „geburtshilfliche Gewalt“. Sie definiert geburtshilfliche Gewalt als diejenigen schweren Menschenrechtsverletzungen, die Frauen durch Anbieter reproduktiver Gesundheitsleistungen erleiden sowie die Vernachlässigung, Misshandlung und den körperlichen und verbalen Missbrauch, dem sie während und nach der Geburt ausgesetzt sind.4

Ausschöpfung des Rechtswegs
(Rdnr. 2.11 bis 2.19):
Die Beschwerdeführerin behauptet, dass sie alle ihr zur Verfügung stehenden innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft habe, um Wiedergutmachung für die schlechte geburtshilfliche Versorgung zu erlangen. Am 24. Juni 2010 reichte die Beschwerdeführerin Beschwerden beim Krankenhaus Xeral-Calde in Lugo und bei der Abteilung für Qualität und Patientenservice des galicischen Gesundheitsdienstes ein. Sie erhielt auf beide keine Antwort. Am 10. Oktober 2010 reichte die Beschwerdeführerin eine Beschwerde bei der Ethikkommission des Krankenhauses ein, aber auch diese Beschwerde blieb unbeantwortet.
Am 21. Dezember 2011 reichte die Beschwerdeführerin eine Beschwerde ein, in der sie sich auf die finanzielle Verantwortung der öffentlichen Verwaltung für die Funktionsfähigkeit der Gesundheitsdienste berief. (...) Am 18. September 2013 lehnte das Gesundheitsministerium der Regionalregierung von Galicien die Beschwerde ab, die sich auf die finanzielle Verantwortung der öffentlichen Verwaltung bezog.
Am 8. Januar 2014 reichte die Beschwerdeführerin bei den Verwaltungsgerichten Klage ein. Am 5. November 2015 wies das Verwaltungsgericht Nr. 1 von Santiago de Compostela die Klage ab. Das Gericht stellte fest, dass die von den Parteien vorgelegten technischen Berichte5 widersprüchlich waren, „mit dem Ergebnis, dass die Zweifel und Schwierigkeiten auf den Richter abgewälzt wurden, weil die Sachverständigen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kamen.“ Das Gericht betonte auch, dass „die Schlussfolgerungen der Psychologin auf den Angaben ihrer Patientin beruhen, während die Schlussfolgerungen der Ärztin auf der von ihr geprüften klinischen Dokumentation beruhen“; dass „der Arzt entscheidet, ob er einen Dammschnitt durchführt oder nicht, nachdem er den Damm und den Kopf des Babys gesehen hat,“ dass kein Behandlungsfehler vorlag, „da erwiesen ist, dass alle in Anbetracht der Ereignisse erforderlichen Maßnahmen ergriffen wurden, unabhängig davon, ob das Ergebnis für die Mutter (und nicht für die Tochter) vollkommen zufriedenstellend war; und dass der Grad der Zufriedenheit teilweise von der eigenen Wahrnehmung oder der Natur der Frau abhängt.“
Am 27. November 2015 legte die Beschwerdeführerin gegen die vorherige Entscheidung Berufung ein (…) Am 23. März 2016 wurde die Berufung von der ersten Kammer des galicischen Obersten Gerichtshofs zurückgewiesen. (…) Das Gericht kam jedoch zu dem Schluss, dass der Dammschnitt gerechtfertigt war, dass „es unwahrscheinlich schien, dass die Mutter unter diesen Bedingungen und mitten in den Wehen in der Lage gewesen wäre, ihre Einwilligung zu erteilen“, und dass daher die Vorschriften über die informierte Einwilligung nicht verletzt worden waren. Es vertrat auch ohne Begründung die Auffassung, dass es „vollkommen verständlich“ sei, dass der Vater bei der Entbindung nicht anwesend sein durfte.
Am 25. April 2016 reichte die Beschwerdeführerin beim Verfassungsgerichtshof eine Klage auf amparo6 ein. Am 21. Februar 2017 wurde die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass der Fall keine „besondere verfassungsrechtliche Bedeutung“ habe. (…)

Beschwerde

3.1 Die Beschwerdeführerin macht geltend, dass die Pathologisierung ihrer Geburt durch Medikamentenmissbrauch und medizinischen Interventionismus (…) ihre Rechte aus den Artikeln 2, 3, 5 und 12 des Übereinkommens verletzte, da sie keinen Zugang zu qualitativ hochwertigen Gesundheitsdiensten frei von Gewalt und Diskriminierung hatte, ihre persönliche Autonomie nicht ausüben konnte und ihre physische und psychische Integrität beeinträchtigt wurde. (...)
3.4 Zum Recht auf informierte Einwilligung stellt der Ausschuss in seiner Allgemeinen Empfehlung Nr. 24 (1999) über Frauen und Gesundheit fest, dass nur solche Dienstleistungen akzeptabel sind, bei denen sichergestellt ist, dass die Frau ihre informierte Einwilligung gibt, ihre Würde respektiert, ihre Vertraulichkeit gewährleistet und auf ihre Bedürfnisse und Perspektiven eingegangen wird. Der Ausschuss unterstreicht auch die Wichtigkeit des Zugangs zu Informationen, damit das Recht auf sexuelle und reproduktive Gesundheit vollständig verwirklicht wird. Er weist darauf hin, dass laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Beschränkungen der angemessenen und effektiven Bereitstellung von Informationen das Recht der Frauen auf physische und psychische Gesundheit gefährden, was sich in sensiblen Situationen wie einer Schwangerschaft nachteilig auswirkt,127 und dass Informationen über den Gesundheitszustand einer Person unverzüglich zugänglich gemacht werden müssen, um den Schutz in Situationen zu gewährleisten, in denen sich der Zustand der Person schnell entwickelt und ihre Entscheidungsfähigkeit dadurch eingeschränkt wird,138 beispielsweise während einer Schwangerschaft oder einer komplikationsreichen Geburt. Schließlich stellt der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 14 (2000) über das Recht auf ein Höchstmaß an Gesundheit und in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 22 (2016) über das Recht auf sexuelle und reproduktive Gesundheit fest, dass ein Mangel an Informationen im Zusammenhang mit der sexuellen und reproduktiven Gesundheit von Frauen diese daran hindert, ihre Menschenrechte wirksam auszuüben.
3.5 Die Beschwerdeführerin macht eine Verletzung der Artikel 2 (b), (c), (d) und (f) und Artikel 12 des Übereinkommens geltend wegen der unangemessenen Behandlung, die sie während und nach der Geburt erfahren habe, und wegen der Unwirksamkeit der von ihr in der Folge angestrebten Rechtsmittel. (…)
3.6 Die Beschwerdeführerin macht auch eine Verletzung von Artikel 3 des Übereinkommens geltend, da ihr eine menschenwürdige Art und Weise der Entbindung nicht gestattet wurde. Sie erinnert daran, dass die WHO seit 1985 Regierungen zur Förderung von Geburtshilfeleistungen auffordert, die eine kritische Haltung gegenüber Technologie einnehmen und die emotionalen, psychologischen und sozialen Aspekte der Geburt respektieren.159
3.7 Schließlich macht die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Artikel 5 des Übereinkommens geltend. Der Ausschuss hat in verschiedenen abschließenden Beobachtungen festgestellt, dass anhaltende stereotype Einstellungen über die Rollen, Fähigkeiten und Verantwortlichkeiten von Frauen sie daran hindern, alle ihre Rechte in vollem Umfang auszuüben, und dass diese Situation eine diskriminierende Behandlung darstellt und somit eine Verletzung des Rechts auf Gleichheit und Nichtdiskriminierung.16 (…)10 Der Antrag der Beschwerdeführerin, den Leiter der Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie des Krankenhauses wegen mangelnder Objektivität als Sachverständigen zu disqualifizieren, wurde vom Gericht ignoriert, das seine Schlussfolgerungen auf dessen Bericht stützte.
3.8 Diese Haltung steht im Gegensatz zu dem Einfühlungsvermögen, das der Richter dem Ehemann der Beschwerdeführerin entgegenbrachte, als dieser vor Gericht erklärte, dass er zwei Jahre lang keine sexuellen Beziehungen zu seiner Frau gehabt habe. Darin spiegelt sich eine stereotype Sicht der sexuellen Rollen von Männern und Frauen wider, in der Frauen lediglich passive Subjekte mit einer reproduktiven Funktion sind. (...)
3.10 Zur Wiedergutmachung fordert die Beschwerdeführerin individuelle Entschädigung für die erlittenen Verletzungen. Da es sich bei den Einstellungen und Praktiken, die Gewalt in der Geburtshilfe perpetuieren, um ein strukturelles Problem handelt, bei dem medizinisches Personal die Prinzipien, Verpflichtungen und Pflichten missachten, die für das Arzt-Patient-Verhältnis in jedem anderen Bereich der Medizin gelten, fordert die Beschwerdeführerin als Maßnahme der Nichtwiederholung auch, dass der Vertragsstaat angewiesen wird, Studien und Statistiken zu erstellen und die Angehörigen der Gesundheitsberufe und die Justizbeamten für das Thema zu sensibilisieren, um geschlechtsspezifischen Vorurteilen und Gewalt gegen Frauen im Bereich der Geburtshilfe ein Ende zu setzen. Die Beschwerdeführerin fordert den Ausschuss außerdem auf, eine allgemeine Empfehlung zur Gewalt in der Geburtshilfe auszuarbeiten, da es sich um eine Praxis handelt, unter der Frauen weltweit systematisch leiden.

Stellungnahmen des Vertragsstaats zu Zulässigkeit und Begründetheit

(...) 4.4 Der Vertragsstaat macht geltend, dass das Übereinkommen nicht verletzt worden sei, weil die Beweiswürdigung nicht willkürlich gewesen, kein offensichtlicher Fehler begangen worden und Recht nicht verweigert worden sei. (...)

Sachverhalt und Verfahren vor dem Ausschuss

(...) Prüfung der Begründetheit
(...) 7.2 Die Beschwerdeführerin macht geltend, dass die Pathologisierung ihrer Geburt durch frühzeitige Einweisung, unnötige vaginale Untersuchungen, die Verabreichung von Oxytocin ohne Information oder Einwilligung, die Erzwingung der Geburt in Steinschnittlage, die Durchführung einer Saugglocken­extraktion und eines Dammschnitts ohne Information oder Einwilligung und schließlich die Trennung von ihrer Tochter wegen einer Infektion, die wahrscheinlich durch die medizinischen Eingriffe infolge der zehn in ihrem Fall durchgeführten vaginalen Untersuchungen verursacht wurde, auf strukturelle Diskriminierung aufgrund von Geschlechterstereotypen in Bezug auf Sexualität, Mutterschaft und Geburt zurückzuführen sei. Die Beschwerdeführerin behauptet auch, dass diese Stereotypen in den Verwaltungs- und Gerichtsverfahren perpetuiert wurden. Der Ausschuss stellt fest, dass dieser Sachverhalt nach Ansicht der Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Rechte auf eine qualitativ hochwertige, gewalt- und diskriminierungsfreie Gesundheitsversorgung, auf persönliche Autonomie und auf körperliche und psychische Unversehrtheit darstellt und damit gegen Artikel 2, 5 und 12 des Übereinkommens verstößt.
7.3 In diesem Zusammenhang nimmt der Ausschuss nicht nur die von der Beschwerdeführerin erwähnten wissenschaftlichen Artikel und Berichte zum Thema geburtshilfliche Gewalt zur Kenntnis, sondern auch den der Generalversammlung vorgelegten jüngsten Bericht der Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen, ihre Ursachen und Folgen, über einen menschenrechtsbasierten Ansatz gegen Misshandlung und Gewalt gegen Frauen in reproduktiven Gesundheitsdiensten mit Schwerpunkt auf Geburt und geburtshilflicher Gewalt.2511 In ihrem Bericht definiert die Sonderberichterstatterin „geburtshilfliche Gewalt“ als die Gewalt, die Frauen während der Geburt in einem Krankenhaus erfahren, und stellt fest, dass „diese Form der Gewalt nachweislich weit verbreitet und systematisch ist“.2612 Die Sonderberichterstatterin erklärt, dass zu den Ursachen geburtshilflicher Gewalt die Arbeitsbedingungen, die Begrenztheit der Ressourcen und die Machtdynamik in der Beziehung zwischen Leistungserbringer und Patientin gehören, die durch geschlechtsspezifische Stereotype über die Rolle der Frau noch verstärkt werden.2713 Von besonderer Bedeutung für die vorliegende Mitteilung ist die Aussage der Sonderberichterstatterin, dass ein Dammschnitt „nachteilige physische und psychische Auswirkungen auf die Mutter haben, zum Tod führen und geschlechtsspezifische Gewalt sowie Folter und unmenschliche und erniedrigende Behandlung darstellen kann“.2814
7.4 Der Ausschuss stellt fest, dass es im Zusammenhang mit einer individuellen Mitteilung, in der eine Rechtsverletzung durch Gerichtsentscheidungen geltend gemacht wird, seine Aufgabe ist, solche Entscheidungen im Lichte des Übereinkommens zu prüfen und festzustellen, ob die Behörden des Vertragsstaates ihren Verpflichtungen daraus nachgekommen sind. In der vorliegenden Mitteilung muss der Ausschuss daher beurteilen, ob der Vertragsstaat seiner Verpflichtung nachgekommen ist, in den Verwaltungs- und Gerichtsverfahren, die aufgrund der beschwerdegegenständlichen Handlungen eingeleitet wurden, Geschlechterstereotypen mit der gebotenen Sorgfalt zu beseitigen. (…) Der Ausschuss stellt fest, dass die von den Parteien im vorliegenden Fall vorgelegten Informationen in ihrer Gesamtheit zeigen, dass die inländischen Justizbehörden die von der Beschwerdeführerin vorgelegten Beweise nicht ausreichend gewürdigt haben.
7.5 Der Ausschuss erinnert daran, dass die Vertragsstaaten gemäß Artikel 2 (a) des Übereinkommens verpflichtet sind, die praktische Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichheit von Männern und Frauen sicherzustellen, und dass die Vertragsstaaten gemäß Artikel 2 (f) und 5 verpflichtet sind, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um nicht nur bestehende Gesetze und Vorschriften, sondern auch Sitten und Gebräuche, die Frauen diskriminieren, zu ändern oder abzuschaffen.3015 Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Stereotypisierung das Recht von Frauen auf Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt, in diesem Fall vor Gewalt in der Geburtshilfe, beeinträchtigt und dass die für Rechtsschutz zuständigen Behörden besondere Vorsicht walten lassen sollten, um Stereotypen nicht zu reproduzieren. Im vorliegenden Fall stellt der Ausschuss fest, dass es eine Alternative zu der von der Beschwerdeführerin erlebten Situation gab, da ihre Schwangerschaft normal und ohne Komplikationen verlaufen war und bei ihrer Ankunft im Krankenhaus kein Notfall vorlag, sie aber dennoch ab dem Zeitpunkt ihrer Einlieferung zahlreichen Eingriffen ausgesetzt war, über die sie weder aufgeklärt wurde noch ihre Meinung äußern durfte. Darüber hinaus stellt der Ausschuss fest, dass die Verwaltungs- und Justizbehörden des Vertragsstaates stereotype und damit diskriminierende Vorstellungen anwandten, indem sie davon ausgingen, es sei Sache des Arztes, zu entscheiden, ob er einen Dammschnitt durchführe oder nicht, indem sie ohne Erklärung feststellten, es sei „vollkommen verständlich“, dass der Vater bei der Entbindung nicht anwesend sein dürfe, und indem sie die Auffassung vertraten, dass der psychologische Schaden, den die Beschwerdeführerin erlitten habe, eine Frage der „bloßen Wahrnehmung“ sei, dass sie aber dem Vater gegenüber Empathie zeigten, als er erklärte, dass ihm zwei Jahre lang sexuelle Beziehungen vorenthalten worden seien.
7.6 Folglich ist der Ausschuss gemäß Artikel 7 (3) des Fakultativprotokolls der Ansicht, dass der ihm vorliegende Sachverhalt eine Verletzung der Rechte der Beschwerdeführerin gemäß Artikel 2 (b), (c), (d) und (f), 3, 5 und 12 des Übereinkommens beinhaltet.
8. In Anbetracht der vorstehenden Schlussfolgerungen richtet der Ausschuss die folgenden Empfehlungen an den Vertragsstaat:
(a) In Bezug auf die Beschwerdeführerin: eine angemessene Wiedergutmachung zu leisten, einschließlich einer angemessenen finanziellen Entschädigung für den Schaden, den sie an ihrer physischen und psychischen Gesundheit erlitten hat;
(b) Allgemein:
(i) das Recht der Frauen auf eine sichere Mutterschaft und den Zugang zu angemessenen geburtshilflichen Gesundheitsdienstleistungen in Übereinstimmung mit der Allgemeinen Empfehlung Nr. 24 (1999) über Frauen und Gesundheit zu gewährleisten und insbesondere den Frauen in jeder Phase der Geburt angemessene Informationen zur Verfügung zu stellen und ein Gesetz einzuführen, das ihre freie, vorherige und informierte Einwilligung zu jeder invasiven Behandlung während der Geburt erforderlich macht, außer in Situationen, in denen das Leben der Mutter und/oder des Babys gefährdet ist, wodurch die Autonomie der Frauen und ihre Fähigkeit, informierte Entscheidungen über ihre reproduktive Gesundheit zu treffen, respektiert werden;
(ii) Untersuchungen über geburtshilfliche Gewalt im Vertragsstaat durchzuführen, um die Versorgungslage aufzuklären und so Leitlinien für öffentliche Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Gewalt bereitzustellen;
(iii) Geburtshelfer und anderes medizinisches Personal in Bezug auf die Rechte der Frauen im Bereich der reproduktiven Gesundheit angemessen auszubilden;
(iv) den Zugang zu wirksamen Rechtsbehelfen in Fällen zu gewährleisten, in denen die Rechte der Frauen im Bereich der reproduktiven Gesundheit verletzt wurden, einschließlich in Fällen von Gewalt bei der Geburt, und das Personal der Justiz und der Strafverfolgungsbehörden zu schulen.

9. Nach Art. 7 Abs. 4 des Fakultativprotokolls wird der Vertragsstaat die Standpunkte des Ausschusses zusammen mit seinen Empfehlungen gebührend berücksichtigen und dem Ausschuss innerhalb von sechs Monaten eine schriftliche Antwort vorlegen, die Informationen über alle Maßnahmen enthält, die unter Berücksichtigung der Standpunkte und Empfehlungen des Ausschusses ergriffen wurden. Der Vertragsstaat wird ferner ersucht, die Ansichten und Empfehlungen des Ausschusses zu veröffentlichen und weit verbreiten zu lassen, um alle Bereiche der Gesellschaft zu erreichen.
Mitgeteilt und übersetzt von Eva Maria Bredler, Münster

  1. Bevor die eigentlichen Wehen einsetzen, gibt es eine Phase, in der die Schwangere leichte, unregelmäßige Wehen haben kann, die kein Teil der Wehen sind, sondern den Körper auf die Wehen vorbereiten. Manche Frauen bemerken diese Vorwehen nicht einmal.
  2. Bei der manuellen Vaginaluntersuchung werden ein oder mehrere Finger in die Vagina der Schwangeren eingeführt, um die Öffnung des Muttermundes zu messen.
  3. Vgl. Ministry of Health and Social Policy, Guía de práctica clínica sobre la atención al parto normal, S. 63.
  4. Die Beschwerdeführerin erwähnt, dass die Nichtregierungsorganisation Médecins du Monde geburtshilfliche Gewalt als Handlungen und Verhaltensweisen definiert, die Frauen während der Schwangerschaft, der Geburt und dem Wochenbett entmenschlichen und erniedrigen, was sich in körperlicher und verbaler Miss­handlung, Demütigung, mangelnder Information und Einwilligung, missbräuchlicher Medikalisierung und Pathologisierung natürlicher Prozesse äußert und zum Verlust von Freiheit, Autonomie und der Fähigkeit, Entscheidungen über ihren Körper und ihre Sexualität frei zu treffen, führt. Die Beschwerdeführerin erwähnt auch, dass das Observatorio de la Violencia Obstétrica en España (Spanische Beobachtungsstelle für geburtshilfliche Gewalt) zu dem Schluss gekommen ist, dass geburtshilfliche Gewalt eine Form der psychologischen Folter ist. Die Beschwerdeführerin erwähnt auch den Bericht des Sonderberichterstatters über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (A/HRC/31/57, Rn. 47) sowie Berichte der Weltgesundheitsorganisation (WHO/RHR/14.23) und des Menschenrechtsrates (A/HRC/32/44, Rn. 106 (h)). Schließlich verweist die Beschwerdeführerin auf wissenschaftliche Veröffentlichungen wie Eugenia Álvarez Matteazzi und Pilar Russo, Violencia obstétrica: Naturalización del modelo de atención médico hegemónico durante el proceso de parto, Universidad Nacional de Córdoba, 2016; Laura Belli, La violencia obstétrica: otra forma de violación a los derechos humanos, Revista Redbioética/ UNESCO, year 4, vol. 1, No. 7, January-June 2013, S. 25-32; Marbella Camaraco, Patologizando lo natural, naturalizando lo patológico. Improntas de la praxis obstétric, Revista Venezolana de estudios de la mujer, vol. 14, No. 32, 2009; Cristina Medina Pradas und Paz Ferrer Ispizua, Prevalence of obstetric violence in Spain, infographic, 2017, abrufbar unter https://mamacapaz.com/wp-content/uploads/VO.pdf; Adela Recio Alcaide, La atención al parto en España: cifras para reflexionar sobre un problema, Dilemata, year 7, No. 18, 2015, S. 13-26.
  5. Bei diesen technischen Berichten handelt es sich um die Anamnese der Beschwerdeführerin, die zusätzlichen Berichte des Leiters der Geburtshilfe und Gynäkologie des Krankenhauses sowie die für die Klägerin und die mitbeklagte Versicherungsgesellschaft erstellten Gutachten.
  6. Die Amparo-Klage ist ein Rechtsmittel zum Schutz der verfassungsmäßigen Rechte.
  7. 12 Vgl. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Open Door and Dublin Well Woman v. Ireland, Application No. 14234/88 und Application No. 14235/88, Urteil vom 29. Oktober 1992, Rn. 77.
  8. 13 Vgl. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, R.R. v. Poland, Application No. 27617/04, Urteil vom 26. Mai 2011, Rn. 197.
  9. 15 WHO, “Appropriate technology for birth”, The Lancet, vol. 326, issue 8452, 24 August 1985.
  10. 16 Vgl. A/55/38 und CEDAW/C/PRK/CO/1, Rn. 35.
  11. 25 A/74/137.
  12. 26 Ibid., Rn. 4 und 12.
  13. 27 Ibid., Rn. 40 und 49.
  14. 28 Ibid., Rn. 25.
  15. 30 Vgl. González Carreño v. Spain (CEDAW/C/58/D/47/2012), Rn. 9.7.