STREIT 2/2017

S. 64

Gerlinda Smaus: Reproduktion der Frauenrolle im Gefängnis

Aus STREIT 1/1991, S. 23-32 (Auszug)

2.1. Die wichtigste Frage bezüglich der Frauenkriminalität lautet: „Welchen Sinn erfüllt das Strafrecht damit, daß es im höchsten Maße geschlechtsspezifisch selektiv ist?“ - Die nachgeordnete Frage ist dann, auf welche Weise das Verhalten von Frauen kontrolliert wird. Wie oben dargestellt, haben sich kritische Analysen des Strafrechts bisher vornehmlich mit dem Aspekt seiner Nützlichkeit für die Aufrechterhaltung ( …) der Eigentumsverhältnisse, kurz des Kapitalismus befaßt. (…)
Die ungleiche Verteilung von Gütern und die Herrschaft von Männern über Frauen hängen folgendermaßen zusammen: In der Wirtschaft, Verwaltung, Militär und Politik (nach Habermas „im System“) besteht eine Ungleichheit sowohl hinsichtlich der Eigentums- als auch der Machtverteilung. Hier herrschen wenige Männer über die Mehrheit der Angehörigen gleichen Geschlechts, hier wird definiert, was in bezug auf die materielle Reproduktion des Systems die beherrschten Männer sollen und was dagegen strafrechtlich verboten ist. Als Kompensation für die Duldung dieser zweifach – materiell und hierarchisch – unvorteilhaften Verhältnisse „bieten“ die herrschenden Männer den beherrschten Geschlechtsgenossen Macht in der „Privatsphäre“ gegenüber ihren Frauen und Kindern an. (…)
Die im System herrschenden Männer weisen beiden Geschlechtern Rollen zu bzw. tradieren die überlieferten Rollen und definieren beiderlei Kriminalität. Die männlichen Normen beziehen sich auf Funktionen im Bereich der materiellen, die der Frauen auf Funktionen im Bereich der natürlichen Reproduktion. Männer werden generell der Kontrolle durch das „öffentliche“ Strafrecht unterstellt, die Kontrolle der Frauen wird weitgehend der Privatsphäre überlassen. Wenn bei Frauen öffentliche Kontrolle angerufen wird, führt sie häufiger zu somatischen und psychiatrischen als zu kriminellen Definitionen. (…)
Nur wenige Verhaltensweisen von Frauen werden ins Strafrecht und damit in die öffentliche formale Kontrolle aufgenommen. Diese Tatbestände beziehen sich auf die natürliche Reproduktion der Gesellschaft. Verstöße gegen diese Normen bilden die „spezifisch“ weibliche Kriminalität. Die Sicherung der legalen Nachkommenschaft, und d.h. der Erbfolge, gehört zu den wichtigsten Konnexinstitutionen des weit umfassender geschützten Eigentums. Unter diesem Gesichtspunkt ist ihre Aufnahme in das Kon-trollmittel „Strafrecht“ verständlich, zumal der Abtreibungsparagraph nicht nur einen öffentlichen Zugriff ermöglicht, sondern auch die Macht der „privaten“ Männer bestärkt. (…)
Bei den anderen Delikten, deren Frauen häufiger überführt werden, handelt es sich um eine buchstäbliche, und das heißt eigentlich widersinnige, Anwendung strafrechtlicher Tatbestände aus dem Bereich der materiellen auf den Bereich der natürlichen Reproduktion. Mit anderen Worten haben selbst „gleiche“ Handlungen für Männer und Frauen subjektiv einen anderen „Sinn“ und objektiv eine andere Funktion.
Z.B. erlangte der Tatbestand des Diebstahls seine gegenwärtige Bedeutung zu einer Zeit, in der das Verbot, sich Eigentum ohne eine äquivalente Gegenleistung anzueignen, an das Gebot der Arbeitsdisziplin geknüpft wurde. Das Diebstahlsverbot hatte daher vor allem eine Funktion im „System“ und bezog sich und bezieht sich weiterhin auf das Verhalten von Männern. Diese sollen arbeiten statt stehlen. Frauen sollen zwar auch nicht stehlen, sie sollen aber vor allem nicht auf dem Arbeitsmarkt mit Männern konkurrieren. Kaufhausdiebstähle, die Frauen begehen, gelten auf der Seite der Geschädigten durchaus als Verletzungen ihrer Verwertungsinteressen; strafrechtlich beurteilt fehlt jedoch die Disjunktion „gestohlen statt gearbeitet“. Bei der gegenwärtigen Rollenteilung stehlen Frauen an ihrer Männer Statt; der Warendiebstahl dient entweder als Beitrag zur Subsistenzsicherung oder ist gänzlich „nutzlos“. Keinesfalls wird die gestohlene Ware „kapitalisiert“, wie dies bei männlichen Tätern häufiger der Fall sein soll. (…)
Zu anderen Delikten, vor allem im Bereich der Wirtschaft, hatten Frauen bisher keinen Zugang – gleich wenig wie Männer der Unterschicht, ohne daß wir uns hier die Frage stellten, ob sie denn weniger kriminell als Mitglieder der Oberschicht wären. (…)