STREIT 2/2021

S. 51-58

Herausforderungen der Nebenklagevertretung bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung

In den letzten 20 Jahren hat es im Strafverfahrensrecht etliche positive Veränderungen für Betroffene von Sexualstraftaten ergeben. Ihre Rechte im Verfahren wurden deutlich gestärkt. Sie werden nicht mehr ausschließlich als Beweismittel gesehen, sondern haben mit der Nebenklage die Möglichkeit, zu Verfahrensbeteiligten zu werden. Verschiedene verfahrensrechtliche Vorschriften sollen sie zudem in ihrer besonderen Vulnerabilität in einem Strafverfahren schützen. Gleichwohl sind die Rechte Betroffener gegenüber denen der Beschuldigten nach wie vor eingeschränkt. Dies soll auch nach der aktuell vorgesehenen Änderung der StPO so bleiben.1 (1)
Zudem wird eine Debatte darüber geführt, ob wir zwischenzeitlich in einer „viktimären Gesellschaft“2 angekommen sind und eine „überzogene Opferzuwendung“ unser Rechtsstaatsprinzip bedroht. Auswirkungen hiervon sind u.a. darin zu spüren, dass bestehende und lange Zeit erfolgreich praktizierte Rechte der Nebenklage wie das Akteneinsichtsrecht von Staatsanwaltschaften und Gerichten zunehmend faktisch ausgehöhlt werden. (2)
Während auf der einen Seite eine hohe mediale Aufmerksamkeit insbesondere für Fälle sexualisierter Gewalt gegen Kinder besteht und unter den Schlagworten „Lügde“, „Bergisch Gladbach“ und „Münster“ Verantwortlichkeiten gesucht und Strafverschärfungen auch gegen Bedenken von Expert*innen durchgesetzt werden, scheitern viele weniger skandalisierte Fälle an negativen aussagepsychologischen Gutachten, die sich noch immer an der BGH-Rechtsprechung von 1999 orientieren und Erkenntnisse z.B. aus der Psychotraumatologie der letzten 20 Jahre ignorieren. (3)

1. Eingeschränkte Rechte nebenklage­berechtigter Zeug*innen

Nebenklageberechtigte Zeug*innen haben im Strafverfahren im Verhältnis zur Staatsanwaltschaft und zum Beschuldigten nur eingeschränkte Rechte. Die Durchsetzung bestehender Rechte kann überdies das Verfahren negativ beeinflussen, weil hierdurch Angriffe auf die Glaubhaftigkeit der Zeug*innen möglich werden. Dies begünstigt die Wahrnehmung des Strafverfahrens von Seiten der Betroffenen als täterorientiert und eine Skepsis bezüglich der Möglichkeit, Gerechtigkeit zu erlangen.

Keine notwendige Verfahrensbeteiligung

In Fällen einer notwendigen Verteidigung kann nur bei ununterbrochener Anwesenheit der Verteidigung verhandelt werden (§§ 140, 231a Abs. 4 StPO). In allen anderen Fällen besteht zwar auch für die Verteidigung kein grundsätzlicher Anspruch auf eine Verlegung des Termins, ein entsprechender Antrag kann jedoch vom Gericht nur nach pflichtgemäßem Ermessen abgelehnt werden. In die Ermessensentscheidung fließt vor allem das Recht des Angeklagten ein, sich in der Hauptverhandlung von eine*r Anwält*in seiner Wahl vertreten zu lassen. Eine Absprache der Hauptverhandlungstermine mit der Verteidigung ist deshalb zumindest bei umfangreicheren Hauptverhandlungen die Regel, ebenso eine Verlegung bei Terminkollisionen.
Die anwaltliche Vertretung der Nebenklage ist keine notwendige Verfahrensbeteiligte. Das bedeutet, dass auch ohne Nebenklagevertretung verhandelt werden kann, Termine nicht mit der Nebenklage abgesprochen werden müssen und Verlegungsanträgen nicht stattgegeben werden muss. Die Ablehnung eines Verlegungsantrags ist eine Ermessensentscheidung. Es wird argumentiert, dass die Situation der Nebenkläger*in eine grundsätzlich andere als die des Angeklagten sei, weil sie sich nicht gegen einen Schuldvorwurf verteidigen muss, sondern ihre persönlichen Interessen auf Genugtuung wahrnimmt.3 Zumindest für die Hauptverhandlungstage, an denen die Nebenkläger*in als Zeugin geladen ist, gilt aber, dass sie hier keine „persönlichen Interessen“ wahrnimmt, sondern einer prozessualen Verpflichtung nachkommt.
Zudem befindet sich die Nebenklägerin während ihrer Zeugenaussage und in Konfrontation mit dem Angeklagten und der Verteidigung in einer besonders vulnerablen Situation. Art. 23 Abs. 3 der EU-Opferschutzrichtlinie4 regelt für Opfer mit besonderen Schutzbedürfnissen – hierzu zählen insbesondere Opfer von geschlechtsbezogener Gewalt, Gewalt in engen Beziehungen oder sexueller Gewalt – einen ausdrücklichen Schutzanspruch während der Gerichtsverhandlung, dessen Durchsetzung die zentrale Aufgabe der Nebenklagevertretung ist.
In die Ermessensentscheidung sind die Interessen des Angeklagten und insbesondere der Beschleunigungsgrundsatz einzubeziehen.5 Auf der anderen Seite steht das Recht auf ein faires Verfahren auch dem/der Nebenkläger*in zu. Das Gericht hat deshalb zu berücksichtigen, ob bei einer Ablehnung der Verlegung oder Terminierung in Kenntnis der Verhinderung der Nebenklagevertretung die Zwecke der Nebenklage vereitelt würden, weil wesentliche Rechte nicht mehr ausgeübt werden können, beispielsweise die Befragung wichtiger Zeug*innen oder die Möglichkeit des Schlussvortrags.6
Ist die Hauptverhandlung bei Anschlusserklärung bereits anberaumt, regelt § 398 StPO sogar ausdrücklich, dass der Fortgang des Verfahrens durch den Anschluss nicht beeinflusst wird und es unschädlich ist, wenn die Nebenklage vom Termin nicht mehr benachrichtigt werden kann. Dies ist besonders für diejenigen misslich, die ungenügend über ihr Recht auf anwaltliche Vertretung bereits im Ermittlungsverfahren aufgeklärt wurden. Zwar besteht mittlerweile gem. § 406i StPO ein Anspruch Verletzter auf Information über ihre Rechte, allerdings wird diesem in der Praxis oft nur sehr schematisch nachgekommen, sodass wir als Anwältinnen immer wieder von Mandantinnen hören, dass ihnen die Bedeutung einer möglichst frühen anwaltlichen Vertretung gar nicht klar war und sie gedacht hätten, diese erst bei einer Terminierung zu brauchen.
In der Praxis wird die Nebenklage zumindest in landgerichtlichen Verfahren meist in die Terminplanung einbezogen. Es ist jedoch eine Frage des Zufalls, inwieweit Verhinderungen der Nebenklagevertretung bei der Planung tatsächlich berücksichtigt werden oder unter Hinweis auf die enge Terminlage des Gerichts oder der Sachverständigen mit der Bitte, eine Vertreterin zu schicken, übergangen werden.
Es wäre daher erforderlich, die Nebenklagevertretung mit der Verteidigung rechtlich gleichzustellen und sie zur notwendigen Verfahrensbeteiligten zu erklären.

Fehlendes Zustimmungserfordernis bei Verfahrenseinstellungen oder Absprachen

Eine Einstellung des Verfahrens nach §§ 153, 153a und § 154 StPO ist auch ohne Zustimmung der Nebenklage möglich, wenn Gericht, Staatsanwaltschaft und Angeklagte*r zustimmen. Allerdings muss das Gericht vor der Einstellung über die Berechtigung zum Anschluss als Nebenkläger*in entscheiden und die Nebenkläger*in anhören. Neben der nach wie vor bestehenden Praxis, dass das rechtliche Gehör meist nicht angeboten wird, sondern eingefordert werden muss, kann ein Verfahren damit auch gegen den Willen der Verletzten beendet werden. Oftmals berücksichtigen die Staatsanwaltschaft oder das Gericht bei einer Einstellung den Willen der Nebenklage. Gleichwohl können die Überlegungen von Gericht und Staatsanwaltschaft im Hinblick auf eine Verfahrenseinstellung gänzlich losgelöst von den Interessen oder dem Wunsch der Geschädigten sein.
Eine Einstellung im Ermittlungsverfahren ist sogar ohne Anhörung der nebenklageberechtigten Verletzten möglich. In Kombination mit der bei etlichen Staatsanwaltschaften verweigerten Akteneinsicht in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen (s. dazu unten) kann es daher passieren, dass ein Verfahren nach §§ 153 ff. StPO eingestellt wird, ehe die nebenklageberechtigten Verletzten überhaupt Akteneinsicht und damit Gelegenheit zur Stellungnahme hatten. Immerhin ist der Verletzten – auf Antrag – gem. § 406d Abs. 1 Nr. 1 StPO die Einstellung des Verfahrens mitzuteilen. Geschieht die Einstellung aus Opportunitätsgründen, gibt es allerdings kein Rechtsmittel. Nachdem die leidliche Verweisung auf den Privatklageweg bei § 238 StGB abgeschafft wurde, führte dies in mehreren Bundesländern zu einem signifikanten Anstieg der Einstellungen nach § 153 StPO in Nachstellungsfällen.7
Auch im Rahmen einer Verfahrensabsprache steht der Nebenkläger*in als Verfahrensbeteiligter gem. § 257c Abs. 3 S. 3 StPO zwar ein Recht auf Stellungnahme zu, ihre Zustimmung ist für das Zustandekommen der Verständigung jedoch nicht erforderlich. Die Nebenklage kann einen „Deal“ daher nicht verhindern.
Notwendig wäre das Recht der nebenklageberechtigten Verletzten auf Stellungnahme vor verfahrensbeendenden Entscheidungen im Ermittlungsverfahren und das Erfordernis ihrer Zustimmung bei einer Einstellung nach §§ 153, 153a StPO oder einer Verständigung.

Eingeschränkte Möglichkeit der Beiordnung von Nebenklagevertretung bei Vergehen

Die einkommensunabhängige Beiordnung einer Nebenklagevertretung ist bei Sexualdelikten unproblematisch, wenn die Verletzten zur Tatzeit minderjährig waren (§ 397a Abs. 1 Nr. 4 StPO), ein Verbrechen nach § 177 StGB oder ein besonders schwerer Fall eines Vergehens nach § 177 Abs. 6 StGB (§ 397a Abs. 1 Nr. 1 StPO) angeklagt ist. Umfasst sind damit neben Taten an Kindern und Jugendlichen sexuelle Übergriffe an Menschen, die aufgrund einer Krankheit oder Behinderung keinen entgegenstehenden Willen äußern können, sowie Fälle der sexuellen Nötigung oder Vergewaltigung. Bei anderen Sexualdelikten kommt eine Beiordnung nur in Betracht, wenn die verletzte Person ihre Interessen selbst nicht ausreichend wahrnehmen kann (§ 397a Abs. 1 Nr. 4 StPO).
Damit ist in den Fällen, die bereits vor der Reform des Sexualstrafrechts 2016 eine Beiordnung vorgesehen hatten, auch weiterhin ohne weitere Voraussetzungen eine Beiordnung möglich. In dem durch die Sexualstrafrechtsreform neugestalteten Grundtatbestand der sexuellen Handlung gegen den Willen der Betroffenen („Nein heißt Nein“), muss aber – wie bereits in den meisten Fällen bei häuslicher Gewalt – dargelegt werden, dass die Verletzte unfähig ist, ihre Interessen selbst wahrzunehmen. Das kann beispielsweise in Einschränkungen aufgrund des psychischen Gesundheitszustands als Folge der Tat begründet sein, in der Beziehung zwischen Täter und Opfer oder in der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage.8 Angeführt werden können hier vor allem die Folgen der Tat, die Belastungen einer Konfrontation mit dem Angeklagten oder die Gefahr einer sekundären Viktimisierung. Für die Frage, ob eine besondere Schutzbedürftigkeit gegeben ist, kann auf Art. 22 Abs. 3 der EU-Opferschutzrichtlinie Bezug genommen werden. Dort sind Personengruppen und Tatkonstellationen benannt, auf die bei der individuellen Ermittlung einer besonderen Schutzbedürftigkeit eine besondere Aufmerksamkeit gelegt werden soll. Diese Einschränkung zwingt Betroffene zur Offenlegung ihrer besonderen Vulnerabilität und lässt besonders resiliente Verletzte ohne anwaltlichen Beistand, wenn sie nicht bereit oder fähig sind, hierfür selbst zu zahlen. Gerade zu Beginn des Ermittlungsverfahrens ist es – wenn es sich um erwachsene Betroffene handelt – überdies oftmals noch nicht absehbar, welche Tatbestandsalternativen in Betracht kommen. Für die Betroffenen ist deshalb eine anwaltliche Vertretung immer auch mit einem Kostenrisiko verbunden.
Erforderlich ist daher die einkommensunabhängige Beiordnung einer Nebenklagevertretung bei allen Sexualdelikten.

Eingeschränkte Nebenklagebefugnis in Jugendstrafverfahren

In Strafverfahren gegen jugendliche Beschuldigte ist eine Nebenklage oder die Beiordnung eines anwaltlichen Verletztenbeistands für Betroffene nur sehr eingeschränkt möglich. Nach § 80 Abs. 3 JGG ist die Nebenklage in Jugendstrafverfahren grundsätzlich ausgeschlossen und nach Abs. 3 nur dann zulässig, wenn ein Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung angeklagt ist und schwere körperliche oder seelische Tatfolgen eingetreten sind oder das Opfer einer solchen Folge ausgesetzt wurde. Der Begriff der Schwere der Tatfolgen ist eng auszulegen, weil davon auszugehen ist, dass körperliche und vor allem psychische Folgen regelmäßig der Tatbestandsverwirklichung immanent sind.9 Begründet wird dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis mit dem Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts, der gegenüber den Interessen der Verletzten vorrangig sein soll.

Eingeschränktes Rechtsmittelrecht und Kostenrisiko bei Rechtsmitteleinlegung

Die Nebenklage kann gem. § 400 Abs. 1 StPO ein Urteil nur mit dem Ziel einer Änderung des Schuldspruchs hinsichtlich eines Nebenklagedeliktes anfechten. Allein wegen einer Änderung der Rechtsfolge ist die Einlegung eines Rechtsmittels nicht zulässig. Das bezieht sich nicht nur auf die Höhe der Verurteilung, sondern beispielsweise auch auf die unterbliebene Anordnung der Sicherungsverwahrung.10 Da bestimmten Verletzten mit der Nebenklage Gelegenheit gegeben werden soll, ihre Interessen auf Genugtuung zu verfolgen11 , geht der Gesetzgeber offenbar davon aus, dass das Maß der Verurteilung nicht zu den Interessen auf Genugtuung gehört und für Verletzte unerheblich ist.
Nebenkläger*innen sehen sich aber auch dann, wenn ihnen ein Rechtsmittel zusteht, häufig wegen des entstehenden Kostenrisikos an der Einlegung von Rechtsmitteln gehindert. Auch wenn die Staatsanwaltschaft gleichfalls Rechtsmittel einlegt, bleibt es bei einem Kostenrisiko. In dieser Konstellation fallen die notwendigen Auslagen des Angeklagten nach § 473 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 StPO zwar allein der Staatskasse zur Last, die Hälfte der gerichtlichen Auslagen muss jedoch die Nebenkläger*in tragen.12 Hinzu kommt das Risiko, dass die Staatsanwaltschaft jederzeit das Rechtsmittel zurücknehmen kann.

Fehlendes Zeugnisverweigerungsrecht für Fachkräfte in Beratungsstellen

Fachkräfte in Beratungsstellen haben, auch wenn sie gegenüber ihren Klient*innen eine Verschwiegenheitspflicht haben, nur dann vor Gericht ein Zeugnisverweigerungsrecht, wenn sie approbierte Psychotherapeut*innen oder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen sind. Alle anderen Fachkräfte, die in Beratungsstellen tätig sind, können vor Gericht die Aussage nicht verweigern. Das bedeutet, dass sie Betroffenen keine unbedingte Vertraulichkeit zusichern können. Beratungsstellen, die aus Gründen der Vertraulichkeit Angaben gegenüber den Strafverfolgungsbehörden verweigert haben, sahen sich Durchsuchungsbeschlüssen ausgesetzt. Ein Änderungsantrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Zuge des am 25.03.2021 abgeschlossenen Gesetzgebungsprozesses zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder, mit dem ein solches Zeugnisverweigerungsrecht eingeführt werden sollte13 , wurde abgelehnt.
Für den Aufbau vertraulicher Beziehungen in der Beratung ist aber die Verschwiegenheit und damit das Zeugnisverweigerungsrecht vor Gericht ein notwendiger Bestandteil.

2. Mangelhafte Umsetzung bestehender Rechte und sich daraus ergebende rechtspolitische Forderungen

In einigen Bereichen ist eine beachtliche Diskrepanz zwischen Rechtslage und Rechtswirklichkeit festzustellen, sei es, dass bestehende Rechte faktisch ausgehöhlt oder dass sie gar nicht erst umgesetzt werden.

Verweigerung der Akteneinsicht für die Nebenklage

Manche Staatsanwaltschaften und Gerichte verweigern der Nebenklagevertretung die Akteneinsicht in allen Fällen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation. Begründet wird das häufig pauschal und ohne Bezugnahme auf den Einzelfall damit, dass in dieser Konstellation durch die Aktenkenntnis der Nebenklagevertretung die Gefahr besteht, dass die Aussagen der Opferzeug*innen beeinflusst werden könnten. Die Akteneinsicht ist jedoch eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Opfer- und Nebenklagerechte überhaupt wahrgenommen werden können. Ohne Akteneinsicht ist das Einlassungsverhalten der Beschuldigten nicht bekannt, es können keine eigenen Beweisanregungen oder -anträge gestellt werden, Vorhalte gemacht oder überprüft werden, ein Adhäsionsantrag kann nicht vorbereitet werden, es kann nicht beraten werden, ob einer aussagepsychologischen Untersuchung zugestimmt werden sollte. Ohne Akteneinsicht laufen wesentliche Nebenklagerechte ins Leere und das Institut der Nebenklage wird ausgehöhlt.
Das Akteneinsichtsrecht der Nebenklage kann nur versagt werden, wenn schutzwürdige Interessen des Beschuldigten oder anderer Personen entgegenstehen (§ 406 Abs. 2 S. 1 StPO) oder soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint (§ 406 Abs. 2 S. 2 StPO). Letzteres kann dann der Fall sein, wenn die Kenntnis vom Akteninhalt die Zuverlässigkeit oder den Wahrheitsgehalt der Zeugenaussage der Nebenklägerin beeinträchtigen könnte.14 Unstreitig reicht allein die abstrakte Möglichkeit, die Aussage anhand des Akteninhaltes zu „präparieren“, nicht aus, um eine Gefährdung des Untersuchungszwecks zu begründen15 , vielmehr ist eine Würdigung der Verfahrens- und Rechtslage im Einzelfall vorzunehmen. Auch die Entscheidungen, die die Akteneinsicht ablehnen, wiederholen dies wie ein Mantra, um dann in der Regel doch nicht einzelfallbezogen zu argumentieren, sondern sich ausschließlich abstrakt auf die Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zu berufen.
Insbesondere das OLG Hamburg geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen eine Ermessensreduzierung auf Null stattfindet und die Akteneinsicht grundsätzlich zu versagen ist.16 Hierbei wird von einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation auch dann ausgegangen, wenn der Angeklagte keine Angaben zum Tatgeschehen macht.17 Die Annahme einer Gefährdung des Untersuchungszwecks ohne konkrete einzelfallbezogene Verdachtsmomente reicht aber nach überwiegender Rechtsprechung nicht aus, um eine Akteneinsicht pauschal zu verweigern.18 Dabei wird z.T. gefordert oder zumindest darauf abgestellt, dass die Nebenklagevertretung weder Aktenteile noch wesentliche Inhalte der Akten an die Zeugin weitergibt. Die Akteneinsicht erfolgt durch die Nebenklagevertreter*in der Verletzten. Eine Weitergabe der Akte an die Nebenkläger*in ist im Rahmen der Nebenklagevertretung unüblich und in den Fallkonstellationen, in denen der Aussage der Geschädigten eine erhebliche Bedeutung im Rahmen der Beweiswürdigkeit zukommt, nicht fachgerecht. Auch der Nebenklageanwältin ist in Kenntnis der BGH-Rechtsprechung zu den erhöhten Anforderungen in der Beweiswürdigung bei Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen daran gelegen, den Beweiswert der Aussage der Zeugin nicht zu schmälern oder zusätzliche Kampffelder zu eröffnen.
Von einigen Staatsanwaltschaften oder Gerichten wird vor Akteneinsicht eine anwaltliche Versicherung verlangt, an die Verletzte weder Aktenbestandteile herauszugeben noch Akteninhalte bekannt zu machen. Hiergegen wird vorgebracht, eine solche Erklärung laufe den Mandanteninteressen zuwider und sei weder rechtlich bindend noch überprüfbar.19 Das verkennt zum einen, dass auch Nebenklagevertreter*innen einer standes- und haftungsrechtlichen Kontrolle unterliegen. Die Weitergabe von Akteninhalten, die zu einer „Kontaminierung“ der Zeugenaussage führt, entspricht gerade nicht den Interessen der Mandantin und kann neben dem Verlust der Nebenklageziele auch den Verlust zivilrechtlicher oder OEG-Ansprüche zur Folge haben.20 Ob die Nebenkläger*in Aktenkenntnis hat, kann in deren zeugenschaftlicher Vernehmung überprüft und in der Beweiswürdigung berücksichtigt werden.
Der BGH hat sich mit den möglichen Auswirkungen einer Akteneinsicht der Nebenklage bislang nur im Rahmen zweier Revisionsverfahren auseinandergesetzt. Hier hatte die Verteidigung beanstandet, dass sich das Landgericht in der Beweiswürdigung nicht mit dem Umstand auseinandergesetzt hat, dass die Nebenklagevertretung Akteneinsicht hatte. Der BGH hat ausgeführt, dass weder grundsätzlich21 noch regelmäßig in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen22 gewürdigt werden muss, wenn die verletzte Person Aktenkenntnis, insbesondere auch Kenntnis ihrer vorangegangenen Vernehmungen, hatte. Mit der gesetzlich eingeräumten Möglichkeit der Akteneinsicht würde nicht typischerweise das Realitätskriterium der Aussagekonstanz entwertet. Im Übrigen würde mit dieser generalisierenden Annahme die freie Entscheidung, Akteneinsicht zu beantragen, beeinträchtigt. Nur wenn es konkrete Hinweise, beispielsweise auf eine Falschaussagemotivation, gäbe, müsste die mögliche Aktenkenntnis gewürdigt werden.
Interessanterweise wurde bis zur Veröffentlichung der ersten Entscheidung des OLG Hamburg 2014 das Akteneinsichtsrecht der Nebenklage soweit bekannt weder in Frage gestellt noch problematisiert. Seitdem ist jedoch eine heftige Auseinandersetzung um die Akteneinsicht – und damit auch um die Umsetzung von Nebenklagerechten – entbrannt. Für Nebenklagevertreter*innen hängt ein großer Teil ihrer Arbeitsfähigkeit davon ab, bei welcher Staatsanwaltschaft die Ermittlungen geführt und wohin angeklagt wird. Damit gibt es einen diametralen Widerspruch zwischen einer rechtspolitisch geforderten und z.T. ja auch umgesetzten Stärkung der Situation Betroffener im Strafverfahren und der Verfahrensrealität vor vielen Gerichten. Nebenklage ohne Akteneinsicht wird zu einem Feigenblatt des Opferschutzes.

Mehrfachvernehmungen von Kindern

Mehrfachvernehmungen von Verletzten sollten vermieden werden. Für Erwachsene ergibt sich dies aus Nr. 19a Abs. 3 RiStBV, für kindliche Zeuginnen und Zeugen aus Nr. 19 RiStBV. Von der für Kinder und Jugendliche vorgesehenen Video-Erstvernehmung durch die Ermittlungsrichter*in, die eine Kinderaussage in der Hauptverhandlung ersetzen könnte, wird nur sehr eingeschränkt Gebrauch gemacht. Eine kinderfreundliche frühe Videovernehmung in einem kindgerechten Setting mit Anbindung an eine medizinische und therapeutische Versorgung der Kinder würde eine umfassende Erstversorgung ermöglichen und könnte Mehrfachvernehmungen minimieren. Erste Childhood Häuser sind als Modellprojekte eröffnet worden.23
Eine Video-Erstvernehmung durch die Ermittlungsrichter*in setzt auch voraus, dass die erforderliche Videotechnik umfassend vorgehalten wird, das erforderliche Personal für die Transkriptionsarbeit eingestellt wird und die Ermittlungsrichter*innen in der Vernehmung kindlicher Zeug*innen oder besonders belasteter Zeug*innen fortgebildet werden. Forderungen nach Richterfortbildungen werden zwar regelmäßig aufgestellt, sind aber offenbar bislang nicht durchsetzbar.
Es ist regional sehr unterschiedlich, ob und in welchen Fällen eine richterliche Videovernehmung durchgeführt wird. Auch bei Kindern und Jugendlichen scheint sie eher die Ausnahme als die Regel zu sein, es scheint große regionale Unterschiede in der Handhabung zu geben. Über die Ersetzung der Zeugenaussage durch eine richterliche Videovernehmung in der Hauptverhandlung gibt es nach hiesiger Kenntnis keine Evaluierung, in der Praxis haben wir diese bisher nicht erlebt. Auch hier wäre eine Umsetzung bestehender Regelungen in der Praxis zielführender als stets neue theoretische Verbesserungen durch Gesetzesänderungen.

Fehlende Berücksichtigung der Bedarfe von Zeug*innen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen

Die Bedarfe von Zeug*innen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen werden in Strafverfahren nur sehr eingeschränkt berücksichtigt. Das bezieht sich bereits auf besondere Kommunikationsbedürfnisse.
Mit dem Gesetz zur Erweiterung der Medienöffentlichkeit und zur Verbesserung der Kommunikation für Menschen mit Sprach- und Hörbehinderungen EMöGG gilt seit dem 19.10.2017, dass eine hör- oder sprachbehinderte Person auswählen kann, ob sie mündlich, schriftlich oder mit Hilfe einer* vom Gericht hinzuzuziehenden Dolmetscher*in mit dem Gericht kommunizieren will (§ 186 GVG). Für die mündliche und schriftliche Verständigung hat das Gericht die geeigneten technischen Hilfsmittel bereitzustellen. Die hör- oder sprachbehinderte Person ist auf ihr Wahlrecht hinzuweisen. Inwieweit dies in der Praxis tatsächlich umgesetzt wird, ist hier nicht bekannt. Wenn die Person von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch gemacht hat oder eine ausreichende Verständigung mit dem gewählten Mittel nicht oder nur unter unverhältnismäßigem Aufwand möglich ist, kann das Gericht allerdings die schriftliche Äußerung oder eine*n Dolmetscher*in anordnen.
Blinden und sehbehinderten Personen müssen Dokumente, die ihnen zugestellt werden oder auf die sie ein Anrecht haben, nach § 191a GVG in einer für sie wahrnehmbaren Form erhalten. Einzelheiten hierzu enthält die Zugänglichmachungsverordnung–ZMV vom 26.02.2007 (BGBl I 215).
Weitergehende spezifische Kommunikationsbedürfnisse, die den üblichen strukturellen Erfordernissen eines Verfahrens entgegenstehen, müssen von Gerichten nicht erfüllt werden. So hat es das Bundesverfassungsgericht 2018 nicht für einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz oder die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention gehalten, dass es in einem sozialgerichtlichen Verfahren einer Person mit Autismus verwehrt wurde, am Verfahren mittels Computer von zuhause aus teilzunehmen (BVerfG am 27.11.2018 – 1BvR 957/18). Ein Anspruch auf eine Dolmetscher*in für leichte Sprache besteht nicht, eine Hinzuziehung kann jedoch angeregt werden.
Es wäre wünschenswert, wenn die UN-Behindertenrechtskonvention als Grundlage diente für weitergehende Regelungen, die allen Verfahrensbeteiligten echte Teilnahme ermöglichen.

3. Aussagepsychologische Gutachten

Ein „Dauerbrenner“ für die Nebenklagevertretung sind aussagepsychologische Gutachten. Sie haben einerseits eine hohe Bedeutung für den Ausgang des Verfahrens – nur selten kommt es trotz eines „negativen“ Gutachtens zu einer Anklageerhebung oder Verurteilung – und sind andererseits in ihrer Aussagekraft sehr begrenzt. Ohne empirischen Beleg ergibt sich in der Praxis der Eindruck, dass aussagepsychologische Gutachten zunehmend häufiger zu dem Ergebnis gelangen, dass sich eine Erlebnisbasiertheit nicht belegen lässt.
Insbesondere die Jugendschutzkammern der Landgerichte sind mittlerweile häufig fachlich sehr kompetent, gut fortgebildet und interdisziplinär interessiert. Das gleiche gilt für viele Staatsanwaltschaften, in denen Schwerpunktabteilungen für Sexualstraftaten existieren. Aussagepsychologische Gutachten werden deshalb oftmals nur noch in „problematischen“ Fällen eingeholt. Entsprechend hoch ist der Anteil an „negativen“ Gutachten. Sexualstraftaten gegen Erwachsene werden hingegen nur an einigen Landgerichten in Spezialkammern bearbeitet, meist befinden sie sich im allgemeinen Turnus. Andererseits ist hier die Einholung von aussagepsychologischen Gutachten generell seltener, weil bei Erwachsenen in der Regel davon auszugehen ist, dass die Gerichte über die erforderliche Sachkunde zur Beurteilung der Aussagetüchtigkeit und Glaubhaftigkeit der Aussage verfügen.
Die Methode der Aussagepsychologie hat wie jede diagnostische Methoden Grenzen und kann außerhalb dieser Grenzen keine zuverlässigen Aussagen mehr treffen. Die Grenzen sind erreicht, wenn eine suggestive Beeinflussung möglich erscheint oder eine schwer traumatisierte Person zu begutachten ist. Wie oben ausgeführt werden aussagepsychologische Gutachten in Folge einer zunehmenden Spezialisierung und Kompetenz der Gerichte und Staatsanwaltschaften überwiegend nur noch in besonders schwierigen Fällen (sehr junge Kinder, schwer traumatisierte Zeug*innen) in Auftrag gegeben. Das sind oftmals genau die Fälle, in denen die Aussagepsychologie an ihre Grenzen stößt und keine Aussage mehr treffen kann. Negative Gutachten sind dann vorprogrammiert, ohne dass hierin auch die Grenzen der Aussagepsychologie aufgezeigt werden.
Ein zentrales Verfahren der Aussagepsychologie ist die merkmalsorientierte Inhaltsanalyse, bei der anhand von Realkennzeichen geprüft wird, ob die Aussage erlebnisbasiert ist. Diesem Verfahren liegt die Annahme zugrunde, dass diese Realkennzeichen typischerweise in Aussagen zu eigenem Erleben auftreten, in Schilderungen von etwas Nichterlebtem – beispielsweise etwas Erfundenem – jedoch nicht.24 Diese Grundannahme ist nicht unumstritten.25 Zudem kann die qualitative Inhaltsanalyse nur Aussagen treffen bei bewusst unwahren Aussagen. Die Erlebnisfundiertheit und damit Glaubhaftigkeit von – möglicherweise – suggestiv beeinflussten Aussagen kann aussagepsychologisch nicht bestätigt werden, hier sind die Grenzen der Aussagepsychologie erreicht.
Die Frage der Suggestion steht insbesondere bei Aussagen kleiner Kinder, Verletzter mit kognitiven Beeinträchtigungen oder schwer traumatisierten Geschädigten (Autosuggestion, Fehleinschätzung nach therapeutischer Rekonstruktion etc.) im Raum. Für eine mögliche Suggestion muss es konkrete Anhaltspunkte geben, denn grundsätzlich lässt sich ein Suggestionseinfluss nie ausschließen. Im Rahmen der Hypothesenbildung werden in Gutachten immer wieder Suggestionshypothesen gebildet, für die es aus der Akte keine konkreten Anhaltspunkte gibt. Auch wenn es Anhaltspunkte gibt, wird deren tatsächliches Vorliegen oftmals nicht mehr geprüft, weil es wegen eines „negativen“ Gutachtens gar nicht mehr zu einer Beweisaufnahme kommt. Die Anknüpfungstatsachen (oder Indizien) für eine Suggestion sind jedoch vom Gericht (oder im Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft) zu würdigen.26 Bei Traumaerinnerungen beispielsweise in therapeutischen Prozessen kann die Suggestionshypothese (nur) widerlegt werden, wenn es zuverlässige Protokolle oder Zeugenaussagen zu den Inhalten der Therapiesitzungen gibt. Bei Kinderaussagen spielt die Aussagegenese eine besondere Rolle. Auch hier muss die Aussageentstehung und -entwicklung Gegenstand der Beweisaufnahme sein.
Erkenntnisse der Psychotraumatologie werden in aussagepsychologischen Gutachten unter Berufung auf die Rechtsprechung des BGH nicht berücksichtigt. Die Realkennzeichenanalyse ist für traumatisierte Personen nur begrenzt anwendbar.27 : Reinhardt, 2002.] Auch die Konstanzanalyse ist nur sehr eingeschränkt möglich, weil Erinnerungen an traumatische Erlebnisse oft fragmentiert sind und sich nicht in eine narrative Erinnerung integrieren lassen.28 Auf die begrenzte Aussagekraft von Glaubhaftigkeitsgutachten bei traumatisierten Personen wird oftmals nicht aufmerksam gemacht. Alternativen zu einer aussagepsychologischen Begutachtung werden nicht in Betracht gezogen.
Eine aussagepsychologische Untersuchung ist nach § 81c StPO nur mit Einwilligung der zu untersuchenden Person zulässig. Wird die Einwilligung verweigert, muss die Gutachter*in das Gutachten nach Aktenlage und aufgrund der in der Hauptverhandlung gewonnen Erkenntnisse erstatten. Wenn die Begutachtung bereits im Ermittlungsverfahren erfolgen soll, kann die fehlende Einwilligung dazu führen, dass das Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wird, weil die Staatsanwaltschaft sich aufgrund von Zweifeln an der Aussagetüchtigkeit oder bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage nicht in der Lage sieht, einen hinreichenden Tatverdacht zu bejahen. Die Nebenklagevertretung (bzw. die Vertretung als Verletztenbeistand im Ermittlungsverfahren) hat hier nur die Möglichkeit, unter Verweis auf die Pflicht des Gerichts zur eigenständigen Beweiswürdigung darauf hinzuwirken, dass von der Einholung eines Gutachtens abgesehen wird. Dazu kann beispielsweise damit argumentiert werden, dass im konkreten Fall die Aussagetüchtigkeit auch mit anderen Beweismitteln festgestellt werden kann (z.B. jugendpsychiatrische Sachverständige oder Entwicklungspsycholog*innen) oder das Gericht die Glaubhaftigkeit der Aussage selbst und mit eigenen aussagepsychologischen Kenntnissen beurteilen kann und muss, weil beispielsweise die Anknüpfungstatsachen für eine mögliche suggestive Beeinflussung ohnehin vom Gericht festzustellen sind.29
Viele Mandantinnen sind bereit, sich begutachten zu lassen. Es ist ihnen letztlich auch kaum zuzumuten, sich bei Anordnung eines Gutachtens nicht begutachten zu lassen, denn sie riskieren damit eine Einstellung des Verfahrens. Die Erfolgsaussichten eines Klageerzwingungsverfahren sind i.d.R. nicht hoch, jedenfalls kommt es zu erheblichen Zeitverzögerungen und es besteht ein Kostenrisiko. Dies wiederum führt dazu, dass sich Rechtsprechung zu der geschilderten Problematik nur schwer entwickeln kann. Ernsthafte Versuche, traumatherapeutische Erkenntnisse in die Aussagepsychologie zu integrieren, sind nicht ersichtlich.
Eine der größten Herausforderungen in der Tätigkeit als Nebenklagevertreterin ist die Vermittlung eines negativen Gutachtens an die Verletzten. Auch wenn „negative“ Gutachten regelmäßig zu dem Ergebnis kommen, dass die Erlebnisbasiertheit der Aussage sich mit aussagepsychologischen Mitteln nicht bestätigen lässt, und dies nicht heißt, dass die geschilderten Taten nicht stattgefunden haben, hören die Betroffenen nur die Botschaft, ihre Aussage sei nicht ausreichend gewesen, und sehen sich in ihrer Befürchtung bestätigt, ihnen werde nicht geglaubt.

4. Fazit

Trotz aller rechtlichen Verbesserungen in den letzten Jahren sind bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung die Rechte Betroffener gegenüber denen der Beschuldigten nach wie vor eingeschränkt. Es wäre daher erforderlich, die Nebenklagevertretung rechtlich mit der Verteidigung gleichzustellen und sie zur notwendigen Verfahrensbeteiligten zu erklären. Das Recht der nebenklageberechtigten Verletzten auf Anhörung im Ermittlungsverfahren ist ebenso zu gewähren wie das Erfordernis ihrer Zustimmung zur Einstellung des Verfahrens. Zur Wahrnehmung dieser Rechte ist die Möglichkeit der einkommensunabhängigen Beiordnung einer Nebenklagevertretung bei allen Sexualdelikten und die uneingeschränkte Nebenklagebefugnis auch in Jugendstrafverfahren erforderlich. Für die Nebenklagevertretung muss die tatsächliche Gewährung der Akteneinsicht sichergestellt sein. Fachkräfte in Beratungsstellen brauchen ein Zeugnisverweigerungsrecht, da nur so das nötige Vertrauensverhältnis aufgebaut werden kann. Zur Vermeidung von Mehrfachvernehmungen von Verletzten muss insbesondere bei Kindern die Möglichkeiten der Videovernehmung stärker wahrgenommen werden. Die Bedarfe von Zeug*innen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen sind speziell in Bezug auf die Kommunikationsbedürfnisse in Strafverfahren stärker zu berücksichtigen. Darüber hinaus müssen Erkenntnisse der Psychotraumatologie in aussagepsychologische Gutachten Eingang finden.

  1. BT-Drucksache 19/27654.
  2. Vgl. nur Barton in Barton/Kölbel: Strafrechtspflege und Kriminalpolitik in der viktimären Gesellschaft. Effekte, Ambivalenzen und Paradoxien. Baden-Baden 2012, S. 111 ff.
  3. OLG Stuttgart, Beschluss vom 21.08.2003 – 1 Ws 232/03, zitiert nach beck online, unter Bezugnahme auf BGH, 23.01.1979 – 5 StR 748/78.
  4. Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012.
  5. OLG Hamm, Beschluss vom 06.11.2012 – III-5 Ws 333/12, zitiert nach beck online.
  6. BeckOK StPO/Weiner, 38. Edition, Stand: 01.10.2020, § 398 Rn. 2.
  7. Evaluierungsbericht des BMJV zur Neufassung des § 238 StGB durch das Gesetz zur Verbesserung des Schutzes gegen Nachstellungen vom 1. März 2017 zur Vorlage an den Deutschen Bundestag, S. 17 (abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Service/Fachpublikationen/Evaluierung_238StGB.pdf?__blob=publicationFile&v=1.
  8. MüKoStPO/Valerius, 1. Aufl. 2019, StPO § 397a Rn. 19.
  9. LG Saarbrücken, Beschl. v. 14.2.2014 − 3 Qs 20/14, zitiert nach beck online.
  10. BGH Beschl. v. 17.6.2020 – 2 StR 161/20, BeckRS 2020, 16789.
  11. BGH, 23.01.1979 – 5 StR 748/78 = BGH 28, 272.
  12. BGH Beschl. v. 6.5.2020 – 4 StR 674/19, BeckRS 2020, 10638.
  13. BT-Drs. 19/27933.
  14. BeckOK StPO/Weiner, 38. Edition, Stand: 01.10.2020, § 406e Rn. 8 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, § 406e Rn. 11.
  15. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.
  16. OLG Hamburg BeckRS 2018, 28084, StraFo 2016, 210; Beschluss vom 24.10.2014 – 1 Ws 110/14, BeckRS 2014, 20813.
  17. OLG Hamburg, Beschluss vom 22.07.2015 – 1 Ws 88/15, BeckRS 2015, 15215.
  18. OLG Brandenburg Beschl. v. 6.7.2020 – 1 Ws 81/20, BeckRS 2020, 17128; KG Beschl. v. 21.11.2018 − 3 Ws 278/18 NStZ 2019, 110; LG Hamburg NStZ 2018, 322; OLG Braunschweig Beschl. v. 3.12.2015 – 1 Ws 309/15, BeckRS 2015, 20532; OLG Frankfurt a. M. Beschl. v. 24.6.2015 – 3 Ws 465/15, BeckRS 2016, 2465.
  19. Baumhöfener/Daber/Wenske: Die Aktenkenntnis des Verletzten in der Konstellation Aussage-gegen-Aussage, NStZ 2017, 562.
  20. BeckOK StPO/Weiner, 38. Edition, Stand: 01.10.2020, § 406e Rn. 8e.
  21. BGH Beschluss vom 15.3.2016 – 5 StR 52/16.
  22. BGH Beschluss vom 5.4.2016 – 5 StR 40/16.
  23. Erstmals in Leipzig 2018 (https://idw-online.de/de/news702992) und später auch in Heidelberg, Berlin, Düsseldorf.
  24. Meißner, Malte: Der Konflikt der Aussagepsychologie mit dem Stand der Wissenschaft in: Interdisziplinäre Fachzeitschrift für Prävention und Intervention Kindesmisshandlung und -vernachlässigung, S. 146 ff., Heft 2/2013.
  25. w.o.
  26. Burgsmüller, Claudia: Zur Bedeutung der Aussagepsychologie für die Rechtsprechung bei Delikten des sexuellen Missbrauchs von Kindern in: Fegert et al: Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Springer, 2014.
  27. Von Hinckeldey, Sabine und Fischer, Gottfried Psychotraumatologie der Gedächtnisleistung: Diagnostik, Begutachtung und Therapie traumatischer Erinnerungen. München [u.a.
  28. Fegert/Gerke/Rassenhofer: Enormes professionelles Unverständnis gegenüber Traumatisierten, Nervenheilkunde 2018,525, 528 ff.
  29. S. dazu Burgsmüller a.a.O.; LG Mainz vom 29.7.1997, STREIT 1999, S. 23-34,