STREIT 3/2021
S. 119-124
„… in ständiger Angst …“ Eine historische Studie über rechtliche Folgen einer Scheidung für Mütter mit lesbischen Beziehungen und ihre Kinder in Westdeutschland unter besonderer Berücksichtigung von Rheinland-Pfalz (1946 bis 2000), Kurzbericht
Herausgegeben vom Ministerium für Familie, Frauen, Jugend, Integration und Verbraucherschutz Rheinland-Pfalz im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ) und der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (BMH).
Die nachstehend in Auszügen abgedruckte Studie „… in ständiger Angst…” von Dr. Kirsten Plötz beschreibt anhand zahlreicher Fallbeispiele die Auswirkungen der Rechtslage im Scheidungs- und Sorgerecht auf lesbische Mütter bis zur Familienrechtsreform 1977 und danach. Sie zeigt, welchen Diskriminierungen lesbische Mütter ausgesetzt waren und gibt damit den rechtsgeschichtlichen Hintergrund für die in diesem Heft abgeduckten Vorlagebeschlüsse zum Thema „Nodoption“.
Wegen der Konzentration auf die Rechts- und Rechtsauslegungsentwicklung und die Auswirkungen des Antidiskriminierungsrechts auf die Rechte lesbischer Mütter enthält unsere gekürzte Fassung kaum Fallbeispiele – deshalb sei hier ausdrücklich die Lektüre der Studie oder zumindest der Kurzfassung unter www.mffjiv.rlp.de oder www.regenbogen.rlp.de empfohlen.
Die Redaktion
(…)
Die Sozialpädagogin Ilse Kokula stellte 1977 fest:
„Um die Angst verheirateter Lesben zu reduzieren, müßte gewährleistet sein, daß sie bei einer Scheidung nicht mehr automatisch die Kinder verlieren.“ 1979 erläuterte sie die Rechtslage, die bis Sommer 1977 galt: „Viele Lesbierinnen konnten sich bisher nicht scheiden lassen […], ein Schuldausspruch zu Lasten der Frau [bewirkte], daß sie keinen Unterhalt erhielt und für die Kinder nur unter besonderen Umständen die elterliche Gewalt übertragen bekam. […] der Verlust der Kinder und des Unterhalts ließen Frauen davor zurückschrecken, von ihrem Scheidungsrecht Gebrauch zu machen.“ (…)
„Sittengesetz“
Die Juristin Elisabeth Selbert (SPD), die sich 1948/1949 dafür einsetzte, dass Frauen und Männer per Grundgesetz gleichberechtigt sein müssten, verband damit die ausdrückliche Absicht, das Bürgerliche Gesetzbuch von Bestimmungen zu befreien, die Ehefrauen unmündig oder abhängig stellten. Aus Sicht mehrerer Parteien kollidierte dies mit dem Schutz des Grundgesetzes für Ehe und Familien in Artikel 6. Es folgten rund zehn Jahre leidenschaftlicher Auseinandersetzungen in Parteien, dem Bundestag, in Medien und juristischen Gremien, bis ein neues Ehe- und Familienrecht (Gleichberechtigungsgesetz) verabschiedet war. (…)
Am Machtverhältnis innerhalb von Ehen hatte das Ehegesetz von 1946 wenig verändert. Dies hatte auch unmittelbare Auswirkungen auf Ehefrauen, die eine lesbische Beziehung eingehen wollten. Bis 1977 war eine lesbische Beziehung nach Auslegung des einflussreichen Gesetzeskommentars Palandt ein Grund für eine „schuldige“ Scheidung, auch wenn dies in dieser Weise nicht ausdrücklich im Gesetz selbst formuliert war. 1949 führte der Palandt aus, § 43 des gültigen Ehegesetzes bestimme, dass eine „schwere Eheverfehlung“ bzw. „ehrloses und unsittliches Verhalten“ ein Grund für eine schuldige Scheidung sei. Definiert wurde die „schwere Eheverfehlung“ bzw. „ehrloses und unsittliches Verhalten“ laut Palandt u. a. durch „Gleichgeschl[echtlichen] Verkehr des Mannes, sowie der Frau“.
Der Elternteil, der am Ende der Ehe für schuldig befunden wurde, sei zur Erziehung von Kindern schlechter geeignet. Die elterliche Sorge sollte eher an den nichtschuldigen Teil gehen. Dies betonte der Bundesgerichtshof 1951 und 1952; seine Rechtsprechung zielte auf eine naturrechtliche Basis der Rechtsordnung ab. Durch diese Urteile war die Rechtsprechung daran gebunden, bei Sorgerechtsentscheidungen die Scheidungsschuld prominent zu berücksichtigen. (…)
Die Mutterschaft weiblicher Homosexueller beschrieb das Bundesverfassungsgericht 1957 nicht als problematisch, während es männliche Homosexualität als sozial gefährlich und daher strafwürdig wertete. Neben dem „Frauenüberschuss“ betonte das Gericht als Grund für diese Ungleichbehandlung, dass weibliche Homosexualität anders als die männliche öffentlich wenig sichtbar sei. Damit war sie kaum als ein mögliches alternatives Lebensmodell erkennbar und folglich für die „Sittlichkeit“ und die politisch gewollte Geschlechterordnung nicht gefährlich. (…)
„Von meiner Sehnsucht durfte niemand wissen“
Es entsteht der Eindruck, dass bis in die frühen 1970er Jahre hinein alle Beteiligten diese Thematik beschwiegen. Da bei vielen Ehescheidungen die eigentlichen Gründe nicht angesprochen wurden, sind auch die Scheidungsurteile keine ergiebige Quelle. Schätzungen sprachen von über 80 Prozent „Konventionalscheidungen“, also Scheidungen mit vorgetäuschten Gründen.
1978 erschien in der feministischen Zeitschrift EMMA ein kurzer Bericht über eine Frau aus einer ungenannten Kleinstadt, 51 Jahre alt, seit 26 Jahren verheiratet, Mutter eines 21-jährigen Sohnes. Ihre lesbischen Sehnsüchte verbarg sie noch, als der Artikel erschien. 15 Jahre zuvor, erzählte die Mutter, habe sie eine heimliche lesbische Beziehung geführt. Ihre Partnerin sei Lehrerin gewesen und habe sich daher verstecken müssen, sonst wäre sie wohl sofort der Schule verwiesen worden, meinte die Kleinstädterin. Nach zwei Jahren habe sie die Beziehung beendet, weil sie es nicht mehr ausgehalten habe, sich zu verstecken. „Damals, als ich aufgab und mich für meine Familie entschied“, habe sie nicht die nötige Stärke gehabt, um die Ehe zu beenden.
In Norddeutschland verweigerte ein Ehemann die Scheidung. Seine Frau und deren Geliebte stifteten einen Mann an, den Ehemann zu töten. Dafür standen sie 1974 wegen Mordes vor Gericht. Über diesen Prozess wurde bundesweit berichtet. Dadurch wurde lesbische Liebe für ein breites Publikum erstmals zum Thema. In der BILD-Zeitung hieß es z. B., „wenn zwei Frauen entdecken, daß sie sich lieben, sind sie oft zu ungeheuerlichsten Taten fähig“. Lesbische Frauen waren, so die Zeitschrift Spiegel, laut herkömmlichen Auffassungen „triebhafte Ungeheuer, deren Leidenschaft zu den grausamsten Konflikten führen kann: zu verlassenen Kindern und zerrissenen Ehen, zu aller Art Unglück, Tötung, Selbstmord, Mord.“ Die Allgemeine Zeitung aus Mainz und der Trierische Volksfreund vermittelten in ihrer Berichterstattung über den Mordprozess den Eindruck, dass die angeklagten Frauen mit ihrer Anstiftung zum Mord einen im Grunde harmlosen Mann aus dem Weg räumten, weil er sie störte.
Dessen Gewalttätigkeit wurde relativiert. Dass die Ehefrau nicht geschieden werden konnte, weil der Ehemann gegen eine Scheidung war, wird nicht problematisiert. In der Berichterstattung wirken die Angeklagten in abartiger Liebe viel zu eng verbunden, zudem egoistisch und die Ehefrau wie eine schlechte Mutter.
Bundesweit wirkte der Fall polarisierend. Der Presserat rügte einen Teil der Berichterstattung. Die Zeitschrift Stern kritisierte: „Es geht um Mord, doch vor Gericht steht die lesbische Liebe – Ein Vorurteil im Namen des Volkes“. Aus Frauenzentren kamen protestierende Flugblätter. Erstmals wehrten sich lesbische Frauen in Deutschland, hieß es. Dies trug zur Entstehung der Lesbenbewegung in der Bundesrepublik erheblich bei. (…)
Seit Ende der 1960er Jahre waren die Neue Frauenbewegung und die Schwulenbewegung entstanden. Dadurch bekamen auch verheiratete oder geschiedene Mütter, die eine lesbische Beziehung eingehen wollten oder bereits eingegangen waren, einen Raum des Sagbaren und eine Stimme in der Teilöffentlichkeit der Publikationen dieser sozialen Bewegungen. Das Thema elterliche Gewalt wurde gelegentlich aufgegriffen. Auch wurde es nun möglich, eine Ehescheidung nicht nur als Scheitern, sondern auch als mögliche Befreiung zu deuten. Allerdings blieben lesbische bzw. bisexuelle Mütter in den genannten Bewegungen eine Randerscheinung. Das Ehe- und Familienrecht wurde kein Kernthema der Bewegungen. (…)
Vor diesem Hintergrund erschienen in feministischen und lesbischen Publikationen erste Berichte über Mütter, die eine lesbische Beziehung eingegangen waren und als „schuldig“ Geschiedene ihre Kinder verloren hatten. Der früheste bekannte Artikel zu diesem Thema in Unsere Kleine Zeitung, einer Zeitschrift für Lesben, berichtete, dass die West-Berlinerin Frau R. 1973 wegen einer lesbischen Beziehung „schuldig“ geschieden wurde und dadurch das Sorgerecht für ihren Sohn verlor. Allen untersuchten Schilderungen ist gemeinsam, dass verheiratete Mütter, die lesbisch leben wollten, bis 1977 kaum eine Möglichkeit sahen, sowohl mit ihren Kindern als auch mit einer Frau zu leben.
Erster „Meilenstein“
Als am 1. Juli 1977 die Reform des Ehe- und Familienrechts in Kraft trat, erhielten Frauen die Möglichkeit, ihre Ehe auch gegen den Widerstand des Ehemannes zu beenden und eine lesbische Beziehung einzugehen. Die „Schuld“ war ab diesem Zeitpunkt weder für die Scheidung an sich noch für Unterhalt oder den Verbleib der Kinder maßgeblich. Für Frauen, die zuvor gezwungenermaßen ihre Ehe aufrechterhalten hatten, war das Erste Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts ein „Meilenstein“. (…)
Ab dem 01.07.1977 verhandelten die neu geschaffenen Familiengerichte, wenn Kinder vorhanden waren, zusammen mit einer Ehescheidung auch über die elterliche Gewalt. Dafür wurde nunmehr das „Kindeswohl“ der konkreten Kinder zentral. Das Kindeswohl ist bis heute als unbestimmter Rechtsbegriff nicht gesetzlich definiert, sondern muss in jedem einzelnen Fall gewichtet und konkretisiert werden. Wie das Kindeswohl im Einzelfall auszulegen sei, wurde ein langanhaltendes Streitthema. Rechtliche, pädagogische und andere Leitlinien wurden entwickelt, konnten aber nur Anhaltspunkte bieten. Persönliche Wertvorstellungen und Lebenserfahrungen der Richter*innen wurden für die Urteile wesentlich. Auch Jugendämter und psychologische Gutachten gewannen an Bedeutung.
Die große Mehrheit der geschiedenen Paare stritt nicht vor Gericht um den Verbleib der Kinder. Es war üblich, dass geschiedene Mütter die elterliche Gewalt innehatten.
Dies galt jedoch nicht für Mütter mit sichtbaren lesbischen Beziehungen. Wurden lesbische Beziehungen von Müttern in Scheidungsverfahren gerichtsbekannt, führte dies bis Mitte der 1980er Jahre augenscheinlich unmittelbar zum Verlust der elterlichen Gewalt bzw. seit dem Sorgerechtsreformgesetz 1980 zum Verlust des Sorgerechts.
Konnte jedoch die lesbische Beziehung verborgen gehalten bleiben, sahen sich scheidungswillige Mütter seit 1977 einer deutlich günstigeren Rechtslage gegenüber. Juristinnen und Sozialarbeiterinnen rieten im Interesse der Mütter zum Verschweigen lesbischer Beziehungen. Erst in den 1990er Jahren änderte sich dies, allerdings mit Hinweisen auf regionale Unterschiede. (…)
„… in ständiger Angst davor leben, daß ihnen ihre Kinder weggenommen werden“
In Düsseldorf sah das Oberlandesgericht 1977, als das neue Familienrecht bereits galt, im Zusammenleben eines Sohnes mit seiner Mutter und deren Partnerin „mögliche[n] Gefährdungen für die geistig-seelische Entwicklung“ des Kindes. Die elterliche Gewalt übertrug es dem Vater des Kindes. Das Verbleiben der Kinder bei der Mutter könne „dazu führen, daß sie nach und nach die Lebensgemeinschaft zweier homosexuell empfindender Menschen als normal im Sinne von üblich oder sogar erstrebenswert ansehen. Damit wäre ihre Entwicklung in der Tat in falsche, weil der sozialen Wirklichkeit nicht entsprechende Bahnen gelenkt und hätte zur Folge, daß sie es von vorneherein schwerer hätten als andere sich in der Welt ihrer Mitmenschen zurechtzufinden.“
Eine bundesweite Gruppe lesbischer Mütter schrieb 1980: „Alleinstehende lesbische Mütter müssen in ständiger Angst davor leben, daß ihnen ihre Kinder weggenommen werden, wenn die Tatsache, daß sie lesbisch sind, öffentlich wird. […]. Es besteht die Möglichkeit, daß der Mutter das Sorgerecht entzogen wird. Viele von uns leben deshalb zurückgezogen, verstecken die Tatsache, daß sie Frauen lieben, vor Außenstehenden, ja selbst vor ihren Kindern. Lesbische Mütter, die noch verheiratet sind, in Scheidung leben oder geschieden sind, müssen befürchten, daß den Vätern das Sorgerecht für ihre Kinder übertragen wird. Bei einer Scheidung ist es praktisch nur solchen Frauen möglich, das Sorgerecht für ihre Kinder übertragen zu bekommen, die in gesicherten Verhältnissen leben und die bereit sind, ihre Liebesbeziehungen im Verborgenen zu leben und sich nicht (bloß nicht!) in der Frauenbewegung auch noch engagieren, deren Männer jedoch arbeitsscheu, drogenabhängig oder Alkoholiker sind oder sonst irgendwelche Defekte haben, die diese Männer zur Erziehung ihrer Kinder ungeeignet erscheinen lassen. […] Wie lange sich die Frau um ihr Kind gekümmert hat, wie intensiv ihr Verhältnis zu ihrem Kind ist, zählt für die Familienrichter nicht, wenn sie entscheiden, daß das Kind dem Vater zugesprochen wird. Wir fordern deshalb das Recht darauf, die Lebensform zu wählen, in der wir mit unseren Kindern besser leben können. Wir fordern das Recht auf Anerkennung unserer eigenen Sexualität. Und wir werden darum kämpfen! Wir lassen es nicht zu, daß wir Frauen und unsere Kinder dafür bestraft werden, daß wir es geschafft haben, unser eigenes Leben zu leben.“ (…)
Die feministische Zeitschrift EMMA stellte 1979 fest: „Homosexuelle sind auch in der Bundesrepublik noch nicht einmal vor dem Gesetz gleich. Homosexuellen Müttern können die Kinder abgenommen werden (das ist nicht zwangsweise so, kann sich aber bei Jugendämtern und Gerichten gegen die Mutter richten).“ Eine derartige Haltung war nicht nur im Mainzer Urteil von 1981, sondern auch in anderen Urteilen gegen das Sorgerecht von Müttern mit lesbischen Beziehungen festzustellen, z. B. beim Landgericht München 1983. Der Rechtsratgeber für Lesben betrachtete eine solche Argumentation 1991 sogar als üblich.
In München verlor 1983 eine Mutter das Sorgerecht für ihre 7-jährige Tochter. (…) Die Freundin der Frau, die 1983 in München das Sorgerecht verloren hatte, schrieb in der feministischen Zeitung Courage, sie und ihre Partnerin hätten intensiv recherchiert und dennoch kaum Fälle gefunden, in denen Sorgerechtsentscheidungen für lesbische Mütter positiv ausgegangen seien. Laut Tageszeitung taz war 1983 über Sorgerechtsverfahren von lesbischen Müttern „eigentlich viel zu wenig bekannt. Das liegt mit Sicherheit auch an den Frauen selbst, die es in der Regel vermeiden, sich als Lesben zu erkennen zu geben und sich hinter einem heterosexuellen Image verschanzen. Alle Beteiligten sind auf äußerste Verschwiegenheit bedacht. Die betroffenen Mütter werden von Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen ebenso wie von Sozialarbeiterinnen eher dahingehend beraten, ihre gleichgeschlechtliche Veranlagung zu verleugnen.“
Auch die Justiz war verschwiegen. 1988 hielt die Rechtsanwältin Michaela Verweyen, Köln, zusammen mit einer Kollegin einen Vortrag beim Feministischen Juristinnentag über „Lesben im Recht“. Das war dort, wie sie sich erinnert, der erste Vortrag zu dem Thema überhaupt. Darin ist von einer „Nichtexistenz von Lesben in juristischen Fachzeitschriften“ die Rede, da vermutlich „die am Verfahren beteiligten Personen davon absehen, die Entscheidungen an die Fachzeitschriften weiterzuleiten bzw. diese von einer Veröffentlichung absehen.“
War Müttern das Sorgerecht wegen ihrer lesbischen Beziehung entzogen worden, konnten Regelungen des Besuchsrechts weitere Einschränkungen mit sich bringen. Einige Gerichte erteilten Müttern die Auflage, ihr Besuchsrecht so wahrzunehmen, dass die Kinder die lesbische Beziehung ihrer Mütter nicht bemerken konnten. Dies wurde aus Niedersachsen 1978 und Nordrhein-Westfalen 1993 bekannt.
„Russisches Roulette vor Gericht“
So übertitelten die beiträge zur feministischen theorie und praxis 1989 einen Artikel über Sorgerecht für Lesben. Damit ist sowohl eine Bedrohung angesprochen als auch eine – wenn auch ungewisse – Chance, als Mutter mit einer sichtbaren lesbischen Beziehung überhaupt nach einer Scheidung das Sorgerecht für die Kinder behalten zu können.
Vermutlich geht diese Chance auf ein Urteil in Nordrhein-Westfalen zurück. 1984 stellte das Amtsgericht Mettmann fest, dass die Homosexualität der Mutter an sich kein Grund sei, ihr das Sorgerecht zu verweigern. Das Amtsgericht Mettmann beurteilte die Bindung des Kindes an seine Mutter und deren Partnerin insgesamt positiv. Entscheidend war, dass die Mutter bereit und in der Lage war, das Kind zu versorgen – besser als der Vater. Er musste wegen seiner Berufstätigkeit die Betreuung des Kindes überwiegend seinen Eltern überlassen.
Es ist das erste bekannte Urteil, in dem ein bundesdeutsches Gericht entschied, die Bindungen und die Versorgung des Kindes seien höher zu bewerten als eine heterosexuelle Lebensform der Mütter bzw. Väter. Auch hob das Amtsgericht Mettmann hervor: „Aufgrund der Normalität, in der die Mutter und ihre Lebensgefährtin ihre Lebensgemeinschaft unterhalten und dem Kind vorleben, steht nicht zu befürchten, daß das Kind in eine soziale Außenseiterrolle gedrängt wird.“
Dieses Urteil wurde in der führenden Fachzeitschrift Zeitschrift für das gesamte Familienrecht (FamRZ) auf eine Weise kommentiert, die nahelegte, dass von Müttern mit erkennbaren lesbischen Beziehungen eine sittliche Gefährdung für die Kinder ausgehe. Ohne dass der besprochene Fall einen Anlass dazu gab, war in der FamRZ dazu zu lesen, das Zusammenleben der Mutter mit einer Lebensgefährtin könnte „zu einer Gefährdung des Kindes führen, wenn die Mutter mit ihrer Partnerin sexuellen Praktiken in für das Kind wahrnehmbarer Weise nachgeht“. Abgesehen von dieser sittlichen Gefahr könnte das Kind die Lebensgefährtinnen wie Schwestern empfinden, „woran wohl niemand Anstoß nähme.“
Während also die FamRZ lesbische Beziehungen von Müttern unsichtbar wissen wollte, wertete das Amtsgericht Mettmann die offene Normalität der lesbischen Beziehung der Mutter positiv. Da die FamRZ für die Urteilsfindung von Gerichten eingesetzt wurde, ist die Bedeutung dieses Kommentars als hoch einzuschätzen. Insgesamt ist von einem Spannungsverhältnis zwischen dem Urteil aus Mettmann und der Anmerkung in der FamRZ und damit von Rechtsunsicherheit auszugehen. (…)
Der Großkommentar Staudinger, der für viele Einzelentscheidungen richtungsweisend war, führte Homosexualität 1992 als grundsätzlich negativen Faktor an, der das Sorgerecht tendenziell in Frage stellte: „Problematisch ist die Homosexualität eines Elternteils. Gegen seine Eignung wird vor allem angeführt: Das Kind könne seinerseits zur Homosexualität verleitet werden […]; seine moralische Entwicklung werde gefährdet; es werde Angriffen und Isolierung in der gesellschaftlichen Umwelt ausgesetzt sein […]. Entscheidend ist auch hier eine kindeszentrierte, einzelfallbezogene Sicht. Aus ihr kann sich ergeben, daß die aufgezeigten Gefahren in concreto unbelegt oder unwahrscheinlich sind und daß der homosexuelle Elternteil besser erziehungsgeeignet ist als der andere Teil“.
Bis bei Ehescheidungen nicht mehr generell das Sorgerecht verhandelt wurde, also bis das Kindschaftsrechtsreformgesetz 1998 in Kraft trat, erschien kein überarbeiteter Staudinger zu diesem Aspekt des Familienrechts. Selbst wenn dessen Auslegung unter den Gesetzeskommentaren der 1990er Jahre nicht mehr die allein vorherrschende Meinung darstellte, bot der Staudinger doch eine negative Auslegung gleichgeschlechtlicher Elternschaft an. (…)
Bereits die Drohung …
… vieler Männer, das Sorgerecht zu erstreiten, wirke als Druckmittel, meinte eine Autorin des ersten Ratgebers für lesbische Mütter von 1991. Manche Mütter verzichteten deshalb auf das Sorgerecht. Tatsächlich sei diese Drohung jedoch oft nur ein „Schachzug, um die Frauen einzuschüchtern und auf diesem Weg zu ‚Wohlverhalten‘ zu zwingen, beispielsweise zum Verzicht auf Unterhalt“. Die Verfasserin des Beitrags, eine Rechtsanwältin aus Baden-Württemberg, ging davon aus, „daß einige lesbische Mütter bei der Drohung des Ehemannes, ihr Lesbischsein zum Thema im Sorgerechtsverfahren zu machen, freiwillig auf das Sorgerecht verzichten, sei es, weil sie selbst sich nicht imstande sehen, ein solches Verfahren durchzustehen, sei es, um den Kindern ein solches Verfahren zu ersparen. […] Es gehört ungemein viel Kraft, Selbstbewußtsein und Unterstützung dazu, sich gegen eine solche Mauer aus Unverständnis, Vorurteilen und Angriffen zu behaupten und dagegen zu argumentieren.“ (…)
Ringen um Antidiskriminierung
Ein Flugblatt der Lesben-AG aus Mainz klagte 1981 verschiedene Diskriminierungen an, darunter auch „Diskriminierung gegenüber lesbischen Müttern“.
„Lesbischen Müttern und schwulen Vätern darf nicht bei Entdeckung ihrer Homosexualität das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen werden.“ Das forderte 1984 die Alternative Schwulen- und Lesbengruppe Koblenz.
Ein Rechtsratgeber für Lesben, „Mit der Doppelaxt durch den Paragraphen-Dschungel“, betonte 1991, aus Sicht der Rechtsprechung sei es offensichtlich nicht zum Wohl der Kinder, wenn diese bei lesbischen Müttern aufwüchsen. Der soziale Druck gegen lesbische Lebensweisen werde als Argument gegen das Sorgerecht lesbischer Mütter eingesetzt. Damit werde, empörte sich der Rechtsratgeber für Lesben, gleichzeitig Diskriminierung gegenüber Lesben anerkannt und erneut gegen sie gerichtet. Frauen seien bemüht, ihre Homosexualität zu verbergen, solange die Entscheidung über das Sorgerecht aussteht. Auch sei zu beobachten, wie sehr die Angst vor Entdeckung die lesbischen Mütter belaste.
Im Bundestag war in den späten 1980er Jahren erstmals – wenn auch höchst umstritten – von Lesben und Schwulen die Rede. Die erste offen lesbisch lebende Bundestagsabgeordnete Jutta Oesterle-Schwerin (Die Grünen) betonte 1989: „Die Angst davor, durch offen-lesbisches Leben Kinder zu verlieren, ist sicher eine der massivsten Bedrohungen, durch die Frauen von ihrem Coming Out abgehalten werden.“ (…)
Diskriminierungsverbote
Einige Jahre zuvor, 1994, hatte das Europäische Parlament seine Überzeugung bekräftigt, „daß alle Bürgerinnen und Bürger ohne Ansehen ihrer sexuellen Orientierung gleichbehandelt werden müssen“, und vertrat die Auffassung, „daß die Empfehlungen mindestens auf die Beseitigung folgender Mißstände hinwirken sollten: […] Beschneidung des Rechts von Schwulen und Lesben auf Elternschaft oder Adoption und Erziehung von Kindern […].“
Die Frage der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften war seit Ende der 1980er Jahre ein europäisches Thema. Zunächst führte 1989 Dänemark registrierte Partnerschaften für gleichgeschlechtliche Paare ein, es folgten Norwegen, Schweden, Island und Finnland – allerdings, wie die Eingetragene Lebenspartnerschaft in der Bundesrepublik 2001, ohne entscheidende kindschaftsrechtliche Verbesserungen. Das Bundesverfassungsgericht verneinte 1993 eine Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. 2001 öffneten die Niederlande die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, worauf Belgien, Spanien, Portugal, Norwegen, Schweden, Island, Dänemark, Frankreich, Schottland, England, Wales, Luxemburg, Irland und Finnland folgten.
In den 1990er Jahren richteten mehrere Bundesländer Behörden ein, die sich ausdrücklich mit Belangen homosexueller Einwohner*innen beschäftigten und entsprechender Diskriminierung entgegenarbeiten sollten. Auch nahmen mehrere Bundesländer Diskriminierungsverbote in ihre Verfassungen auf. (…)
Antidiskriminierungspolitik konnte in Sorgerechtsverfahren wichtig sein. So erinnert sich eine Mutter, die in Brandenburg lebte:
„Als ich mein lesbisches Coming-out hatte, waren meine Kinder noch klein. Das war Ende der ‘80er. […] Wir haben uns erst mal getrennt, ohne Scheidung, weil er gesagt hat: ‚Wenn du dich scheiden lässt und Unterhalt einforderst, dann mache ich das [Lesbische] öffentlich, und dann nehmen sie dir die Kinder weg.‘ Also ich konnte das gar nicht fassen, warum das so sein sollte, und habe mich dann aber mal umgehört, so ganz vorsichtig, und das bestätigte sich dann auch. Das Risiko war mir viel zu hoch. Und so habe ich mich jahrelang erpressen lassen. Dass Mütter um ihre Kinder fürchten, ist, glaube ich, das Schlimmste, was man Frauen antun kann. […] Die Rechtsanwältin hat mir damals geraten, meine Lebensweise nicht öffentlich zu machen, weil es dann schwierig sein könnte.“ Sie zog mit den Kindern von einer Kleinstadt in der Nähe von Köln nach Brandenburg. „Mein Mann hat es [die lesbische Beziehung] dann zum Thema gemacht […] Und ich habe dann auch gesagt, dass es so ist.
Habe dann aber gesagt, dass ich das aber nicht für ausschlaggebend halte. Und daraufhin schloss sich noch ein Prozess an, der fünf Jahre gedauert hat. Ich kann nicht mehr sagen, wie oft meine Kinder zum Jugendamt bestellt wurden. Das war Diskriminierung pur – auch die meiner Kinder. Ich hatte einfach enormes Glück, dass die Kinder so waren, wie sie waren. Hätte ich einen Bettnässer dabei gehabt, weil ich so weit weg gezogen bin oder … Darauf haben natürlich alle gelauert.
Dann gab es wieder eine Verhandlung vor dem Familiengericht. Ich hatte eine neue Richterin, die sich das dann da auch nochmal alles anhörte, und da hatte ich dann auch den Mut und habe gesagt, dass ich einfach denke, dass ich dazu [zur lesbischen Beziehung] überhaupt nicht befragt werden darf; das ist so mein Gefühl von Rechtsauffassung. Das ist ja schon eine Diskriminierung. Und habe dann diesen Verfassungsartikel zitiert und habe gesagt: ‚Ich stehe dazu und ich sage, wie es ist, und die Entwicklung meiner Kinder spricht für sich.‘ Und dann war eine ganze Weile Schweigen. Und ich dachte, ich falle gleich tot um; mein Herz schlug bis zum Hals. Und dann sagte die Familienrichterin: ‚Da haben Sie Recht. Ich habe das zwar noch nie so gesehen, aber da haben Sie Recht.‘ Dann ist das abgebrochen worden, und das wurde dann nie mehr thematisiert. Mein Glück, dass ich in Brandenburg war! (…)“
Ende 1999 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass homosexuelle Väter und Mütter bei Sorgerechtsentscheidungen nicht benachteiligt werden dürfen. Erst diese Entscheidung beendete die offene Diskriminierung homosexueller Väter und Mütter bei Sorgerechtsentscheidungen.
Seit 2017 steht eine Ehe gleichgeschlechtlichen Paaren auch in der Bundesrepublik offen. Die Grundlage dafür bildete ein Gesetzentwurf aus Rheinland-Pfalz, dessen Regierung sich inzwischen engagiert und wiederholt für eine Öffnung der Ehe eingesetzt hat. Jedoch ist es nicht gelungen, damit auch Regenbogenfamilien jene Rechtssicherheit zu bieten, die Familien mit heterosexuell verheirateten Eltern haben. Seit Jahren ist eine entsprechende Reform des Abstammungsrechts überfällig. (…)
Hinweis der Redaktion:
Siehe die durch Sabine Scheding und Mica Verweyen erstellte Übersicht über frühe Urteile aus verschiedenen Rechtsgebieten, in denen homosexuelles und lesbisches Leben Thema war, in: STREIT 3/88, S. 135; ebenda die Thesen der Arbeitsgruppe „Lesben im Recht“ beim 14. Feministischen Juristinnentag; sowie das Heft 4/1994 der STREIT mit Dokumenten – u.a. der Entschließung des Europäischen Parlaments –, Urteilen und Beiträgen – u.a. von Ilse Kokula – zur rechtlichen Situation von Lesben in Deutschland und anderen europäischen Staaten und zur Frage „Lesbische Rechtswissenschaft?“ von Rutham Robson.
Auf Grund des für Rheinland-Pfalz erstellten Gutachtens stellte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag den Antrag: „Bundesweite Studie – Sorgerechtsentzug bei und Diskriminierung von Müttern mit lesbischen Beziehungen und ihren Kindern“, BT-Drucksache 19/27878 vom 24.03.2021: „Eine bundesweite Aufarbeitung und genaue Zahlen, wie viele Frauen von einem Sorgerechtsentzug betroffen oder bedroht waren, sowie zur Lage der lesbischen und bisexuellen Mütter in der DDR fehlen bisher völlig. Dieses Kapitel der deutschen Geschichte und das damit verbundene Unrecht müssen aufgearbeitet werden.“