STREIT 3/2017

S. 112-114

Information zur Allgemeinen Bemerkung Nr. 3 des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 26.08.2016: „Rechte von Frauen und Mädchen mit Behinderungen“

In seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 3 legt der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen Artikel 6 der UN- Behindertenrechtskonvention zu Frauen mit Behinderungen aus. Er weist auf völkerrechtliche Verpflichtungen der Staaten hin und gibt Handlungsempfehlungen, wie Frauen und Mädchen mit Behinderungen besser vor Diskriminierung geschützt werden können. Die vorliegende Publikation1 fasst die Allgemeine Bemerkung zusammen und zeigt ihren Nutzen als Orientierungshilfe für Recht und Politik in Deutschland auf.
(…)

Verpflichtungen der Staaten

Der UN-Ausschuss stellt klar, dass die Staaten verpflichtet sind, die Rechte von Frauen mit Behinderungen zu achten, zu schützen und zu gewährleisten.
Achtungspflicht: Vertragsstaaten müssen Eingriffe in die Rechte von Frauen mit Behinderungen unterlassen. Sie müssen dafür sorgen, dass Gesetze, die Frauen mit Behinderungen direkt oder indirekt diskriminieren, aufgehoben beziehungsweise nicht mehr angewendet werden.
Schutzpflicht: Staaten müssen sicherstellen, dass die Rechte von Frauen mit Behinderungen nicht von Dritten, etwa von privaten Dienstleistern oder Organisationen, verletzt werden. Sollte es dennoch zu einer Rechtsverletzung durch Dritte kommen, müssen die Staaten den Zugang zum Recht von Betroffenen sicherstellen und wirksame Rechtsbehelfe und Entschädigungen gewährleisten.
Gewährleistungspflicht: Staaten müssen Maßnahmen ergreifen, die die Diskriminierung von Frauen mit Behinderungen bekämpfen und Empowerment sichern. Sie sollen dabei zweigleisig vorgehen: Zum einen sollen sie die Interessen und Rechte von Frauen mit Behinderungen in alle allgemeinen politischen Konzepte in den Bereichen Behinderung, Frauen oder Kinder integrieren. Zum anderen ist es ihre Aufgabe, zielgerichtete Maßnahmen durchzuführen, die speziell für Frauen mit Behinderungen konzipiert sind (24–27).
Der UN-Ausschuss weist in seiner Allgemeinen Bemerkung explizit darauf hin, dass zur Stärkung der Autonomie von Frauen mit Behinderungen ihre Partizipation an öffentlichen Entscheidungsprozessen aktiv gefördert werden sollte. Die Staaten sollten direkt auf Frauen und Mädchen zugehen und geeignete Maßnahmen festlegen, die garantieren, dass ihre Perspektiven voll berücksichtigt werden. Dazu sollten sie unter anderem deren Selbstvertretungsorganisationen fördern, auch über behinderungsspezifische Gremien und Mechanismen hinaus (23).

Bereiche besonderer Gefährdung

Artikel 6 steht in besonderer Beziehung zu bestimmten anderen Artikeln der Konvention. In folgenden Bereichen sieht der UN-Ausschuss die Rechte von Frauen mit Behinderungen besonders gefährdet und äußert seine Besorgnis: Gewalt (Artikel 16 der UN-BRK), sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte (Artikel 25 und 23 der UN-BRK) und Diskriminierung in unterschiedlichen Lebensbereichen (andere Artikel der UN-BRK) (10, 28).
Gewalt: Der UN-Ausschuss führt aus, dass Frauen mit Behinderungen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung einem erhöhten Risiko von Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch ausgesetzt sind. Dies kann Gewalt zwischen Personen oder strukturelle Gewalt in Institutionen, in denen sie häufig eine untergeordnete Stellung innehaben, sein. Stereotypisierungen, etwa die Infantilisierung von Frauen mit Behinderungen und die Annahme, sie seien nicht fähig eigene Entscheidungen zu treffen, erhöhen das Risiko, Opfer von Gewalt zu werden. Für gehörlose, taubblinde und kognitiv beeinträchtigte Frauen ist das Risiko besonders hoch, da sie häufiger isoliert und abhängig von anderen sind (29–37).
Sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte einschließlich der Achtung von Wohnung und Familie: Der UN-Ausschuss betont, dass Frauen mit Behinderungen wie alle Frauen das Recht haben, ihre Sexualität einschließlich ihrer sexuellen und reproduktiven Gesundheit selbst zu kontrollieren sowie ohne Zwang und selbstverantwortlich über eine Elternschaft zu entscheiden. Er stellt jedoch fest, dass die Wahlmöglichkeiten insbesondere von Frauen mit psychosozialen oder kognitiven Beeinträchtigungen in der Praxis häufig ignoriert und Entscheidungen oft von Dritten, etwa gesetzlichen Vertretungen, Dienstleistenden und Familienmitgliedern, ersetzend getroffen werden. Einrichtungen der Gesundheitsversorgung einschließlich der gynäkologischen Versorgung seien häufig physisch nicht zugänglich oder ein Transfer zu einem Besuch solcher Einrichtungen nicht verfügbar, unerschwinglich oder nicht zugänglich.
Barrieren in den Köpfen von Mitarbeitenden des Gesundheitswesens und sonstigem Personal erschwerten oder verhinderten eine angemessene Versorgung. Es mangele an geeigneter Unterstützung und Assistenz zur Elternschaft (38–46, 57).
Diskriminierung in unterschiedlichen Lebensbereichen: Der UN-Ausschuss stellt darüber hinaus fest, dass Frauen mit Behinderungen auch in anderen Bereichen diskriminiert werden. Dies geschehe häufig – aber nicht nur – in Zusammenhang mit den oben angesprochenen Bereichen. So betont der UN-Ausschuss, dass Frauen mit Behinderungen als Zeuginnen im Justizsystem nicht ernstgenommen werden, etwa als Opfer von Gewalt (Artikel 8 und Artikel 13 der UN-BRK). In Bezug auf die sexuelle und reproduktive Gesundheit und das Recht auf Familie werde Frauen mit Behinderungen häufig die rechtliche Handlungsfähigkeit verweigert und ihnen die Kontrolle über ihr Leben entzogen (Artikel 12 der UN-BRK). Frauen mit kognitiven und psychosozialen Beeinträchtigungen in Heimen und psychiatrischen Einrichtungen seien häufig grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung ausgesetzt, beispielsweise beim unfreiwilligem Entkleiden durch männliches Pflegepersonal oder bei Zwangsmedikalisierung (Artikel 14, Artikel 15 und Artikel 17 der UN-BRK). Es gebe nicht genügend barrierefreie Unterstützungsdienste und Frauenhäuser, die Frauen mit Behinderungen nach Gewalterfahrungen aufsuchen können. Außerdem sei die Gesundheitsversorgung für Frauen mit Behinderungen im ländlichen und städtischen Raum nicht zugänglich, insbesondere fehle es an barrierefreien gynäkologischen Praxen und Krankenhäusern (Artikel 9 der UN-BRK).
Der UN-Ausschluss stellt zudem fest, dass der Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt für Frauen mit Behinderungen erschwert ist, sie weniger verdienen und Diskriminierungen am Arbeitsplatz ausgesetzt sind. Weil sie kaum Chancen hätten, ihr Einkommen selbst zu erwirtschaften, seien sie darüber hinaus besonders armutsgefährdet (Artikel 27 und Artikel 28 der UN-BRK) (47-60).
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Bedeutung der Allgemeinen Bemerkung für Recht und Politik in Deutschland

Der UN-Ausschuss macht in seiner Allgemeinen Bemerkung deutlich, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen weltweit in vielen Lebensbereichen einem erhöhten Diskriminierungsrisiko ausgesetzt sind. Er unterstreicht die Verpflichtung aller Vertragsstaaten, dem entgegenzuwirken. Zwar nimmt die Allgemeine Bemerkung nicht konkret auf die Situation in Deutschland Bezug, doch kann sie auch für die Umsetzung dieser Verpflichtung in Deutschland als Orientierungshilfe dienen.

Zur Situation von Frauen mit Behinderungen in Deutschland

Im Jahr 2013 lebten in Deutschland 6,43 Millionen Frauen mit Behinderungen, das entspricht 15,6 Prozent der weiblichen Bevölkerung.2 Der Teilhabebericht der Bundesregierung von 2016 zeigt, dass sie im Verlauf ihres Lebens auf vielfältige Weise diskriminiert werden: Weniger als die Hälfte der Frauen mit Behinderungen in Deutschland sind erwerbstätig, nur etwa ein Drittel können durch ihre Arbeit ein Haupteinkommen erwirtschaften, sie unterliegen einem hohen Armutsrisiko.
Etwa drei Viertel aller Frauen mit Behinderungen wünschen sich eigene Kinder, gleichzeitig herrschen viele gesellschaftliche Vorbehalte gegen ihre Elternschaft und es gibt kaum Assistenz und Unterstützungsmöglichkeiten. Kognitiv und psychosozial beeinträchtigte Frauen haben in stationären Wohneinrichtungen große Schwierigkeiten, Partnerschaften und ein selbstbestimmtes Sexualleben zu führen. Jährlich werden in Deutschland zwischen 40 und 80 Sterilisationen genehmigt, ohne dass dies nur mit informierter Zustimmung der betroffenen Person geschieht. Frauen mit Behinderungen sind zwei bis dreimal häufiger von Gewalt betroffen als nichtbehinderte Frauen. Frauen mit Behinderungen können Gesundheitsdienstleistungen nur eingeschränkt in Anspruch nehmen, weil Arztpraxen und Krankenhäuser nicht zugänglich sind – dieses Problem tritt in ländlichen Regionen verstärkt auf.3

Ergebnisse der Staatenprüfung 2015

2015 hat der UN-Ausschuss die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland überprüft und dabei einige dieser Probleme angesprochen. In seinen Abschließenden Bemerkungen („Concluding Observations“) zur Staatenprüfung hat er kritisiert, dass es in Deutschland nur „ungenügende Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung einer Mehrfachdiskriminierung von Frauen und Mädchen mit Behinderungen“ gibt. Deshalb hat der UN-Ausschuss empfohlen, Programme „zur Beseitigung von Diskriminierung in allen Lebensbereichen“ durchzuführen und „systematisch Daten und Statistiken über die Situation von Frauen und Mädchen zu erheben“.4 Außerdem hat er den deutschen Staat aufgefordert, die Rechte von Frauen mit Behinderungen durch gezielte Maßnahmen zu fördern – mit besonderem Augenmerk auf den Gewaltschutz (Ziffer 36),5 die Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt (Ziffer 50a), das Verbot der Sterilisierung ohne uneingeschränkte und informierte Einwilligung (Ziffer 38a), die Sicherstellung von angemessener Elternassistenz (Ziffer 44b) und die Stärkung des Diskriminierungsschutzes für Migrantinnen und weibliche Flüchtlinge mit Behinderungen (16b).
Auch der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW) hat Deutschland 2017 aufgefordert, mehr für den Gewaltschutz von Frauen mit Behinderungen zu tun und sich besorgt gezeigt, dass Frauen mit Behinderungen nur eingeschränkten Zugang zum ersten Arbeitsmarkt haben und unverhältnismäßig stark von Armut bedroht sind.6

Handlungsnotwendigkeiten

Die Allgemeine Bemerkung Nr. 3 des UN-Ausschusses bietet eine gute Orientierung für ein detaillierteres Verständnis von Artikel 6 der UN-BRK zu Frauen und Mädchen mit Behinderungen.7 Damit muss sie als Kommentierung und erläuternde Hilfestellung herangezogen werden, wenn es gilt, die UN-BRK in Deutschland in Recht und Politik anzuwenden und umzusetzen: Bestehende Gesetze und politische Konzepte sollten daraufhin überprüft werden, ob sie mit Artikel 6 der UN-BRK in Einklang stehen, und daran ausgerichtet werden. Aktionspläne zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Bund, Ländern und Kommunen sollten daraufhin überprüft werden, ob sie den geschlechtsspezifischen Problemen und Handlungsnotwendigkeiten gerecht werden. Dies gilt unter anderem, aber nicht ausschließlich, im Hinblick auf die Bereiche besonderer Gefährdung und auf die Abschließenden Bemerkungen zur deutschen Staatenprüfung.
Bis zum 24. März 2019 muss Deutschland dem UN-Ausschuss erneut über die Verwirklichung der Rechte von Menschen mit Behinderungen berichten. Der Schutz von Frauen und Mädchen vor Diskriminierung wird bei der Prüfung sicherlich wieder eine wichtige Rolle spielen.8

  1. Information Nr. 10 | Juni 2017 | ISSN 2509 -9493 (online), Download des Dokuments unter: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/monitoring-stelle-un-brk.
  2. Deutsche Bundesregierung (2017): Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen 2016. Unterrichtung an den Deutschen Bundestag, 20.01.2017, BT-Drucksache 18/10940, S. 35. Die Daten stammen aus dem Mikrozensus.
  3. Ebd., S. 61, 69, 74, 164, 201 f., 204, 312 ff., 399, 401.
  4. UN, Committee on the Rights of Persons with Disabilities (2015): Concluding observations on the initial report of Germany. 13 May 2015, UN-Doc.CRPD/C/DEU/CO/1, Ziffer 15 f.
  5. Siehe auch Schröttle, Monika / Hornberg, Claudia et al. (2013): Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland. Ergebnisse der quantitativen Befragung. Endbericht. Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ); Deutsches Institut für Menschenrechte / Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen (2015): Prüfung abgelegt – und nun? Dokumentation der CRPD Follow-up Konferenz am 24. Juni 2015. Berlin, S. 61–65 (Forum 8: Gewaltschutz in Einrichtungen).
  6. UN, Committee on the Elimination of Discrimination against Women (2017): Concluding observations on the combined seventh and eighth periodic reports of Germany. 3 March 2017, CEDAW/C/DEU/CO/7–8, Ziffer 26c, 35d, 39a.
  7. Siehe auch Arnade, Sigrid / Häfner, Sabine (2009): Interpretationsstandard über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) aus Frauensicht. Arbeits- und Argumentationspapier zur Bedeutung der Frauen- und Genderreferenzen in der Behindertenrechtskonvention. Berlin: Netzwerk Artikel 3.
  8. Der UN-Ausschuss hat bereits bei der Staatenprüfung 2015 deutlich gemacht, dass er von Deutschland erhebliche Verbesserungen beim Thema Gewaltschutz erwartet (siehe CRPD/C/DEU/CO, Ziffer 36).