STREIT 4/2017
S. 147-151
Informationen über Schwangerschaftsabbrüche als kriminelle Handlung? – Reflektionen nach einer Prozessbeobachtung
Es ist noch dunkel, als ich am Morgen des 24. November 2017 in Gießen ankomme. Ich bin auf dem Weg zum Amtsgericht, um den Strafprozess gegen die Ärztin Kristina Hänel zu beobachten. Sie steht vor Gericht, weil sie gegen § 219a StGB verstoßen haben soll, der die „Werbung für Schwangerschaftsabbrüche“ unter Strafe stellt. Der Sachverhalt: Kristina Hänel hat auf der Website ihrer Praxis darüber informiert, dass sie auch Schwangerschaftsabbrüche vornimmt. Zudem wurden potentiellen Patientinnen auf Anfrage weitere Informationen über Methoden und Ablauf eines Abbruchs, zu beachtende Vorkehrungen und die entsprechenden Kosten zugesandt. Bereits mehrfach hatten selbst ernannte Lebensschützer sie deshalb angezeigt. Ein früheres Ermittlungsverfahren stellte die Staatsanwaltschaft ein, nachdem der Internetauftritt leicht modifiziert wurde. Diesmal fühlte sich Kristina Hänel nach rechtlicher Beratung auf der sicheren Seite: die reine Sachinformation über Schwangerschaftsabbrüche hielt sie für straffrei. Das Amtsgericht aber beschloss die Eröffnung der Hauptverhandlung.
„Verteidigung: Weiblich“ – Prozessbeobachtung in Gießen
So früh am Morgen sammelt sich erst ein kleines Trüppchen vorm Amtsgericht, aber es ist klar, dass noch viele kommen werden. Würde der Grundsatz der Öffentlichkeit nicht dafür sprechen, einen größeren Sitzungssaal im direkt benachbarten Landgericht zu nutzen? Stattdessen wurden 70 Stühle in den größten Raum des Amtsgerichts gequetscht. Ungefähr 400 Menschen werden zu Prozessbeginn anwesend sein. Das Verfahren der Platzverteilung wird nicht erläutert – ich sehe offensichtlich seriös genug aus, um eine Platzkarte zu erhalten. 
Zur Platzkarte gibt es die Information, dass der Prozess erst in zwei Stunden beginnt und ich deshalb ja noch „in der Stadt shoppen gehen“ könnte. Ich frage freundlich, ob dieser Vorschlag vielleicht daher rührt, dass ich ein Mädchen bin. Der Kollege bejaht herzlich lachend und bittet darum, dass ich ihn „nicht bei der Frauenbeauftragten anzeige“, die ja jetzt „Gleichstellungsbeauftragte“ heißt, obwohl: „Kennen Sie dieses Urteil, dass das immer noch eine Frau sein muss, aber nur vorübergehend?“ Ja, kenne ich und finde ich ausgesprochen gut.1
 Der Aushang am Gerichtssaal verkündet Aktenzeichen, Namen der Richterin und: „Verteidigung: Weiblich Prof. Dr. Monika Frommel“. Ich beschließe, dass ich jetzt lieber demonstrieren gehe. 
Die Initiative zur Unterstützung von Kristina Hänel hat eine Demonstration direkt vor dem Amtsgericht organisiert. Die Redebeiträge geben eine Vorstellung von der Vielfalt der Positionen, die sich hier zusammengefunden haben: Eine Ärztin, der auch ein Strafverfahren wegen § 219a StGB droht, eine Christin, die dezidiert Entscheidungsfreiheit für Frauen fordert, Politikerinnen, welche § 219a StGB abschaffen wollen oder sich gleich die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs insgesamt wünschen, ein Gewerkschafter, der seine Solidarität bekundet. Besonders schmerzlich ist der Redebeitrag eines Mitglieds der Lagergemeinschaft Auschwitz – Freundeskreis der Auschwitzer: Sogenannte Lebensschützer vergleichen auf ihren Websites regelmäßig Schwangerschaftsabbrüche mit dem Holocaust, hier könnten sie mit der unfassbaren Verletzung konfrontiert werden, welche dieser politische Missbrauch hervorrufen kann. 
Die Richterin führt die Verhandlung sehr ruhig. Zweimal hätte sie Grund, den Saal räumen zu lassen, bittet aber lediglich um Ruhe und führt die Verhandlung dann fort. Zweimal fordert sie überdies dazu auf, in eine verfassungsrechtliche Diskussion einzusteigen. Das macht den Eindruck, als bestünde eine reelle Chance auf eine Vorlage beim Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG. Die Verteidigerin geht auf diese Angebote nicht ein; es ist lediglich der Staatsanwalt, der sich zu verfassungsrechtlichen Aspekten äußert. Richterin und Staatsanwalt werden von der Verteidigerin immer wieder unterbrochen und ihnen wenig subtil wahlweise Inkompetenz oder Nähe zum Nationalsozialismus unterstellt. Welches Ziel diese Form der Konfliktverteidigung verfolgt, bleibt unklar. 
Gegen Mittag wird Kristina Hänel wegen Verstoßes gegen § 219a StGB zu einer Geldstrafe von insgesamt 6.000 Euro verurteilt.2
 
Eine anachronistische Strafnorm
Die Öffentlichkeit ist aufgeschreckt: Was ist das für eine Strafnorm, die einer Ärztin verbietet, auf ihrer Website die Information zu geben, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführt? 
§ 219a StGB verbietet, öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften seines Vermögensvorteils wegen oder in grob anstößiger Weise eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs oder die Mittel hierzu anzubieten, anzukündigen, anzupreisen oder Erklärungen solchen Inhalts bekannt zu geben. Das Verbot wurde mit der ersten nationalsozialistischen Strafrechtsreform im Mai 1933 als damalige §§ 219 und 220 RStGB ins Strafrecht eingefügt.3
 Hintergrund dieser Vorfeldkriminalisierung von Ärzt*innen war die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik, angestrebter Nebeneffekt die Möglichkeit der Verfolgung insbesondere jüdischer und kommunistischer Ärzt*innen, welche primär Schwangerschaftsabbrüche vornahmen. In Bezug auf Dienste wurde das Anbieten strafbar, in Bezug auf entsprechende Mittel und Verfahren das Ankündigen oder Anpreisen. 
Als Anfang der 1970er Jahre der Schwangerschaftsabbruch neu geregelt werden sollte, um sowohl das ungeborene Leben als auch die Gesundheit der ungewollt Schwangeren zu schützen, schlug der Sonderausschuss für die Strafrechtsreform die heutige Fassung von § 219a StGB vor.4
 Damit waren das öffentliche Anbieten, Ankündigen und Anpreisen in Bezug auf Dienste und Mittel verboten. Die Informationen hierüber sollten nur medizinischem Fachpersonal, Beratungsstellen und pharmazeutischem Fachdiskurs zugänglich sein. Ziel war es zu verhindern, dass „der Schwangerschaftsabbruch in der Öffentlichkeit als etwas Normales dargestellt und kommerzialisiert wird“.5
 In seinem ersten Abtreibungsurteil6
 kassierte das BVerfG die Fristenregelung, ging aber nicht auf die neu gefasste Strafbarkeit der „Werbung für Schwangerschaftsabbrüche“ in § 219a StGB ein, hielt diese also für unproblematisch. Von der Reform der §§ 218ff StGB Anfang der 1990er Jahre blieb die Regelung in § 219a StGB unberührt, so dass sich das BVerfG in seinem zweiten Abtreibungsurteil7
 auch nicht dazu äußerte. 
Die Argumentation vor Gericht
Vor dem Amtsgericht Gießen argumentierte die Staatsanwaltschaft im Wesentlichen mit Wortlaut, herrschendem Verständnis und Zielsetzung von § 219a StGB. Danach erfülle schon die Sachinformation einer Ärztin, dass sie auch Schwangerschaftsabbrüche vornehme, den Tatbestand der Norm. § 219a StGB untersage seit 1975 auch das reine „Anbieten“, sofern es des eigenen Vermögensvorteils wegen erfolge, welcher hier im Honorar für die ärztliche Dienstleistung bestehe. Der Gesetzgeber habe klar geäußert, dass er jede Form der Information oder Werbung für Schwangerschaftsabbrüche verbieten wolle. Die freie Arztwahl sei davon nicht betroffen, denn ungewollt schwangere Frauen könnten die entsprechenden Adressen bei der verpflichtenden Schwangerschaftskonfliktberatung erhalten. Auch verletze die Norm nicht die Berufsfreiheit, denn diese könne durch Gesetz eingeschränkt werden. Der Schutz des ungeborenen Lebens rechtfertige dabei auch eine strafrechtliche Sanktion. 
Die Verteidigerin Prof. Monika Frommel beantragte Freispruch, hilfsweise Vorlage des § 219a StGB zum Bundesverfassungsgericht. Es sei zu unterscheiden zwischen appellativer Werbung und reiner Sachinformation, letztere sei nicht strafbar. Es komme dabei nicht auf den uferlos weiten Wortlaut an. Vielmehr sei der aus der Nazizeit stammende Paragraph vom Reformgesetzgeber 1995 offensichtlich übersehen und versehentlich weiter mitgeschleppt worden. Er passe überhaupt nicht in die seitdem geltende Regelung – wenn der Schwangerschaftsabbruch straflos möglich sei, müsse darüber auch sachlich informiert werden dürfen. Das habe das Bundesverfassungsgericht schon 1998 genauso gesehen.8
 Ein anderes Verständnis entmündige Frauen. Und durch fehlende Information sei noch nie ein Leben geschützt worden, im Gegenteil. 
Die Frage der Verfassungsmäßigkeit von § 219a StGB
Mehrfach hat die Richterin in Gießen darauf hingewiesen, dass § 219a StGB nun einmal existiert und auch das bloße „Anbieten“ unter Strafe stellt. Das Argument, die Regelung sei 1995 übersehen worden und bei „richtiger“ Auslegung bestehe gar kein Problem, kann denn auch kaum durch entsprechende Literatur gestützt werden. Zielführender erscheinen Überlegungen zur Verfassungswidrigkeit von § 219a StGB. 
Dabei kommt zunächst eine Verletzung der Berufsfreiheit der betroffenen Ärzt*innen in Betracht. Das BVerfG hat 1998 explizit bestätigt, dass die regelkonforme Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen von Art. 12 Abs. 1 GG erfasst ist.9
 Zwar kann die Berufsausübung durch oder auf Grund von Gesetzen eingeschränkt werden. Allerdings müssen diese verhältnismäßig sein, also ein legitimes Ziel verfolgen, welches nicht durch ein milderes Mittel erreicht werden kann. Die unangemessene Kommerzialisierung von Schwangerschaftsabbrüchen zu verhindern, ist ein legitimes Ziel. Dieses wird aber bereits durch die entsprechenden berufsrechtlichen Regelungen für Ärzt*innen erreicht, welche zur Vermeidung unangemessener Kommerzialisierung anpreisende, irreführende, vergleichende oder sonst berufswidrige Werbung verbieten, „sachliche berufsbezogene Informationen“ aber explizit gestatten.10
 Eine strafrechtliche Regelung ist daher unverhältnismäßig. Ihre Legitimation durch die bisher herrschende Lehre wird nur mit einem Wechsel des legitimen Ziels erreicht, indem behauptet wird, dass es eigentlich um den Schutz des ungeborenen Lebens gehe. 
Internationale Erfahrungen zeigen, dass Kriminalisierung Schwangerschaftsabbrüche nicht verhindert, sondern nur deren Qualität massiv verschlechtert. Dies dürfte erst recht für das Vorenthalten entsprechender Informationen gelten. Vor allem aber ist das gesetzgeberische Ziel (keine unangemessene Kommerzialisierung) im Gesetzgebungsprozess klar benannt worden. Wer das relativieren will, indem auf eine „Gesamtregelung“ rekurriert wird, kommt nur in größere Schwierigkeiten. Nach § 218a StGB erfüllen Schwangerschaftsabbrüche unter bestimmten Bedingungen schon nicht den Tatbestand von § 218 StGB oder sind nicht rechtswidrig. Die reine Information über eine legale oder rechtmäßige medizinische Dienstleistung kann aber nicht strafbar sein. Dies verdeutlicht ein derzeit viel zitierter Satz des BVerfG selbst: „Wenn die Rechtsordnung Wege zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen durch Ärzte eröffnet, muss es dem Arzt auch ohne negative Folgen für ihn möglich sein, darauf hinzuweisen, dass Patientinnen seine Dienste in Anspruch nehmen können.“11
 
Von der Regelung in § 219a StGB sind aber auch ungewollt Schwangere betroffen. Das Amtsgericht Gießen hat einen Eingriff in ihre Informationsfreiheit und freie Arztwahl deshalb verneint, weil sie alle Informationen bei der obligatorischen Schwangerschaftskonfliktberatung erhalten würden. Das legitime Ziel dieser Informationssperre bleibt im Dunkeln. Auch kann niemand garantieren, dass Beratungsstellen wirklich über alle relevanten Adressen verfügen und diese herausgeben. Vor allem aber kann es bei der Fristenregelung um wenige Tage gehen, in welchen ungewollt Schwangere keine Ärztin suchen und einen Termin vereinbaren können, so dass ein legaler Abbruch plötzlich nicht mehr möglich ist. Eine Rechtfertigung hierfür ist nicht ersichtlich. 
Die Informationssperre hat primär den Effekt, dass ungewollt Schwangere, die sich im Internet informieren wollen, auf den Seiten von fundamentalistischen Abtreibungsgegnern landen, die mit Holocaust-Vergleichen und Bildern von zerstückelten Föten für ihre Sache werben. Diese Werbung ist nicht strafbedroht, obwohl sie eine schwerwiegende Verletzung der Intimsphäre und des Persönlichkeitsrechts ungewollt Schwangerer in einer besonders verletzlichen Situation darstellt. 
Der Kern des Problems liegt letztlich in der grundsätzlichen Idee, dass ungewollt Schwangere kriminalisiert und entmündigt werden müssten, weil der Staat nur so seiner Schutzpflicht für das ungeborene Leben nachkommen könne. Bereits in den Sondervoten zum ersten Abtreibungsurteil wurde zutreffend darauf hingewiesen, dass diese Überlegung auf ungewollte Schwangerschaften keine Anwendung finden könne, da Frau und Fötus eine „Zweiheit in Einheit“ bilden und nicht antagonistische Individuen. Das BVerfG griff im zweiten Abtreibungsurteil diese Wendung zwar auf, beharrte aber darauf, den Fötus als „menschliches Leben“ schlechthin zu betrachten und ungewollt Schwangere als Mutterleib und Gefährdung dieses Lebens, nicht aber als Trägerinnen von Grundrechten auf Gesundheit, Intimsphäre, körperliche Integrität und Familienplanung. Zwar ging das BVerfG kurz auf die besondere Belastung von Müttern durch mangelnde Vereinbarkeit ein. Aber ein bisschen Sozialpolitik ist kein überzeugender Ersatz für wesentliche Grundrechte. 
Und selbst wenn man sich auf die wenig überzeugende Vorstellung einer staatlichen Schutzpflicht im Verhältnis von Schwangerer und Fötus einlässt, ist eine daraus resultierende Kriminalisierung verfassungsrechtlich nicht rekonstruierbar. Das BVerfG hat nie erläutert, warum dem Fötus mehr Rechte zustehen sollten als jedem geborenen Menschen. Niemand kann nach geltendem Recht zu einer Organspende oder auch nur Blutspende zu Gunsten einer anderen Person gezwungen werden, selbst wenn diese lebensrettend wäre. Ungewollt Schwangere aber sollen gezwungen werden können, über Monate ihren Körper für einen Fötus zur Verfügung zu stellen und auch alle körperlichen Folgen daraus zu tragen. Ein (sonst unvorstellbares) Leistungsrecht am Körper eines anderen Menschen, welches nur zu Lasten ungewollt Schwangerer gilt? Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser massiven Diskriminierung auf Grund des Geschlechts existiert nicht. 
Über den nationalen Tellerrand: Reproduktive Gesundheit im Menschenrechtsdiskurs
Bestärkt werden rechtliche Zweifel an §§ 218ff StGB auch von internationaler Ebene. Artikel 16 Absatz 1 lit. e der UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) und Artikel 23 Absatz 1 lit. b der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) garantieren Frauen und Menschen mit Behinderungen gleiches Recht auf freie und verantwortungsbewusste Entscheidung über Anzahl und Altersunterschied ihrer Kinder sowie auf Zugang zu den für die Ausübung dieses Rechts erforderlichen Informationen und Mitteln. Das daraus und aus weiteren menschenrechtlichen Regelungen resultierende Recht auf reproduktive Gesundheit umfasst auch den ungehinderten Zugang zu sicherem und legalem Schwangerschaftsabbruch. 
Der UN-Ausschuss für ökonomische, soziale und kulturelle Rechte betont den Zusammenhang zwischen Gleichberechtigung, Frauenrechten und reproduktiver Gesundheit. Er zieht hieraus auch konkrete Schlussfolgerungen: „The realization of the rights of women and gender equality, both in law and in practice, requires repealing or reforming discriminatory laws, policies and practices in the area of sexual and reproductive health. […] Preventing unintended pregnancies and unsafe abortions requires States to adopt legal and policy measures to guarantee all individuals access to affordable, safe and effective contraceptives and comprehensive sexuality education, including for adolescents; to liberalize restrictive abortion laws; to guarantee women and girls access to safe abortion services and quality post-abortion care, including by training health‑care providers; and to respect the right of women to make autonomous decisions about their sexual and reproductive health.“12
Und der UN-Ausschuss für die Frauenrechtskonvention fordert, dass Deutschland „den Zugang zu sicherem Schwangerschaftsabbruch sicherstellt, ohne der Frau eine verpflichtende Beratung und eine dreitägige Wartezeit aufzuerlegen, welche von der WHO für medizinisch nicht erforderlich erklärt wurde, und gewährleistet, dass solche Eingriffe von der Krankenkasse übernommen werden.“13
 Das ermöglicht einen rechtlichen und rechtspolitischen Diskurs, der über Fragen der Sachinformation zum Schwangerschaftsabbruch deutlich hinausgeht. 
„Weg mit § 219a StGB!“ – Der rechtspolitische Prozess
Inzwischen gibt es mehrere Gesetzentwürfe, welche die ersatzlose Streichung von § 219a StGB fordern,14
 sowie einige Überlegungen zur „Entschärfung“ der Norm, mit der zumindest die reine Sachinformation entkriminalisiert werden soll. Diverse zivilgesellschaftliche Organisationen und Initiativen fordern die Aufhebung von § 219a StGB. Bei Redaktionsschluss war rein rechnerisch eine Aufhebung von § 219a StGB mit den Stimmen von Linken, Grünen, FDP und SPD möglich, zugleich aber absehbar, dass die Norm zur neuen Identitätsfrage für die CDU/CSU und zur Sondierungs-Verhandlungsmasse für die SPD werden könnte. Aber geht es nicht ohnehin um mehr? 
Die „neue“ Frauenbewegung in Deutschland ist in den 1970er Jahren mit zwei Slogans laut geworden: „Das Private ist politisch!“ und „Mein Bauch gehört mir!“ Das Bundesverfassungsgericht vereitelte in seiner Entscheidung von 1975 nicht nur den ersten Versuch einer gesetzlichen Fristenlösung in Westdeutschland, sondern behauptete auch eine von Verfassungs wegen bestehende „Austragungspflicht“ jeder gewollt oder ungewollt schwangeren Frau. Für anderthalb Jahrzehnte waren keine politischen Mehrheiten in Sicht, die Frauen zugestanden, über ihre intimsten Angelegenheiten, ihren Körper und ihre Familienplanung selbst zu entscheiden. Die deutsche Einheit gab insofern Anlass zu neuer Hoffnung, weil in der DDR die Fristenlösung galt und doch wohl niemand die Entrechtung von Millionen Frauen befürworten konnte, die sich an diese Entscheidungsfreiheit über ihren Körper und ihr Leben gewöhnt hatten. Das war ein Irrtum. Seitdem das Bundesverfassungsgericht 1993 die „Austragungspflicht“ bestätigt und der Gesetzgeber eine damit offensichtlich unvereinbare, aber tolerierte wilde Mischung aus Fristen- und Indikationenlösung in §§ 218ff StGB etabliert hat, herrscht beklommene Stille in feministischen Kreisen. Riskiert nicht, wer an diese Regelung rührt, dass alles noch viel schlimmer wird? Und es geht schlimmer, das wissen wir inzwischen. 
Trotzdem ist es höchste Zeit, die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs insgesamt zu fordern, den effektiven Schutz der reproduktiven Gesundheit, die Garantie des tatsächlichen Zugangs zu sicheren und legalen Schwangerschaftsabbrüchen, flächendeckende Angebote dieser medizinischen Dienstleistung und selbstverständlich die Einhaltung medizinischer Standards. Immer mehr Arztpraxen und Kliniken bieten keinen Schwangerschaftsabbruch mehr an, ungewollt schwangere Frauen fahren wie vor fünfzig Jahren nach Holland, rechtspopulistische Kräfte träumen von Bevölkerungsministerien und einer Austragungspflicht mit effektiver Durchsetzung und selbst ernannte Lebensschützer belästigen Frauen auf der Straße und bedrohen und schikanieren medizinisches Personal, wobei ihnen §§ 218ff StGB noch die Möglichkeit geben, auch Staatsanwaltschaften für ihre Zwecke einzusetzen. Doch nicht nur die tatsächliche Situation hat sich rapide verschlechtert, grundsätzlich gilt: In einer Gesellschaft, die eine Austragungspflicht für ungewollt schwangere Frauen annimmt, kann es keine Geschlechtergerechtigkeit geben. 
Wenn wir allerdings für reproduktive Gesundheit und Schwangerschaftsabbruch als medizinische Dienstleistung streiten, sollten wir nicht von der patriarchalen in die neoliberale Falle tappen. Optimierungsdruck lastet auf der gesamten Lebensplanung und damit auch ungewollten wie gewollten Schwangerschaften. Die Schwangerenvorsorge wird immer mehr von Screenings dominiert, bei denen nicht die Gesundheit von Schwangerer und Fötus im Mittelpunkt steht, sondern die Suche nach nicht therapierbaren Abweichungen, Krankheiten und Behinderungen. Sind solche gefunden oder werden vielmehr vermutet, scheint ein Schwangerschaftsabbruch plötzlich fast alternativlos. 
Die Rahmenbedingungen, unter denen die Entscheidung für oder gegen eine Schwangerschaft und die medizinische Unterstützung dieser Entscheidung stattfindet, sind insgesamt zu kritisieren und grundlegend zu ändern. Auch reproduktive Rechte sind kein isoliertes Politikfeld, sondern Teil feministischen Engagements für gute Lebensbedingungen für alle.
- Landesverfassungsgericht MV vom 10.10.2017, Az. LVerfG 7/16, in diesem Heft. ↩
- Amtsgericht Gießen vom 24.11.2017, Az. 500 DS 501 Js 15031/15. Die schriftliche Urteilsbegründung liegt noch nicht vor. ↩
- Gesetz zur Abänderung strafrechtlicher Vorschriften vom 26. Mai 1933, RGBl I, S. 295 (296). ↩
- Erster Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform zu dem von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 24.04.1974, BT-Drs. 7/1981 (neu), S. 17f, 26f. ↩
- Erster Bericht des Sonderausschusses vom 24.04.1974, BT-Drs. 7/1981 (neu), S. 17. ↩
- BVerfG vom 25.02.1975, BVerfGE 39, 1ff. ↩
- BVerfG vom 28.05.1993, BVerfGE 88, 203ff. ↩
- BVerfG vom 24.05.2006, Az. 1 BvR 1060/02, BVerfGK 8, 107-118. ↩
- BVerfG vom 27.10.1998, Az. 1 BvR 2306/96 u.a., BVerfGE 98, 265ff. ↩
- Exemplarisch § 27 der Muster-Berufsordnung, abrufbar unter http://www.bundesaerztekammer.de/recht/berufsrecht/muster-berufsordnung-aerzte/muster-berufsordnung/. ↩
- BVerfG vom 24.05.2006, Az. 1 BvR 1060/02. ↩
- Nachzulesen unter http://tbinternet.ohchr.org/_layouts/treatybodyexternal/Download.aspx?symbolno=E/C.12/GC/22. ↩
- Nachzulesen unter https://www.frauenrat.de/wp-content/uploads/2017/07/Abschlie%C3%9Fende-Bemerkungen-dt.pdf. ↩
- Gesetzentwurf der Linken vom 22.11.2017, BT-Drs. 19/93; Gesetzentwurf der Grünen vom 11.12.2017; Gesetzentwurf der Länder Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg und Thüringen, eingebracht in den Bundesrat am 15.12.2017. ↩