STREIT 3/2023
S. 113-115
OLG Köln, §§ 1684, 1697a BGB, Art. 31 Abs. 2 Istanbul-Konvention
Istanbul-Konvention als Auslegungshilfe in Umgangsverfahren
Nach Art. 31 Abs. 1 IK ist sicherzustellen, dass die in den Geltungsbereich des Übereinkommens fallenden gewalttätigen Vorfälle bei Entscheidungen über das Besuchs- und Sorgerecht betreffend Kinder berücksichtigt werden.
Art. 31 Abs. 2 IK fordert, dass die Vertragsparteien die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass die Ausübung des Besuchs- oder Sorgerechts nicht die Rechte und die Sicherheit des Opfers oder der Kinder gefährdet. Weiter stellt nach Art. 3a IK jede Form sexueller Gewalt gegen Frauen zugleich eine Menschenrechtsverletzung im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) dar.
Diese Bestimmungen der IK sind als Auslegungshilfe für die EMRK, insbesondere auch Art. 8 EMRK, das Recht auf Familie, heranzuziehen.
Die Mutter eines Kindes, das vom Umgang verlangenden Vater missbraucht wurde, hat keine wie auch immer geartete Kooperationsverpflichtung.
Konfrontationen – auch indirekte – des Kindesvaters, der die Halbschwester seines Kindes sexuell missbraucht hat, mit der Kindesmutter bergen die direkte Gefahr einer Retraumatisierung der Kindesmutter und Destabilisierung des familiären Umfeldes mit unmittelbaren Auswirkungen für das Kind, für das Umgang verlangt wird.
Das Wissen, dass keine tatsächliche körperliche Gefahr für das Kind bestehen mag, ändert nichts an dem Einfluss, den ein direkter Kontakt mit dem Kind auf die emotionale Erlebenswelt der Kindesmutter und der Schwester des Kindes haben würde. Dies gilt auch für begleitete Umgänge.
(Leitsätze der Redaktion)
Beschluss des OLG Köln vom 29.09.2022 – II-14 UF 57/22, 14 UF 57/22
Aus dem Sachverhalt:
Die Eltern des am xx.11.2017 geborenen Kindes E. lebten bis zu ihrer Trennung – der genaue Zeitpunkt ist zwischen ihnen streitig – im Jahr 2018 bzw. Anfang 2019 gemeinsam in einer Wohnung in O. Im Haushalt lebte zu diesem Zeitpunkt auch die weitere Tochter der Kindesmutter aus einer anderen Beziehung, die am xx.xx.2005 geborene A.
Im Januar 2018 erhielt die Familie Besuch. Der Kindesvater schlief mit A. und dem dreijährigen Sohn des Besuches im Elternbett. Der Kindesvater berührte das Mädchen im Brust- und Intimbereich. Weiter nahm er ihre Hand, führte sie an seinen Penis und ließ Masturbationsbewegungen durchführen. […] Als die Kindesmutter im Sommer 2018 nach Guinea reiste, ließ sie A. bis Oktober 2018 beim Kindesvater alleine zurück. Nachdem der Kindesvater sie gegen den Hinterkopf geschlagen hatte, lief das Mädchen zur Polizei und erzählte von den Vorfällen. Sie wurde in Obhut genommen und ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet. A. lebt seitdem in einer Wohngruppe in O.
In der Folgezeit trennte sich die Kindesmutter vom Kindesvater und verblieb mit E. in der Wohnung. Der Kindesvater zog nach H. Seit diesem Zeitpunkt hat er E. nicht mehr gesehen; den Wechsel seiner Telefonnummer hat der Kindesvater der Kindesmutter nicht mitgeteilt.
Der Kindesvater ist […] zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 8 Monaten wegen sexuellen Missbrauchs zu Lasten von A. verurteilt worden. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
Im November 2020 verzog die Kindesmutter mit dem gemeinsamen Sohn nach L. A. besucht die Mutter und E. regelmäßig in L. Darüber hinaus telefonieren Mutter und Tochter regelmäßig. Die Kindesmutter ist mittlerweile verheiratet und Mutter von Zwillingen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats neun Monate alt sind. E. weiß nicht, dass der Vater der Zwillinge nicht auch sein leiblicher Vater ist.
Mit Schreiben vom 08.12.2020 wandte sich der Kindesvater an das Jugendamt O. mit der Bitte um eine Umgangsanbahnung. Mit Schreiben vom 15.03.2021 teilte er mit, die Kindesmutter wolle sich mit dem gemeinsamen Sohn „absetzen“. Er habe seinen Sohn seit neun Monaten nicht mehr gesehen. […] Er habe sich immer um seinen Sohn gekümmert und sei bemüht gewesen, den Kontakt zu seinem Sohn wiederherzustellen. […]
Die Kindesmutter hat sich gegen eine Umgangsregelung ausgesprochen. […] Der Kindesvater habe erst wieder Interesse an seinem Sohn gezeigt, als Ende 2020 seine Aufenthaltsgenehmigung auslief. Vorher habe er ihn lediglich zwei Mal gesehen. […]
Aus den Gründen:
Die gemäß §§ 58 ff. FamFG zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist in der Sache unbegründet. Das Amtsgericht hat mit dem angefochtenen Beschluss zu Recht und mit zutreffender Begründung das Umgangsrecht des Kindesvaters bis Ende März 2024 ausgeschlossen. […]
Entscheidender Maßstab bei der Entscheidung ist das Kindeswohl. […] Der Kindeswille ist wie seine Neigungen und Bindungen gewichtiger Gesichtspunkt des Kindeswohls (BGH, Beschluss vom 01.02.2017 – XII ZB 601/15, FamRZ 2017, 532). […] Soweit das bei einem Elternteil lebende Kind den Umgang mit dem nichtsorgeberechtigten Elternteil verweigert, ist es auch Aufgabe der Gerichte, die Gründe für diese Einstellung zu ermitteln und sie in ihre Entscheidung einzubeziehen (BVerfG, Beschluss vom 17.09.2016 – 1 BvR 1547/16, FamRZ 2016, 191).
d. Wie bei anderen staatlichen Kindesschutzmaßnahmen, die mit einem Eingriff in das Elternrecht verbunden sind, ist bei der Anordnung von Einschränkungen oder Ausschluss des Umgangs der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.03.2005 – 1 BvR 1986/04, FamRZ 2005, 1057). Die Rechtfertigung einer Einschränkung oder eines Ausschlusses des elterlichen Umgangsrechts setzt auf der einen Seite voraus, dass der Schutz des Kindes dies nach den konkreten Umständen des Einzelfalls erfordert, um eine konkrete Gefährdung seiner seelischen oder körperlichen Entwicklung abzuwehren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29.12.2012 – 1 BvR 335/12, FamRZ 2013, 361), wobei gegebenenfalls auch der dem Umgang entgegenstehende Wille des Kindes und die Folgen eines gegen diesen Willen angeordneten Umgangs nicht außer Betracht bleiben dürfen; so kommen eine Einschränkung oder der Ausschluss der Umgangsbefugnis insbesondere in Betracht, wenn das Kind dies aus ernsthaften Gründen wünscht und ein erzwungenes Umgangsrecht das Kindeswohl beeinträchtigen würde (vgl. BVerfGE 64, 180/191). […]
a. Ganz erheblich ins Gewicht fällt zunächst, dass der Kindesvater […] wegen sexuellen Missbrauchs der im Tatzeitpunkt 12-jährigen Tochter der Kindesmutter aus einer früheren Beziehung verurteilt wurde.
aa. Ob insoweit tatsächlich eine ausreichend konkrete Gefahr besteht, dass sich der Kindesvater zukünftig auch an seinem Sohn vergehen könnte, wie das Amtsgericht angenommen hat, muss vorliegend nicht geklärt werden. Die Auswirkungen der Tat auf die Kindesmutter und die Schwester von E. und damit auf das gesamte familiäre System sind ausreichend. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang die Bestimmung des Artikel 31 der Istanbul Konvention (IK). Diese besitzt seit dem 01.02.2018 in Deutschland Geltung (vgl. zu den Umsetzungsmöglichkeiten im deutschen Recht: BT-Drucks. 20/2036 vom 17.06.2022; Meysen/SOCLES „Kindschaftssachen und häusliche Gewalt“, abrufbar auf der homepage des BMFSFJ; Schirmacher/Meyer, FamRZ 2021, 1929; Wersig/Lembke/Meyer-Wehage, Recht und Politik 2020, 220; Staudinger/Coester, BGB, Neubearbeitung 2020, § 1631 Rn. 75 ff).
Nach Art. 31 Abs. 1 IK ist sicherzustellen, dass die in den Geltungsbereich des Übereinkommens fallenden gewalttätigen Vorfälle bei Entscheidungen über das Besuchs- und Sorgerecht betreffend Kinder berücksichtigt werden. Art 31 Abs. 2 IK fordert, dass die Vertragsparteien die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass die Ausübung des Besuchs- oder Sorgerechts nicht die Rechte und die Sicherheit des Opfers oder der Kinder gefährdet. Weiter stellt nach Art. 3a IK jede Form sexueller Gewalt gegen Frauen zugleich eine Menschenrechtsverletzung im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) dar. Vor diesem Hintergrund zieht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Bestimmungen der IK als Auslegungshilfe für die EMRK, insbesondere auch Art. 8 EMRK, das Recht auf Familie, heran (vgl. EGMR, Urteil der großen Kammer vom 15.06.2021 – 62903/15 (Kurt/Österreich), www.hudoc.echr.coe.int). In diesem Zusammenhang hat der EGMR deutlich gemacht, dass gerade Kinder im Bereich häuslicher Gewalt besonders vulnerabel sind und damit eines umfassenden staatlichen Schutzes bedürfen (vgl. EGMR, Urteil der großen Kammer vom 15.06.2021 – 62903/15 (Kurt/Österreich), Rn. 162 ff, www.hudoc.echr.coe.int, vgl. auch: https://rm.coe.int/children-rights-and-the-istanbul-conventionweb-a5/1680925830).
bb. Diese Maßstäbe zugrunde gelegt ist zunächst von Bedeutung, dass maßgebliche Bezugsperson für E. die Kindesmutter ist. Diese musste erfahren, wie der Kindesvater ihre Tochter aus einer anderen Beziehung missbrauchte, obwohl sie ihm uneingeschränkt vertraut hat. Die Auswirkungen, die eine – auch indirekte – Konfrontation der Kindesmutter mit dem Kindesvater haben können, bergen die direkte Gefahr einer Retraumatisierung der Kindesmutter und Destabilisierung des familiären Umfeldes mit unmittelbaren Auswirkungen für E. Die Kindesmutter hat in ihrer persönlichen Anhörung erklärt, sie habe ihrer Tochter gegenüber immer noch ein schlechtes Gewissen und beschäftige sich viel mit der Gewalttat des Kindesvaters. Vor diesem Hintergrund dürfte ein Umgang von E. mit seinem Vater mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu Ängsten und Verunsicherungen der Kindsmutter führen. Es ist in diesem Zusammenhang falsch, wenn in der Beschwerde vertreten wird, dass, solange „keine Anhaltspunkte für eine konkrete Gefährdung des Kindes bestehen, …die Mutter trotz ihrer nachvollziehbaren Vorbehalte den unbegleiteten Umgang des Vaters mit dem Kind zumindest in neutraler Weise zu dulden …“ habe. Die Kindesmutter ist nicht nur als Zeugin häuslicher Gewalt besonders schutzbedürftig, sondern auch als primäre Bezugsperson für E.
cc. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass der Kindesvater bis heute die Begehung der Tat nicht ernsthaft eingeräumt hat. […] Die Ängste, die alleine dieser Umstand bei der Kindesmutter und auch der Schwester im Falle von Umgängen auslösen muss, haben durch die gelebte familiäre Gemeinschaft direkte Auswirkungen auf das Wohl von E.
dd. Auch ist nicht abzusehen, wie sich diese Tatleugnung durch den Kindesvater bei Umgängen mit E. auswirkt. Indem der Kindesvater weiter vertritt, er habe die Halbschwester von E. nicht missbraucht, zeigt er deutlich seine Geisteshaltung zu dieser Gewalttat und damit auch gegenüber der Schwester von E. als das Opfer und wichtige Bezugsperson für E. Vor diesem Hintergrund kann nicht gesichert ausgeschlossen werden, dass der Kindsvater bei Umgängen mit E. kein dem Kindeswohl schädliches Verhalten zeigt. […]
ee. Weiter ist von Bedeutung, dass E., wie in seiner Anhörung deutlich geworden ist, eine gute Bindung an seine Schwester, die Opfer des sexuellen Missbrauchs durch den Kindesvater geworden ist, hat. […] Welche Auswirkungen Umgänge von E. mit dem Kindesvater auf die seelische Stabilität seiner Schwester, damit wiederum auf das Verhältnis zwischen der Kindesmutter und der Schwester und damit schließlich auf das familiäre System von E. haben, kann der Senat nicht abschließend beurteilen. Der Umstand, dass die Schwester aufgrund der Straftat des Vaters und dem Verhalten der Kindesmutter danach ausgezogen ist und der Missbrauch zwischen ihnen immer noch regelmäßig Thema ist, macht jedoch deutlich, dass eine endgütige Verarbeitung nicht stattgefunden hat. Der Senat ist daher davon überzeugt, dass sich Umgänge auch insoweit negativ auf die Stabilität von E.‘s Familie auswirken würde. Da es sich hierbei um nur einen Aspekt der Gesamtbetrachtung handelt, war die Ermittlung des genaueren Ausmaßes dieser Beeinträchtigung durch die Einholung eines familienpsychologischen Gutachtens entbehrlich.
ff. Der sexuelle Missbrauch zu Lasten von E.‘s Schwester ist weiter deshalb relevant, weil eine – wie auch immer geartete – Kooperationsverpflichtung der Kindesmutter mit dem Kindesvater aufgrund dieser Straftat nicht besteht, wie der Senat in seinem Beschluss betreffend die Aufhebung der gemeinsamen Sorge ausgeführt hat.
b. Ein weiterer erheblicher Gesichtspunkt ist der Umstand, dass E. glaubt, der Vater der Zwillinge sei auch sein Vater. […] Eine Bindung an den Kindesvater besteht ersichtlich nicht. […]
dd. Kann jedoch ein ernsthaftes Interesse des Kindesvaters an seinem Sohn nicht festgestellt werden, ist die mit einer Aufklärung E.‘s über seine Abstammung verbundene Gefahr der Destabilisierung des familiären Systems ein relevanter Faktor bei der Beurteilung der Frage, ob Umgänge zu einer konkreten Kindeswohlgefährdung führen würden.
ee. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 05.10.2016 (BGH, Beschluss vom 05.10.2016 – XII ZB 280/15, juris Rn. 55 ff). Es besteht zum gegenwärtigen Zeitpunkt aus den vorgenannten Gründen keine Verpflichtung der Kindesmutter, E. darüber aufzuklären, dass der Vater der Zwillinge nicht sein biologischer und rechtlicher Vater ist. Ob diese Verpflichtung besteht, wenn E. älter ist, so wie im vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall, kann hier dahinstehen, da E. erst vier Jahre alt ist.
c. Vor diesem Hintergrund ist der Senat überzeugt, dass Umgänge mit dem Kindesvater zu einer erheblichen und konkreten Kindeswohlgefährdung von E. führen würden. […] Die Umsetzung einer verfassungsrechtlich geschützten Rechtsposition darf indes nicht zu der Gefährdung einer anderen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsposition führen, was, wie ausgeführt, vorliegend der Fall wäre, würden Umgänge – auch begleitet – stattfinden.
d. Der Umgangsausschluss ist auch verhältnismäßig.
aa. Er ist geeignet, den soeben beschriebenen Gefahrenmomenten zu begegnen.
bb. Er ist auch erforderlich. Begleitete Umgänge als milderes Mittel scheiden vorliegend aus. Denn den die Gefahr begründenden Umständen könnte durch die Anordnung einer Umgangsbegleitung nicht begegnet werden. Keine Umgangsbegleitung kann sicherstellen, dass der Kindesvater das Thema der Abstammung oder seine Version des sexuellen Missbrauchs nicht anspricht. Unabhängig davon können die psychischen Auswirkungen auf die Kindesmutter und die Schwester und damit mittelbar auf E. durch die Begleitung von Umgängen nicht abgemildert werden. Das Wissen, dass keine tatsächliche körperliche Gefahr für E. bestehen mag, ändert nichts an dem Einfluss, den ein direkter Kontakt auf die emotionale Erlebenswelt der Kindesmutter und der Schwester haben würde.