STREIT 2/2020
S. 51-56
Istanbul-Konvention – Pflicht und Kür des Schutzes vor genderbezogener und häuslicher Gewalt
Festvortrag beim Senatsempfang der Freien und Hansestadt Hamburg aus Anlass des „Internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen“ am 26.11.2019.
Zunächst einmal möchte ich mich herzlich bedanken für die Gelegenheit, aus Anlass des heutigen Tages gegen Gewalt an Frauen den Festvortrag zu halten. Ein Fest ist dieser Tag eigentlich erst, wenn die Istanbul-Konvention vollständig umgesetzt ist.1
Gleichwohl ist es mir eine große Ehre und ein persönliches Anliegen an diesem bedeutungsvollen Tag zu Ihnen über die Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt des Europarats – kurz: die Istanbul-Konvention – zu sprechen. Lassen Sie mich bitte zunächst zur Vermeidung von Verwechslungen kurz den Unterschied zwischen der europäischen Union (der EU) und dem Europarat (Council of Europe), also dem Urheber der Istanbul-Konvention, skizzieren:
Der EU gehören bekanntermaßen derzeit noch 28 Mitgliedsstaaten einschließlich Großbritannien an. Die wesentlichen Organe der EU sind die Kommission, der Rat und das europäische Parlament. Diese verabschieden im Rahmen ihrer Zuständigkeiten Richtlinien (verbindliche Ziele, freie Ausgestaltung durch MS) und Verordnungen (verbindlicher Inhalt).
Dem Europarat gehören aktuell 47 Staaten an, darunter die Mitgliedsstaaten der EU, sowie nahezu alle europäischen Staaten, die nicht EU-Mitglieder sind, wie zum Beispiel Russland, die Türkei, Armenien, Aserbaidschan, die Ukraine und Georgien. Andere Staaten wie Israel, Kanada, Mexiko, Japan, die USA und der Heilige Stuhl haben Beobachterstatus. Die Organe des Europarats sind die parlamentarische Versammlung und das Ministerkomitee. Die Instrumente des Europarats sind Verhandlungen über Verträge, die auf Vorschlag des Ministerkomitees oder der parlamentarischen Versammlung ausgehandelt werden und nach Vorlage von den Staaten unterzeichnet und ratifiziert werden können. Mit der Unterzeichnung eines vereinbarten Vertrages des Europarats erklärt
ein Vertragsstaat, dass er das Vertragswerk und die Ziele des vorgelegten Vertrags anerkennt, mit der Ratifizierung erklärt ein Vertragsstaat, dass die Ziele des Vertrages bei ihm umgesetzt sind.
Die Istanbul-Konvention hat ihren Namen daher, dass sie anlässlich der Sitzung des Ministerkomitees am 11. Mai 2011 in der Türkei bei einer Pressekonferenz in Istanbul zur Unterzeichnung vorgelegt wurde. Die Bundesrepublik hat diese Istanbul-Konvention bereits 2011 unterzeichnet, allerdings erst 2017 das zur Zertifizierung erforderliche Gesetz erlassen, das zum Inkrafttreten der Istanbul-Konvention für Deutschland am 1. Februar 2018 führte. Damit hat die Bundesregierung die Istanbul-Konvention als für Deutschland umgesetzt dargestellt.
Inhaltlich ist die Istanbul-Konvention ein Instrument der Umsetzung der Menschenrechte, in diesem Fall hauptsächlich für den Bereich Europa. Sie folgt der Anerkennung der Menschenrechte in der Charta der Vereinten Nationen von 1948, der Verabschiedung der UN-Frauenrechtskonvention CEDAW (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women) von 1981 sowie inhaltlich definierten Zielen der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995, die eine Erklärung und Aktionsplattform für Gleichberechtigung, Entwicklung und Frieden vorgab und die Menschenrechte von Frauen und Mädchen als unveräußerlichen, integralen und unteilbaren Bestandteil der universellen Menschenrechte, wie sie in der UN-Charta festgelegt sind, deklarierte. Europäisch flankiert durch die EU wurde die Istanbul-Konvention durch die Verabschiedung der EU-Opferschutzrichtlinie von 2012, die verbindlich in der EU gilt.
Nach der Ratifizierung der Istanbul-Konvention stellt sich ihr Rechtscharakter wie folgt dar: seit dem 1. Februar 2018 gilt die Istanbul-Konvention in Deutschland im Range eines Bundesgesetzes, das über dem Landesrecht steht. Gleichzeitig gilt sie als Internationales Recht, das eine völkerrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts – auch durch die Justiz – erfordern kann.
Die Istanbul-Konvention wurde als völkerrechtlicher Vertrag ratifiziert, womit Deutschland erklärt hat, die Inhalte umgesetzt zu haben. Um diese Erklärung nachprüfbar zu machen, ist in die Istanbul-Konvention ein eigener Überwachungsmechanismus integriert: Sie enthält in Kapitel IX (9) Artikel 66 fortfolgende Regeln für die Einsetzung einer Expertengruppe von mindestens 10 und höchstens 15 Mitgliedern, die unter von den Vertragsparteien ernannten Kandidatinnen und Kandidaten vom Ausschuss der Vertragsparteien für eine – einmalig verlängerbare – Amtszeit von 4 Jahren gewählt werden. Diese Expertengruppe, mit der Bezeichnung GREVIO, holt von den Vertragsparteien Berichte über die Umsetzung ein, kann die Vertragsparteien besuchen und mit verschiedenen Akteuren, darunter auch mit Nichtregierungsorganisationen, über die Umsetzung der Istanbul-Konvention reden, fertigt hierüber einen Bericht einschließlich Schlussfolgerungen, der veröffentlicht wird, und kann Empfehlungen zur weiteren Umsetzung aussprechen.
Inhaltlich gibt die Istanbul-Konvention vor, dass Frauen Träger aller Menschenrechte sind und deshalb der Fokussierung als Schutzsubjekt bedürfen, vor allem des Schutzes vor Gewalt und Diskriminierung. Nach der Istanbul-Konvention ist jede Gewalt gegen Frauen, also genderbezogene – das meint geschlechtsbezogene – Gewalt, eine Menschenrechtsverletzung.
Inhaltlich enthält die Istanbul-Konvention drei große Themensäulen:
Prävention,
Opferschutz und Opfer-Unterstützung und
schließlich Strafverfolgung bzw. Ausgleich der Menschenrechtsverletzung
In den ersten beiden der insgesamt 12 Kapitel werden zunächst die grundlegenden Prinzipien und die zu Grunde liegenden Definitionen der geschlechtsbezogenen Gewalt gegen Frauen sowie die Anforderungen an den Strukturaufbau und die Verpflichtungen an die Vertragsparteien festgeschrieben.
Im dritten Kapitel werden Maßnahmen zur Prävention, gerichtet auf die Bewusstseinsbildung in der breiten Öffentlichkeit, die fachliche Sensibilisierung der Berufsgruppen, vorbeugende Interventions- und Behandlungsprogramme, die Ermutigung und Beteiligung des privaten Sektors sowie der Informations- und Kommunikationstechnologien und der Medien und schließlich die Entwicklung und Förderung der Fähigkeiten bei Kindern und Erzieher*innen für den Umgang mit dem Informations- und Kommunikationsumfeld beschrieben. Damit fokussiert die Istanbul-Konvention als eines der wenigen internationalen Handlungsinstrumente die Prävention ausdrücklich und umfassend.
Im vierten Kapitel werden umfangreiche Maßnahmen zum Schutz und zur Unterstützung von Opfern genderbezogener Gewalt unter Hervorhebung des Umstandes festgeschrieben, dass den Opfern Schutz und Unterstützung unabhängig von einer Anzeigeerstattung bei den Strafverfolgungsbehörden zu gewähren sind. Insbesondere das Vorhalten allgemeiner und spezialisierter Hilfsdienste sowie geeigneter Schutzunterkünfte, die Einrichtung einer kostenlosen Telefonhotline und die Sicherstellung der Unterstützung für besonders schutzbedürftige Opfer, wie zum Beispiel Opfer sexueller Gewalt und kindlicher Opfer-Zeugen, werden benannt und geregelt.
Kapitel V enthält Festlegungen zum materiellen Straf- und Zivilrecht, Kapitel VI Regelungen zum Verfahrensrecht, insbesondere zum Schutz der Opfer im Straf- und Zivilverfahren. Dabei werden besonders zum Schutz der Opfer konkrete Maßnahmen vorgesehen bzw. angeordnet.
Kapitel VII widmet sich ausdrücklich den von genderbezogener Gewalt betroffenen Flüchtlingsfrauen und trifft Regelungen zu Asyl und Migration. Hierzu ist allerdings darauf hinzuweisen, dass Deutschland in Bezug auf Art. 59 einen Vorbehalt erklärt hat, der den effektiven Schutz der betroffenen Flüchtlingsfrauen hindert. Ein solcher Vorbehalt bei der Ratifizierung gilt für 5 Jahre und entfällt dann, wenn er nicht erneuert wird. Für einen erfolgreichen Schutz und einen menschenrechts-achtsamen Umgang mit den von genderbezogener Gewalt betroffenen Flüchtlingsfrauen sollte dieser Vorbehalt umgehend zurückgenommen werden.
Kapitel VIII schließlich beschäftigt sich mit Regelungen zur internationalen Zusammenarbeit der Vertragsparteien in grenzüberschreitenden Fällen bezüglich der gefährdeten Personen, sowie mit Regelungen zum Informationsaustausch und zum Datenschutz.
Zur Istanbul-Konvention hat der Europarat als Urheber einen sogenannten „Erläuternden Bericht“ mit insgesamt 374 Ziffern herausgegeben, der bei der konkreten Umsetzung der einzelnen Vorgaben als Kommentierung zu den Artikeln ebenso zum Verständnis herangezogen werden kann, wie das Ratifizierungsgesetz, das im Bundesgesetzblatt von 2017, Teil II, ab Seite 1026 fortfolgende veröffentlicht ist. Dieses Ratifizierungsgesetz enthält den Wortlaut der Istanbul-Konvention in englischer (Originalsprache), französischer und deutscher Sprache und eine Denkschrift der Bundesregierung. Bei der Interpretation der Istanbul-Konvention sind neben diesen Materialien darüber hinaus auch die anderen internationalen Regelungen heranzuziehen, beispielsweise die EU-Opferschutz-Richtlinie, die zum Teil inhaltlich gleiche Regelungen enthält.
Mein Vortrag ist überschrieben mit Pflicht und Kür der Umsetzung der Istanbul-Konvention – eigentlich sehe ich hier keine Kür! Es ist vielmehr Pflicht der Bundesrepublik als Vertragsstaat, die Istanbul-Konvention vollumfänglich umzusetzen! Dafür würde es den Rahmen meines Vortrages weit überdehnen und Ihr Zeitkontingent mutmaßlich weit übersteigen, wollte ich alle Inhalte der Istanbul-Konvention hier darstellen und ihre Umsetzung in Deutschland kritisch beleuchten. Lassen Sie mich gleichwohl einige, mir wichtig erscheinende Punkte herausgreifen:
Da ist zunächst die Definition des Gegenstands der Konvention: geschlechtsbezogene Gewalt und häusliche Gewalt. Insbesondere die Definition häusliche Gewalt in Art. 3b, die mit der Ratifizierung der Istanbul-Konvention Gesetzeskraft erlangt hat, ist damit die erste einheitliche Definition in Deutschland. Bisher galten – soweit es überhaupt Definitionen gab – in den Bundesländern für die Arbeit der Polizei einerseits, der Justiz bzw. der Staatsanwaltschaften andererseits und schließlich für statistische Zwecke der zivilgesellschaftlichen Opferunterstützungseinrichtungen wiederum andere Anknüpfungspunkte.
Nach Art. 3b bezeichnet nun der Begriff „häusliche Gewalt“ alle Handlungen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die innerhalb der Familie oder des Haushalts oder zwischen früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partnerinnen beziehungsweise Partnern vorkommen, unabhängig davon, ob der Täter beziehungsweise die Täterin denselben Wohnsitz wie das Opfer hat oder hatte.
Damit ist neben der Partnerschaftsgewalt auch die Erziehungsgewalt erfasst. Diese Definition gilt es, nicht zuletzt auch für die statistische Erfassung, bei allen Akteuren umzusetzen, um vergleichbare Zahlen, die gem. Art.11 erfasst werden sollen, zu erlangen und an den Europarat melden zu können. Andere EU-Staaten sind da bereits wesentlich weiter, wie mir anlässlich der Teilnahme an einem Workshop des Europarats im Oktober in Madrid vor Augen geführt wurde.
Analysiert man die Aufgabenverteilung der Istanbul-Konvention mit Blick auf die für Deutschland charakteristische Situation der föderalistischen Struktur der Zuständigkeiten, so stellt man fest, dass die Aufgaben der Istanbul-Konvention von allen Ebenen, also Bund, Land und Kommunen umgesetzt werden müssen.
Aufgaben auf Bundesebene
Die Bundesebene ist für die Gesetzgebung zu den in der Istanbul-Konvention angesprochenen allgemeinen Gesetzen verantwortlich. Im materiellen Strafrecht haben wir die meisten Anforderungen der Istanbul-Konvention inzwischen umgesetzt. Dies gilt jedoch nicht für den Straftatbestand des Cybermobbings, den es in Österreich, aber nicht in Deutschland gibt. Von dieser neuen Form der Kriminalität im Internet werden insbesondere Frauen betroffen, die sich deshalb vermehrt aus dem digitalen Lebensraum, den das Internet darstellt, zurückziehen; es handelt sich um eine klassische Form genderbezogener Gewalt. Mir sind die jüngsten Bestrebungen der Bundesregierung zur Erreichung einer erfolgreichen Bekämpfung der Hasskriminalität im Netz bekannt. In der Sorge um Definitionsstreitigkeiten darüber, was unter Hasskriminalität zu verstehen ist, scheint mir die Einführung eines Straftatbestandes Cybermobbing, wie er in § 107c ÖStGB verankert ist, eine relativ einfache und schnelle Möglichkeit für die Lösung eines Teils dieser sehr nachhaltigen Kriminalität, die nicht als Bagatelle gewertet werden darf.
Eine Strafbarkeit wirtschaftlicher Gewalt im Kontext von häuslicher Gewalt haben wir entgegen Art. 3b in Deutschland ebenfalls nicht. Zwar erlaubt der Rechtscharakter der Istanbul-Konvention, auch in konkreten Einzelfällen vor Gericht auf diese Eigenheit der häuslichen Gewalt hinzuweisen und eine konventionsgerechte Anwendung unserer Gesetze einzufordern. Im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot in Art. 103 GG und die Unabhängigkeit der Justiz mit deren Bindung ausschließlich an die Gesetze wäre eine gesetzliche Definition wirtschaftlicher Gewalt jedoch sinnvoll und sollte geprüft und versucht werden.
Schließlich ist gerade im Strafrecht und in der Verantwortlichkeit der Justiz die Umsetzung von Artikel 42 der Istanbul-Konvention noch verbesserungsfähig: Art. 42 verbietet die Rechtfertigung von Straftaten, die aus Gründen der Kultur, der Bräuche, der Religion, der Tradition und der sog. „Ehre“ begangen werden. Hierzu fehlt eine bundesgesetzliche Handlungsorientierung im Strafrecht, beispielsweise in § 46 Absatz 2 StGB, wie beispielsweise eine Klarstellung in der Rechtsanwendung dahingehend, dass die Istanbul-Konvention hierzu bindend zu berücksichtigen ist, auch wenn in der Rechtsprechung an einigen Stellen Bewegung sich anzudeuten scheint. (Tötungsabsicht gegenüber der Ehefrau keine unzulässige Doppelverwertung, BGH 2 StR 150/15 vom 10.01.2018). In diesem Zusammenhang könnte in § 46 StGB statt des Beweggrundes „menschenverachtend“ auch „menschenrechtswidrig“ oder „menschenrechtsverletzend“ eingefügt werden, sodass die UN-Menschenrechtscharta ebenso wie EMRK und andere Menschenrechtsinstrumente in Bezug genommen würden.
Da die Judikative als unabhängige dritte Gewalt nur an Gesetze gebunden ist, wäre in diesem Zusammenhang hilfreich, wenn die nicht nur in der Istanbul-Konvention, sondern auch in Art. 25 der EU-Opferschutzrichtlinie verbindlich festgeschriebene Verpflichtung zur Fortbildung der Justiz nunmehr auf Bundesebene auch in das Deutsche Richtergesetz Eingang finden würde!
Im familiengerichtlichen Bereich fehlt zum Verfahrensrecht eine verbindliche Einführung der Zulassung von Unterstützungspersonen für die Opfer von genderbezogener Gewalt in den Verhandlungen vor dem Familiengericht, wie sie im Strafverfahrensrecht in § 406g StPO mit der psychosozialen Prozessbegleitung vorgegeben ist.
Auch im Strafverfahren besteht insofern jedoch noch Nachbesserungsbedarf:
So gibt zwar § 406g Absatz 3 StPO die kostenlose psychosoziale Prozessbegleitung in Fällen schwerster – nicht nur genderbezogener – Gewaltdelikte vor. Gerade der Bereich mittlerer genderbezogener Gewalt gegen Frauen, also beispielsweise gefährliche Körperverletzung, Straftaten gegen die Sexuelle Selbstbestimmung, die keine Verbrechenstatbestände erfüllen etc., sind hingegen nicht abgedeckt. Dies erscheint im Hinblick auf Art. 56 der Istanbul-Konvention nicht ausreichend.
Festzuhalten bleibt, dass auch auf Bundesebene die Prävention vor geschlechtsbezogener Gewalt menschenrechtskonform – das heißt unter Berücksichtigung der Achtungs-, Schutz- und Gewährleistungspflichten des Staates – umgesetzt werden und evaluiert werden muss. Dies gilt auch für die Verbesserung der Interventionsketten in Fällen von unter Umständen lebensbedrohlichem Stalking und häuslicher Gewalt, für die in Artikel 50 bis 53 konkrete Vorgaben enthalten sind. Teilweise sind bereits Strukturen auch von Seiten der Bundesebene vorgegeben; gleichwohl gibt es in diesem Kontext noch immer viel zu viele Gefährdungen und Femizide, wie in den letzten Jahren häufiger – jüngst auch in Göttingen – erlebt.
Aufgaben auf Landes- und „kommunaler“ Ebene
Zwar sind materiellrechtliche Vorgaben der Istanbul-Konvention wie bereits erwähnt im Wesentlichen auf Bundesebene umzusetzen. Die Aufgaben der Polizei, der Justiz, der Gesundheit und der Unterstützung der freien Wohlfahrtsverbände ebenso wie der Sozialen Aufgaben fallen jedoch in die Zuständigkeit der Länder, während die Anwendung der Gesetze und vieler Aufgaben im Einzelfall vorrangig den Kommunen obliegt. In diesem Zusammenhang kommt Hamburg eine Doppelrolle zu: Als Stadtstaat ist Hamburg Bundesland und Stadt zugleich.
Während die Fachbehörden den Ministerien in den Bundesländern entsprechend strategisch planen, steuern und den Senat beraten, nehmen sie zusammen mit den Bezirken auch kommunale Aufgaben wahr. Eine strikte Trennung der Aufgaben nach der Istanbul-Konvention für die Landesebene und die Kommunale Ebene ist mir als Nicht-Hamburgerin deshalb nur schwer möglich. Dafür bitte ich um Nachsicht. Allerdings weiß ich, dass alle Opferhilfeangebote in Hamburg zentral angebunden sind. Nicht zuletzt deshalb kann ich unter dem Blickwinkel der Landesverantwortlichkeit eine Reihe von Aufgaben durchaus benennen, die jedenfalls überwiegend als Land umzusetzen sein dürften, während andere Aufgaben in Zusammenarbeit mit den Bezirken in Hamburg als kommunal Verantwortliche eher sinnvoll umgesetzt werden könnten.
Zu den eher in die Landesverantwortlichkeit fallenden Aufgaben gehört in Kooperation mit dem Bund die bereits erwähnte Ausweitung der psychosozialen Unterstützung der Opfer genderbezogener Gewalt in Form der psychosozialen Prozessbegleitung. Da die Justiz als Länderaufgabe auch von diesen finanziert werden muss, muss eine Ausweitung durch die Länder mitgetragen werden.
Ähnliches gilt sicherlich auch für die Rücknahme der Vorbehalte im Asylrecht, die sich finanziell auf die Länder, aber auch auf die Bezirke auswirken dürften.
Die Einrichtung einer Landeskoordinierungsstelle zur Umsetzung der Istanbul-Konvention erscheint ebenfalls – soweit noch nicht geschehen – als Landesaufgabe, dient sie doch nach den Vorgaben der Istanbul-Konvention insbesondere der nachhaltigen Prävention geschlechtsbezogener Gewalt in der Gesellschaft mit den bereits beschriebenen Zielsetzungen, insbesondere auch der großräumigen Durchführung von Kampagnen zur Sensibilisierung der Gesellschaft wie auch der verschiedenen Akteure im Bereich Polizei, Justiz und Soziales. Da die Istanbul-Konvention in Artikel 3f ausdrücklich auch Mädchen unter 18 Jahren als Zielgruppe definiert, gehört in diesen Kontext auch das Vorhalten von Unterstützungseinrichtungen für minderjährige Mädchen und die Aufklärungskampagnen in Zusammenhang mit ersten Beziehungen in speziellen Mädchenberatungsstellen, und zwar für alle hier zusammenlebenden Nationen und Kulturen. Gegengleich zur Ergänzung des Deutschen Richtergesetzes auf Bundesebene sollte auf Landesebene das hamburgische Landesrichtergesetz ebenfalls um eine Fortbildungsverpflichtung ergänzt werden, die unter anderem auch gewährleisten könnte, dass alle in der Justiz beschäftigten Juristen in Menschenrechtsfragen, der Anwendung von Menschenrechtsinstrumenten und in Fragen des Opferschutzes sensibilisiert und geschult werden.
Was die Säule des Schutzes und der Unterstützung der Opfer genderbezogener Gewalt betrifft, so betrifft das Vorhalten ausreichender Schutzplätze in Frauenhäusern die Landesebene und ist mit dem in 2020 neu zu schaffenden weiteren Frauenhaus auf einem guten Weg. Allerdings werden auch Schutzwohnungen gebraucht, in die auch männliche Kinder über 12 Jahren mitgenommen werden können, die in Frauenhäuser meist nicht mit aufgenommen werden können. Wenn man diese Jungen, die häusliche Gewalt miterlebt haben, jedoch nicht diesem Einfluss und der Gefahr der transgenerationalen Weitergabe des Erlebten ungeschützt preisgeben will, muss man dafür Lösungen wie Schutzwohnungen finden. Dazu ermutigt die Istanbul-Konvention ausdrücklich in Art. 2.
Aufbau, Pflege und Fortführung aktiver Netzwerke aller mit genderbezogener Gewalt gegen Frauen befassten Professionen wie zum Beispiel Arbeitskreise zu häuslicher Gewalt und Stalking sind zwar in Hamburg auf der Landesebene angedockt. Auf der kleinteiligeren Ebene der Bezirksämter kann der Ausbau dieser Netzwerke durch Einbeziehung weiterer Professionen aus dem Gesundheits-, Schul- und Therapeutenbereich jedoch besser lokal gefördert werden. Gerade in Zusammenhang mit High-Risk-Fällen bei genderbezogener Gewalt gegen Frauen ist eine Umsetzung von Artikel 51 der Istanbul-Konvention, nämlich die Durchführung einer Gefährdungsanalyse und eines Gefahrenmanagements in einem verlässlichen, engeren Kreis der Netzwerke dringend notwendig. Hingegen dürfte die Schaffung barrierefreier Zugänge zu vorhandenen Beratungs- und Schutzangeboten oder die Schaffung insoweit von mehreren Professionen zu nutzenden Räumlichkeiten, wie sie die Istanbul-Konvention auch im Kontext der UN-Behindertenrechtskonvention verlangt, schon aus Kostengründen eher zu den Aufgaben der Landesebene gehören. Dies muss indessen nicht zu erheblicher und kostenträchtiger Bautätigkeit führen. Denkbar wäre auch die gemeinschaftliche Nutzung von bereits vorhandenen barrierefreien Räumen zur Nutzung für Beratung in verschiedenen Zusammenhängen. Dadurch könnten vielleicht in diesem „Bau-Bereich“ zur Verfügung stehende Gelder auch für die Optimierung und den Ausbau der personalintensiven Beratung und Begleitung genutzt werden.
Wie bereits erwähnt gilt die Umsetzung der Anforderungen aus der Istanbul-Konvention für alle Frauen, also insbesondere auch die Frauen, die einen besonderen Schutzbedarf haben, wie minderjährige Mädchen, Flüchtlingsfrauen und Frauen mit Migrationshintergrund, Frauen mit Behinderungen und – häufig noch gar nicht im Fokus – ältere Frauen, die in Heimen aber auch in dezentralen Lebensformen eine besondere Aufmerksamkeit für ihre Gewalt-Schutz-Bedürfnisse benötigen.
Gerade weil Justiz Ländersache ist, muss die Umsetzung der für die Durchführung des Ermittlungs- und Strafverfahrens vorgesehenen Maßnahmen in Artikel 49 ff., wie z.B. Zeugenschutzräume, Videovernehmung und Zeugenbegleitung, besonders beachtet werden.
Zu den grundlegenden Rechten der in der Istanbul-Konvention als Zielgruppe genannten Frauen gehören grundsätzlich das Recht auf Information über die bestehenden Rechte in – wie die EU-Opferschutzrichtlinie vorschreibt – zielgruppengeeigneter Form. Es genügt also nicht, wortreiche Informationsbroschüren zu überreichen. Es muss auch sichergestellt werden, dass diese Informationen verstanden werden, was im Zweifelsfall durch face-to-face-Beratung, face-to-face -Erklärung und face-to-face-Übersetzung“ sicherzustellen ist.
Schließlich haben die Opfer das – individuelle – Recht gem. Art. 21 auch über geltende regionale und internationale Beschwerdemechanismen für Einzel- und Sammelklagen informiert zu werden. Sammelklagen, wie sie im amerikanischen Recht vorgesehen sind, kennt das deutsche Recht in der Form nicht. Andere individuelle Rechtsschutzinstrumente sind dagegen bereits vorhanden. Die Vertragsparteien müssen die einfühlsame oder sachkundige Unterstützung bei der Einreichung solcher Klagen fördern. Zu diesen Beschwerdemechanismen gehören neben Schadensersatzklagen nach deutschem Recht internationale Rechtsschutzinstrumente wie die Individualbeschwerde gem. Art. 34 EMRK zum EGMR, aber auch die individuelle Beschwerde, gerichtet an den Ausschuss des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, den „Menschenrechtsausschuss“ der UN, oder den UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau.
Gem. Art. 29 Abs. 2 haben die Vertragsstaaten Maßnahmen zur Erlangung zivilrechtlicher Ansprüche gegenüber staatlichen Behörden sicherzustellen, womit nach der Rechtsprechung des EGMR eine Haftung nicht nur in Fällen von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit, sondern auch bei Außer-Acht-lassen der erforderlichen Sorgfalt eintritt, also für die sog. due diligence gehaftet wird. Einzelne Opfer oder Personengruppen haben damit ein wirksames Rechtsmittel in der Hand, wenn der Vertragsstaat die Istanbul-Konvention nicht ausreichend umgesetzt hat.
Lassen Sie mich zum Schluss noch darauf hinweisen, dass diese geschilderte rechtliche Überprüfung flankiert wird durch die Umsetzungsverfahren mittels Bericht der Vertragsparteien an den GREVIO-Ausschuss. Deutschland ist 2020 zur Vorlage dieses Berichts verpflichtet. Die jeweiligen Behörden und Institutionen sind bereits zur Zulieferung für den Bericht aufgefordert, wobei der Bericht selbst im BMFSFJ koordiniert wird. Welche Fragen in diesem Bericht beantwortet werden müssen, lässt sich dem Fragebogen des Ausschusses GREVIO entnehmen, der öffentlich verfügbar ist. Der Fragebogen umfasst Fragen zu den Verpflichtungen des Staates, zu Strategien und zur Haftung bei Verletzung der Sorgfaltspflicht ebenso wie zu den konkreten Maßnahmen für Prävention, Schutz und Unterstützung, materiellem Strafrecht, Strafverfahren und Migration und Asyl einschließlich der Abfrage konkreter Fallzahlen und der Abfrage der jeweils hierfür aufgewandten finanziellen Mittel. Dieser Fragebogen ist damit auch ein gutes Analyseinstrument für den Umsetzungsgrad im jeweiligen (Bundes-)Land.
Lassen Sie mich abschließend noch einmal den Bogen zum Ausgangspunkt schlagen: Die Istanbul-Konvention dient dem Schutz der Menschenrechte – fokussiert auf eine Teilgruppe der Menschheit, nämlich die Frauen, was nicht nur biologisch, sondern als soziologischer Geschlechterbegriff verstanden werden sollte und deshalb LSBTIQ-Menschen mit einbeziehen könnte.
Lassen Sie uns nicht nur an einem Tag wie heute alle Menschenrechtskonventionen im Sinne eines lebendigen, das heißt entwicklungsfähigen, Menschenrechtsinstruments sehen und Art. 1 Menschenrechtscharta der UN dabei als Leitlinie nehmen:
All human beings are born free and equal in dignity and rights.
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.
Hinweis der Redaktion
Zur Istanbul-Konvention siehe auch Heike Rabe, Die Istanbul-Konvention – innerstaatliche Anwendung unter besonderer Berücksichtigung der Entscheidung des OLG Hamburg vom 8.3.2018 (Strafverfolgung häuslicher Gewalt), in STREIT 4/2018, S. 147 ff. Ergänzend verweisen wir auf Auszüge der Istanbul-Konvention in STREIT 1/2016, S. 14 sowie auf die deutsche Übersetzung der Kurzfassung der Istanbul-Konvention in STREIT 1/2016, S. 14 ff. Eine deutschsprachige Fassung der Konvention als pdf findet sich auf der Website UN Women Deutschland unter folgendem Link: https://www.unwomen.de/informieren/internationale-vereinbarungen.html.
- Die Dringlichkeit der Umsetzung der Forderungen in der Vortragsversion dürfte durch die Situation der Corona-Virus-bedingten Einschränkungen noch einmal an Aktualität gewinnen: Es steht zu befürchten, dass durch die gesundheitlich bedingten Einschränkungen des sozialen Lebens in unserer Gesellschaft wie Schließung aller öffentlichen Einrichtungen, Kontaktverbote bis hin zu Ausgehverboten und dadurch bedingtem Einsperren der kompletten Familie auf engem Raum Gewaltpotential und Aggressionen freigesetzt werden, die sich in häuslicher Gewalt entladen. ↩