STREIT 2/2023

S. 78-79

SG Berlin, §§ 7, 10 SGB II, § 2 Abs. 3 FreizügG/EU 2004

Kein Ausschluss von SGB II-Leistungen für Ausländerin nach freiwilliger Beendigung der Prostitution

Eine Tätigkeit in der Prostitution ist nicht mit einer gewöhnlichen Erwerbstätigkeit vergleichbar. Aus der staatlichen Schutzpflicht für die Menschenwürde folgt, dass eine Arbeit in der Prostitution im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB II als unzumutbar anzusehen ist und von der betreffenden Person nicht ausgeübt werden muss, um ihre Hilfebedürftigkeit zu verringern. Eine unzumutbare Tätigkeit darf die betreffende Person jederzeit aufgeben, ohne dass dies eine freiwillige Arbeitsaufgabe im Sinne von § 2 Abs. 3 FreizügG/EU darstellen würde.
(Leitsätze der Redaktion)

Urteil des SG Berlin vom 15.06.2022, S 134 AS 8396/20

Aus dem Sachverhalt:
[…] Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob die Klägerin zu 1. aus ihrer bis Juli 2019 ausgeübten selbständigen Tätigkeit als Prostituierte für den streitgegenständlichen Zeitraum ein fortdauerndes Aufenthaltsrecht herleiten kann, so dass die Kläger nicht nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind.
Die […] Klägerin […] sowie ihre beiden […] Söhne […] sind bulgarische Staatsangehörige. Die Klägerin hat nach eigenen Angaben seit dem 25.03.2014 ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland […], war ferner nach eigenen Angaben seit April 2014 bis Juli 2019 selbständig als Prostituierte tätig. […] Im Juli 2019 gab die Klägerin ihre Tätigkeit als Prostituierte auf, weil sie […] schwanger war und weil sie die Tätigkeit für sich als nicht mehr zumutbar empfand. […] Der Beklagte […] lehnte […] die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II […] ab. Die Klägerin sei von Leistungen ausgeschlossen, da sie kein anderes Aufenthaltsrecht als das zur Arbeitssuche habe. […]

Aus den Gründen:
[…] Die streitgegenständlichen Bescheide sind rechtswidrig und verletzten die Kläger in ihren Rechten, da die Kläger für den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum […] dem Grunde nach einen Anspruch auf die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach den §§ 7, 19 ff. SGB II haben. […] Entgegen der Auffassung des Beklagten sind die Kläger nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II […] von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen. Danach sind insbesondere Ausländer, die kein Aufenthaltsrecht haben oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen.
Die Klägerin hat jedenfalls durch ihre selbständige Tätigkeit als Prostituierten in den Jahren 2017 bis Juli 2019 ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 FreizügG/EU erlangt […], das nach der Vorschrift des § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU fortdauert […]. Ferner unterliegt es – spätestens nach der Legalisierung der Prostitution durch das Gesetz zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen (Prostituiertenschutzgesetz – ProstSchutzG vom 21.10.2016, BGBl. I S. 2372) – keinem Zweifel, dass auch die selbständige Tätigkeit als Prostituierte dem Grunde nach eine selbständige Tätigkeit im Sinne § 2 Abs. 2 FreizügG/EU sein kann, die ein Aufenthaltsrecht vermittelt (so zutreffend das Hessisches Landessozialgericht v. 21.08.2020 – L 6 AS 383/20 B ER, juris Rn. 28 mit weiteren Nachweisen). […]
Das Aufenthaltsrecht der Klägerin aufgrund ihrer selbständigen Tätigkeit bestand […] nach § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU fort. Danach bleibt das Freizügigkeitsrecht für selbständig Erwerbstätige bei Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit unberührt. […]

Das Gericht geht – anders als der Beklagte – […] davon aus, dass die Klägerin die mehr als einjährige Tätigkeit als Prostituierte im Sinne von § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU infolge von Umständen aufgegeben hat, auf die sie als Selbständige keinen Einfluss hatte. […] Maßgeblich ist […], ob die selbständig tätige Person die Beendigung der selbständigen Tätigkeit zu vertreten hat oder ob die Beendigung auf Umständen beruht, die die Person nicht maßgeblich beeinflussen kann und die es für den Selbständigen unmöglich oder unzumutbar machen, seine Tätigkeit fortzuführen (vgl. Nr. 2.3.1.2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum FreizügG/EU vom 03.02.2016 sowie Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 33. Edition, Stand 01.10.2021 mit weiteren Nachweisen).
Vorliegend ist das Gericht überzeugt, dass die Klägerin die Gründe für die Beendigung ihrer selbständigen Tätigkeit als Prostituierte nicht zu vertreten hat. Die Beendigung ihrer Tätigkeit beruhte vielmehr auf den objektiv unzumutbaren Umständen der prekären Armutsprostitution, die die Klägerin in den Jahren 2017 bis Juni 2019 ausgeübt hat. Das Gericht hält es für nicht weniger als offensichtlich, dass es objektiv keinem Menschen zugemutet werden kann, sich unter den von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung […] geschilderten Bedingungen des Berliner Straßenstrichs zu prostituieren.
Aber auch unabhängig von den konkreten Umständen der Ausübung der Prostitution im vorliegenden Einzelfall ist das Gericht der Auffassung, dass die willentliche Beendigung der Prostitution generell keine freiwillige Aufgabe der Erwerbstätigkeit im Sinne von § 2 Abs. 3 FreizügG/EU ist, die einen Fortfall des Aufenthaltsrechts und damit der Sozialleistungsberechtigung nach sich zieht:
Eine Tätigkeit in der Prostitution ist nicht mit einer gewöhnlichen Erwerbstätigkeit vergleichbar. Das Erbringen sexueller Dienstleistungen berührt die Intimsphäre und damit die Menschenwürde der betroffenen Personen in besonders starker Weise. Gemäß Art. 1 Abs. 1 GG ist die Würde des Menschen unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Die Garantie der Menschenwürde legt gemäß Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG der gesamten „staatliche Gewalt“ Schutzpflichten auf, also neben der Gesetzgebung, auch der Rechtsprechung und der vollziehenden Gewalt. Auch der Beklagte ist somit zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet.

Aus der Schutzpflicht des Staates für die Menschenwürde folgt zunächst, dass der Staat keine Arbeitsvermittlung in die Prostitution vornehmen darf. Eine Arbeitsvermittlung in die Prostitution, die mit der entgeltlichen Vornahme sexueller Handlungen oder anderer Dienstleistungen mit eindeutig sexuellem Bezug verbunden ist, beraubt den Anbietenden, auch wenn er nicht zur Leistung verpflichtet ist, seiner Subjektqualität und der Freiheit in seiner Intimsphäre und ist deshalb mit dem Schutz aus Art. 1 Abs. 1 GG und auch Art. 2 Abs. 1 GG unvereinbar (so zutreffend BSG, v. 06.05.2009 – B 11 AL 11/08 R, juris Rn. 23).
Aus der staatlichen Schutzpflicht für die Menschenwürde folgt zudem, dass eine Arbeit in der Prostitution im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB II als unzumutbar anzusehen ist und von der betreffenden Person nicht ausgeübt werden muss, um ihre Hilfebedürftigkeit zu verringern. Es würde gegen die Schutzpflicht des Staates für die Menschenwürde verstoßen, wenn der Staat Hilfebedürftige dazu zwingt, sexuelle Dienstleistungen erbringen zu müssen, um Einkommen zur Verringerung oder Beendigung ihrer Hilfebedürftigkeit zu erzielen (so zutreffend Böttiger in: Eicher, SGB II, 5. Aufl. 2020, § 10 Rn. 88 und 93 mit weiteren Nachweisen). Eine im Sinne von § 10 Abs. 1 SGB II unzumutbare Tätigkeit darf die betreffende Person aber wegen der Unzumutbarkeit jederzeit aufgeben, ohne dass dies eine freiwillige Arbeitsaufgabe im Sinne von § 2 Abs. 3 FreizügG/EU darstellen würde. Beendet ein Unionsbürger seine Tätigkeit in der Prostitution, weil er oder sie die Tätigkeit als nicht mehr zumutbar empfindet, beruht die Aufgabe der Tätigkeit vielmehr auf der Unzumutbarkeit der Prostitution an sich und damit auf Umständen, die die Person nicht zu vertreten hat.
Dem lässt sich nicht entgegenhalten, dass die betreffende Person die Arbeit zuvor ausgeübt hat. Eine objektiv unzumutbare Arbeit, deren Ausübung der Staat von niemandem verlangen kann, wird nicht deshalb zumutbar, weil die Person die Arbeit zeitweise ertragen hat. Die Schutzpflicht des Staates für die Menschenwürde gilt objektiv und ist unabhängig von einem etwaigen Verzicht einzelner Arbeitssuchender auf die entsprechende Schutzwirkung (so zutreffend BSG v. 06.05.2009 – B 11 AL 11/08 R, juris Rn. 25).
Im Ergebnis folgt daher aus der Schutzpflicht des Staates für die Menschenwürde, dass der Staat die weitere Gewährung von Sozialleistungen an Unionsbürger nicht daran knüpfen darf, dass eine Tätigkeit in der Prostitution weiterhin ausgeübt werden muss. Anderenfalls würden Menschen wegen entfallender Sozialleistungen mittelbar gezwungen, weiterhin gegen ihren Willen in der Prostitution arbeiten zu müssen, statt sich aus diesem Gewerbe lösen zu können. […]