STREIT 2/2023
S. 75-77
VG Aachen, § 1 UVG, Art. 7 Abs. 2 VO (EU) Nr. 492/2011, Art. 45 Abs. 2 AEUV
Unterhaltsvorschuss für Grenzgängerin – kein Wohnsitzerfordernis
Das sog. Wohnsitzerfordernis im Bundesgebiet bzw. Inland in § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG ist im Hinblick auf den Vorrang der in Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (VO (EU) Nr. 492/2011) und in Art. 45 Abs. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) gewährleisteten Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht anzuwenden, wenn die – alleinerziehende – Mutter des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland als Arbeitnehmerin mehr als geringfügig beschäftigt ist und mit dem Kläger in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union (hier: Belgien) wohnt.
(Leitsatz der Redaktion)
Urteil des VG Aachen vom 30.11.2021, 10 K 1393/21
Aus dem Sachverhalt:
[…] Der […] Kläger begehrt Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (UVG). Mit seiner ledigen Mutter – Frau L. S. – war er zunächst in Aachen und ist mit ihr seit Februar 2021 in Eupen/Belgien wohnhaft. […] Die Mutter des Klägers ist seit 2016 in Aachen […] in Vollzeit beschäftigt. […] Die Beklagte lehnte […] die Gewährung von Unterhaltsvorschussleistungen ab. […] Sein Wohnsitz liege bei der Mutter in Belgien außerhalb des Bundesgebietes und damit sei ein Anspruch gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG nicht gegeben. […]
Aus den Gründen:
[…] B. Die Klage ist auch begründet.
[…] I. Zunächst scheitert der Anspruch gegenüber der Beklagten nicht bereits wegen fehlender örtlicher Zuständigkeit der Beklagten. […] Für den weder im Unterhaltsvorschussgesetz noch im Sozialgesetzbuch 1. und 10. Buch geregelten Fall eines Wohnsitzes des Kindes und des alleinerziehenden Elternteils außerhalb des Bundesgebietes erscheint es jedoch sachgerecht auf den letzten Wohnsitz des Klägers und seiner Mutter im Bundesgebiet abzustellen (vgl. dazu etwa auch die Regelung zur örtlichen Zuständigkeit in § 3 Abs. 1 Nr. 3a VwVfG NRW) bzw. auf den Ort, zu dem wegen der Erwerbstätigkeit des Elternteils ein Bezug besteht, vgl. auch Grube, UVG, 2. Auflage 2020, § 1 Rz. 23. […]
II. Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs für den zum Antragszeitpunkt 7 Jahre alten Kläger ist § 1 Abs. 1 UVG. Zwischen den Beteiligten streitig ist allein die Anspruchsvoraussetzung des § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG, wonach ein Kind einen Anspruch hat, wenn es im Geltungsbereich des Gesetzes bei einem Elternteil lebt, der ledig, verwitwet oder geschieden ist oder von seinem Ehegatten oder Lebenspartner dauernd getrennt lebt. Diese Anspruchsvoraussetzung erfüllt der mit seiner Mutter in Belgien lebende Kläger nicht. […]
III. Das sog. Wohnsitzerfordernis im Bundesgebiet bzw. Inland in § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG ist jedoch im vorliegenden Fall im Hinblick auf den Vorrang der in Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (VO (EU) Nr. 492/2011) und in Art. 45 Abs. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) gewährleisteten Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht anzuwenden, da die – alleinerziehende – Mutter des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland als Arbeitnehmerin mehr als geringfügig beschäftigt ist und mit dem Kläger in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union (hier: Belgien) wohnt.
1. Nach Art. 7 Abs. 2 VO i.V.m. Art. 7 Abs. 1 (EU) Nr. 492/2011 genießt ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer. Diese Vorschrift […] stellt eine besondere Ausprägung des in Art. 45 Abs. 2 AEUV enthaltenen Gleichbehandlungsgrundsatzes für Arbeitnehmer auf dem spezifischen Gebiet der Gewährung sozialer Vergünstigungen dar und ist daher ebenso wie Art. 45 Abs. 2 AEUV auszulegen, vgl. EuGH, Urteile vom 20. Juni 2013 – C-20/12 (Giersch) -, Rz. 35 und vom 15. Dezember 2016 – C-401/15 bis 403/15 (Depesme) -, Rz. 35, jeweils juris.
Art. 45 Abs. 1 AEUV bestimmt, dass innerhalb der Union die Freizügigkeit gewährleistet ist. Nach Abs. 2 der Vorschrift umfasst die Freizügigkeit die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen. […] Sämtliche Vertragsbestimmungen sollen über die Freizügigkeit den Gemeinschaftsangehörigen die Ausübung beruflicher Tätigkeiten aller Art im Gebiet der Union erleichtern und stehen Maßnahmen entgegen, die die Unionsangehörigen benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben wollen. Aus der Rechtsprechung lässt sich ableiten, dass sich dies auf Maßnahmen bezieht, die diejenigen Gemeinschaftsangehörigen benachteiligen könnten, die in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Wohnstaat einer Berufstätigkeit nachgehen, womit insbesondere die Unionsangehörigen erfasst werden, die in einem bestimmten Mitgliedstaat eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben wollen, nachdem sie ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt haben, vgl. etwa EuGH, Urteil vom 16. Oktober 2008 – C-527/06 (Renneberg) -, juris Rz. 43, 44, m.w.N. zur Rspr. des EuGH. […]
2. Die alleinsorgeberechtigte Mutter des Klägers unterfällt als Unionsbürgerin und abhängig Beschäftigte mit Wohnsitz in Belgien dem persönlichen und auch sachlichen Anwendungsbereich des Art. 7 Abs. 2 VO (EU) Nr. 492/2011 sowie des Art. 45 AEUV. […]
Die Mutter des Klägers befindet sich in der Situation einer Grenzarbeitnehmerin, die täglich zwischen zwei Mitgliedstaaten pendelt, um ihrer Beschäftigung nachzugehen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann sich die Mutter des Klägers, die in Belgien einen Wohnsitz hat und in Deutschland arbeitet, als sog. Wander- bzw. Grenzarbeitnehmerin auch gegenüber ihrem Herkunftsstaat, der Bundesrepublik Deutschland, auf das Arbeitnehmerfreizügigkeitsrecht des Art. 7 Abs. 2 VO (EU) Nr. 492/2011 bzw. Art. 45 Abs. 2 AEUV berufen, vgl. etwa EuGH, Urteile vom 18. Juli 2007 – C-212/05 (Hartmann) -, Rz. 18, 20 und vom 20. Juni 2013 – C-20/12 (Giersch) -, Rz. 37 (jeweils zur Vorgängervorschrift Art. 7 Abs. 2 VO (EWG) 1612/68), vom 15. Dezember 2016 – C-401/15 bis 403/15 (Depesme) -, Rz. 35-37 (auch zu Art. 7 Abs. 2 VO (EU) Nr. 492/2011) und vom 16. Oktober 2008 – C-527/06 (Renneberg) -, Rz. 36, 37 (zu Art 39 EG – nunmehr Art. 45 AEUV), jeweils juris; sowie zu Art. 7 Abs. 2 VO (EWG) 1612/68: BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2017 – 5 C 36/16 -, Rz. 26, m.w.N. zur Rspr. des EuGH; VG Aachen, Urteil vom 14. Dezember 2020 – 10 K 3417/18 -, Rz. 36ff. und bereits zu Art. 45 Abs. 2 AEUV: Urteil vom 22. November 2011 – 2 K 1029/10-, Rz. 40f., jeweils juris; Grube, UVG, 2. Auflage 2020, § 1 Rz. 4 ff.
3. Bei den Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz handelt es sich um eine soziale Vergünstigung i.S. des Art. 7 Abs. 2 VO (EU) Nr. 492/2011, […] denn sie stehen dem Kläger als Sohn einer Grenzarbeitnehmerin zu, die für seinen Unterhalt aufkommt. Die Vergünstigung gegenüber dem – anspruchsberechtigten – Kind erweist sich insoweit zugleich als Vergünstigung gegenüber dem alleinerziehenden Elternteil. Die Unterhaltsvorschussleistungen tragen zum Unterhalt des Kindes bei und sollen gleichzeitig auch den alleinerziehenden Elternteil in einer typischerweise schwierigen Erziehungs- und Lebenssituation entlasten. Der Europäische Gerichtshof hat für vergleichbare Leistungen – wie etwa eine Studienförderung -, die ein Mitgliedstaat den Kindern von Arbeitnehmern gewährt, entschieden, dass die Leistung für Wanderarbeitnehmer eine soziale Vergünstigung i.S.d. Vorschrift darstellt, wenn der Arbeitnehmer weiter für den Unterhalt des Kindes aufkommt, vgl. EuGH, Urteil vom 20. Juni 2013 – C-20/12 (Giersch) -, Rz. 39 und ebenso etwa: Generalanwalt Alber in den Schlussanträgen vom 8. Februar 2001 in C-255/99 (Humer) -, juris Rn. 85 sowie Urteile vom 15. Dezember 2016 – C-401/15 bis C-403 (Depesme) -, Rz. 39, 64 und vom 2. April 2020 – C-802/18 (Caisse pour l‘avenir des enfants) -, Rz. 50, jeweils juris; BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2017 – 5 C 36/16, juris Rz. 31 f., 33, m.w.N. zur Rspr.
4. Der Kläger kann sich als Kind/Familienmitglied einer Wander- bzw. Grenzarbeitnehmerin selbst auf die Bestimmung des Art. 7 Abs. 2 VO (EU) Nr. 492/2011 berufen, da Familienangehörige eines Wander-/Grenzarbeitnehmers mittelbare Nutznießer der diesem durch Art. 7 Abs. 2 VO (EU) Nr. 492/2011 zuerkannten Gleichbehandlung sind und die Gewährung der sozialen Vergünstigung – hier: die begehrte Unterhaltsvorschussleistung – nach nationalem Recht unmittelbar dem Kind gewährt wird, vgl. etwa: EuGH, Urteile vom 15. Dezember 2016 – C-401 bis C-403/15 (Depesme) -, Rz. 40 und vom 2. April 2020 – C 802/18 (Caisse pour l‘avenir des enfants) -, Rz. 49, jeweils juris und m.w.N. zur Rspr. d. EuGH; BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2017 – 5 C 36/16 -, juris Rz. 26.
5. Das Wohnsitzerfordernis in § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG beschränkt vorliegend die Mutter des Klägers in der Ausübung ihrer Arbeitnehmerfreizügigkeit und führt zu einer mittelbaren Diskriminierung der Mutter des Klägers als Grenzarbeitnehmerin […].
Das Wohnsitzerfordernis in § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG wirkt sich vor allem auf unionrechtliche Wander- bzw. Grenzarbeitnehmer – wie die Mutter des Klägers – aus. Der Verlust der Unterstützungsleistung in Form der Unterhaltsvorschussleistung kann die Wahrnehmung des Arbeitnehmerfreizügigkeitsrechts durch die Mutter des Klägers – erheblich – erschweren. Zwar steht die Leistung nach dem nationalen Recht […] unmittelbar dem Kind zu. Es handelt sich jedoch um finanzielle Mittel, die dem Haushalt von Elternteil und Kind – der häuslichen Gemeinschaft – zufließen und mittelbar auch der Unterstützung des alleinerziehenden Elternteils dienen und eine wesentliche Unterstützungsleistung darstellen können. Der Verlust dieser Unterstützungsleistung kann ein wesentliches Element im Entscheidungsprozess der alleinerziehenden Arbeitnehmer über die Ausübung der Freizügigkeit darstellen und diese davon abhalten, ihr Freizügigkeitsrecht aus Art. 45 AEUV auszuüben.
6. Die Ungleichbehandlung der Mutter des Klägers als Grenz- bzw. Wanderarbeitnehmerin auf Grund des Wohnsitzerfordernisses ist nicht objektiv gerechtfertigt.
Nach der Rechtsprechung der Europäischen Gerichtshofs ist eine derartige Ungleichbehandlung nur gerechtfertigt, wenn sie geeignet ist, die Verwirklichung eines legitimen Ziels zu gewährleisten und nicht über das hinaus geht, was zu seiner Erreichung erforderlich ist, vgl. EuGH, Urteile vom 2. April 2020 – C-802/18 – (Caisse pour l‘avenir des enfants) -, Rz. 58, vom 14. Dezember 2016 – C-238/15 (Verruga) -, Rz. 44, vom 20. Juni 2013 – C-20/12 (Giersch) -, Rz. 46 und vom 16. Oktober 2008 – C-527/06 (Renneberg) -, Rz. 81, jeweils juris und m.w.N. zur Rspr. des EuGH.
Soweit als Grund für das Wohnsitzerfordernis in § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG das Bestehen eines engen Zusammenhangs zu den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen im Bundesgebiet gesehen wird und als Ziele des Wohnsitzerfordernisses zum einen die Unterstützung derjenigen, die in enger Verbundenheit zur deutschen Gesellschaft stehen, sowie zum anderen der Ausschluss eines möglicherweise bestehenden wirtschaftlichen Vorteils der Leistungsbezieher durch den „Export“ der Unterhaltsvorschussleistungen auf Grund unterschiedlicher Lebensverhältnisse in den Mitgliedstaaten, angeführt werden, vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2017 – 5 C-36/16 -, juris Rz. 39f., rechtfertigen diese nicht die vorliegende Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Ungeachtet der Frage, ob es sich insoweit überhaupt um legitime Ziele im Sinne des Unionsrechts handelt, erweist sich die Wohnsitzklausel als nicht erforderlich. Denn die Erforderlichkeit einer gesetzlichen Wohnsitzklausel ist nur zu bejahen, wenn der Gesetzgeber nicht eine andere, gleichwirksame, aber die unionsrechtliche Freizügigkeit nicht oder weniger stark einschränkende Leistungsvoraussetzung hätte wählen können, vgl. etwa EuGH, Urteil vom 20. Juni 2013 – C-20/12 (Giersch) -, Rz. 72, 73, 76 unter Hinweis auf Urteil vom 14. Juni 2012 – C-542/09 (Kommission/Niederlande) -, Rz. 80f., 86, 87.
Nach der unionsrechtlichen und höchstrichterlichen Rechtsprechung ist dies vorliegend der Fall, da die Unterhaltsvorschussleistungen davon abhängig gemacht werden können, dass der in einem anderen Mitgliedstaat wohnende alleinerziehende Elternteil im Bundesgebiet einer Erwerbstätigkeit nachgeht, die die Grenze der Geringfügigkeit übersteigt. Denn dadurch trägt dieser Elternteil mit den Abgaben, die er auf Grund seiner unselbständigen Tätigkeit im Bundesgebiet entrichtet, zur Finanzierung der sozialpolitischen Maßnahmen des Staates bei und belegt damit, dass er und das Kind, für dessen Unterhalt er aufkommt, hinreichend mit der Gesellschaft im Bundesgebiet verbunden sind, vgl. etwa EuGH, Urteil vom 18. Juli 2007 – C-212/05 (Hartmann) -, Rz. 34ff. und BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2017 – 5 C-36/16 -, Rz. 45ff., jeweils juris.
Ferner kann der mit einem Wohnsitzerfordernis verfolgte Zweck, dem engen sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhang zwischen der Berechnung der Unterhaltsvorschussleistungen und den Lebensverhältnissen im Bundesgebiet Rechnung zu tragen, […] auch mit einer weniger einschneidenden Anpassung der jeweiligen Leistungshöhe erreicht werden. D.h., dass sich in Fällen von im Ausland wohnenden Berechtigten die Höhe der Unterhaltsvorschussleistungen nach den Verhältnissen im Aufenthaltsland richten und bei einem Bezug von vergleichbaren Leistungen zudem eine Anrechnung erfolgen kann, vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2017 – 5 C-36/16 -, juris Rz. 47ff.
Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass das Wohnsitzerfordernis aus § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG in der dem Rechtsstreit zugrundeliegenden Situation des Klägers und seiner Mutter nicht anwendbar ist. […]