STREIT 2/2023
S. 73-74
OLG Stuttgart, Art. 3, 12, 13 HKÜ
Keine Rückführung eines Kindes nach dem HKÜ in das Staatsgebiet der Ukraine
Der Rückführung eines von einem Elternteil nach Deutschland entführten minderjährigen Kindes in die Ukraine steht derzeit eine schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind auf dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine entgegen.
(Leitsatz der Redaktion)
Beschluss des OLG Stuttgart vom 13.10.2022 – 17 UF 186/22
Sachverhalt:
I. Gegenstand des Verfahrens ist das Begehren des Antragstellers auf Rückführung seiner Tochter K., geb. …2021, in die Ukraine nach den Bestimmungen des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25.10.1980 (HKÜ).
Der Antragsteller und die Antragsgegnerin sind getrennt lebende Eheleute und die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern des Kindes K. Bis zum 02.03.2022 lebten die Beteiligten zusammen in einer Wohnung in O. in der Ukraine. Bei Fliegeralarm flüchteten sie sich mit K. ins Auto und verbrachten die Nacht in der Tiefgarage.
Am 02.03.2022 verließ die Antragsgegnerin mit K. die gemeinsame Wohnung und begab sich ohne das Einverständnis des Antragstellers nach Deutschland, um hier mit dem Kind auf längere Zeit zu bleiben.
Mit seinem am 27.07.2022 beim Amtsgericht Stuttgart eingegangenen Antrag begehrt der Antragsteller die Rückführung des Kindes K. in die Ukraine. […]
Die Antragsgegnerin hat beantragt, den Antrag abzuweisen. […]
Die Angelegenheit wurde am 26.08.2022 mit den Beteiligten in einem Termin erörtert. Der Antragsteller konnte zu dem Termin nicht persönlich erscheinen, da er infolge der Generalmobilmachung die Ukraine nicht verlassen darf. Er wurde über WebEx angehört. Ferner war auch sein ukrainischer Rechtsanwalt in der Sitzung anwesend. Auch eine Dolmetscherin war anwesend. Auf das Protokoll des Erörterungstermins wird verwiesen.
Die Amtsrichterin hat sich am 26.08.2022 einen persönlichen Eindruck von K. verschafft.
Das Amtsgericht hat sodann mit Beschluss vom 30.08.2022 entschieden:
1. Die Anträge werden zurückgewiesen.
2. Die Verfahrenskosten werden gegeneinander aufgehoben. […]
Gegen diesen seinen Verfahrensbevollmächtigten am 06.09.2022 zugestellten Beschluss wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde vom 14.09.2022, die am selben Tag beim Amtsgericht eingegangen ist. […]
Die Antragsgegnerin beantragt die Zurückweisung der Beschwerde und verteidigt den angefochtenen Beschluss. Sie verweist auf die Auswirkungen des häufigen Fliegeralarms und der Notwendigkeit, in Schutzräumen Zuflucht zu suchen, auf das Kind. Sie sei mit K. aufgrund eines kurzfristigen Entschlusses vor dem Krieg nach Deutschland geflohen. […]
Aus den Gründen:
Die fristgerecht eingelegte und begründete und auch im Übrigen zulässige Beschwerde des Antragstellers hat in der Sache keinen Erfolg.
1. Zu Recht hat das Amtsgericht in den Gründen des angefochtenen Beschlusses ausgeführt, dass auf das Begehren des Antragstellers auf Rückführung des Kindes K. die Vorschriften des HKÜ anwendbar sind.
Nicht zu beanstanden sind die Ausführungen des Amtsgerichts, wonach die Antragsgegnerin, der die elterliche Sorge für K. mit dem Antragsteller, ihrem Ehemann, gemeinsam zusteht, durch die Ausreise mit dem Kind aus der Ukraine, wo das Kind zuvor seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nach Deutschland am 02.03.2022 den Tatbestand des widerrechtlichen Verbringens nach Art. 12 Abs. 1 Satz 1, Art. 3 HKÜ verwirklicht hat. […]
2. Der Senat teilt die Einschätzung des Amtsgerichts, dass nachgewiesen ist, dass eine Rückführung von K. in die Ukraine mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden wäre (Art. 13 Abs. 1 b) HKÜ).
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Bestimmung des Art. 13 Abs. 1 b) HKÜ nach allgemeiner Ansicht unter Berücksichtigung des Zwecks des HKÜ, eine zügige Sorgerechtsentscheidung durch die Gerichte des Staates zu ermöglichen, in dem das Kind sich vor der Entführung mit dem Willen aller Sorgeberechtigter gewöhnlich aufgehalten hat, restriktiv auszulegen ist (Hausmann, IntEuFamR, 2. A., U Rn. 207 m. w. N.). Erforderlich ist daher eine über die mit jeder Rückführung verbundenen Belastungen hinausgehende, besonders schwerwiegende Beeinträchtigung des Kindeswohls (Hausmann U Rn. 208 m. w. N.). Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Senats (vgl. etwa Senat, IPRspr 2015, 279 ff.), an der dieser weiter festhält.
Jedoch ist in Rechtsprechung und Literatur anerkannt, dass die Voraussetzungen der Härteklausel vorliegen, wenn das Kind in ein Kriegs- oder Bürgerkriegsgebiet zurückgeführt werden soll und dort eine konkrete Gefahr für das Kind besteht (vgl. OLG Hamm, FamRZ 1999, 948 f. Rn. 6; Hausmann, U Rn. 216; MüKoBGB/Heiderhoff, 8. A., HKÜ Art. 13 Rn. 25; Andrae, Internationales Familienrecht, 4. A., § 9 Rn. 246, sowie allg. zur Berücksichtigung der Garantien des Art. 8 EMRK bei der Auslegung der Bestimmungen des HKÜ: EGMR, Urteil vom 15.06.2021 -17665/17 -, juris, betreffend die Rückführung eines Kindes aus Russland in den Bereich Donezk in der Ukraine vor dem 24.02.2022). […]
Sollte zusätzlich zu fordern sein, dass die durch den Krieg bedingte Gefährdungslage „das ganze Land“ betreffen muss (vgl. Erb-Klünemann, FamRB 2018, 327, 331; Heidel/Hüßtege/Mansel/Noack/Erb-Klünemann, BGB-Kom., 4. A., HKÜ Art. 13 Rn. 27), so wäre vorliegend auch diese Voraussetzung erfüllt.
Zu Recht hat das Amtsgericht ausgeführt und näher begründet, dass es sich bei dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine seit dem 24.02.2022 um ein Kriegsgebiet handelt.
Es liegt folgende aktuelle Reisewarnung des Auswärtigen Amts für die Ukraine vor (https://www.auswaertiges-amt.de; Stand 10.10.2022) […].
Der Senat verkennt nicht, dass eine Reisewarnung für sich genommen nicht in allen Fällen zur Annahme einer schwerwiegenden Gefahr i. S. d. Art. 13 HKÜ bei einer Rückführung eines Kindes in das betreffende Land führen muss. Vielmehr hat eine Gesamtbetrachtung zu erfolgen, in die auch weitere Gesichtspunkte einzubeziehen sind. […]
Hinzu kommt, dass die Gesamtentwicklung der Auseinandersetzung bei derzeit fehlenden konkreten Aussichten für eine friedliche Konfliktbeilegung insgesamt die Tendenz zur weiteren Eskalation erkennen lässt. Es muss daher damit konkret gerechnet werden, dass im gedachten Fall einer nun durchgeführten Rückführung des Kindes in kurzer Zeit in der Ukraine für K. eine noch gefährlichere Situation entsteht.
Weiter ist zu beachten, dass die Gefährdung höchstrangige Rechtsgüter des Kindes betrifft. Angesichts der Kriegshandlungen ist nicht nur mit einer Verängstigung des noch nicht 2 Jahre alten Kindes oder mit einer unzureichenden ärztlichen Versorgung zu rechnen, sondern mit einer konkreten Gefahr für das Leben des Kindes.
Die vorgenannten Gesichtspunkte können ohne weiteres jeweils aktuellen Medienberichten entnommen werden und sind allgemeinkundig. Weiterer Nachweise durch die Antragsgegnerseite bedarf es zu deren Feststellung nicht.
Bei einer Gesamtwürdigung aller Umstände gelangt auch der Senat zu der Einschätzung, dass im Fall einer Rückführung bezogen auf das gesamte Gebiet der Ukraine für K. die schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens besteht. Es entspricht gerade der Wertung des HKÜ, dass in einem derartigen Ausnahmefall die Rückgängigmachung einer Kindesentführung hinter höherrangigen Zielen, wie dem Schutz des Lebens und der Gesundheit des Kindes, zurückstehen muss. […]